Auguste Supper
Die große Kraft der Eva Auerstein
Auguste Supper

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Pfingsten – und Eis über den Fluren.

Pfarrer Sommer saß bis tief in die Nacht und arbeitete seine Predigt um, weil sie nicht mehr paßte. Er sann und schrieb und schrieb und sann und merkte, daß ihm nichts einfiel und daß er nichts sagte als das: wie eigentlich das ganze Leben darin bestehe, daß man heute umschreibt, was gestern so herrlich gepaßt hat.

Seine Feder stockte selten. Er schien viel zu wissen zu diesem Grundgedanken, und Pfingsten, das Fest des ewig 266 kommenden Geistes, zeigte ihm in diesen stillen Stunden der Nacht sein Gesicht, wie es aussieht, wenn es noch nicht oder nicht mehr all die blühenden Kränze trägt, mit dem der Tag es umwindet.

Die Kirche war voll am Vormittag. Die Sonne strahlte, und die Vögel sangen. Der Sonne und den Vöglein machte es nichts aus, daß gestern die schwarzgelben Wolkengebilde über Meßberg gezogen waren.

Die Meßberger saßen mit geneigten Köpfen. In den Eisströmen, die auf ihre Felder stürzten, hatten sie Strafe gewittert. Strafe für alle Nächsten und Fernsten. Ja, ein paar besonders Empfindliche sogar Strafe für sich selbst.

Und nun sandten sie, bewußt und unbewußt, Reue und Buße gen Himmel. In dicken Wolken für die Nächsten und Fernsten; in zarten Räuchlein auch für sich selber.

So war Bereitschaft in dem alten Gotteshaus. Der erloschene Weihrauch schien wieder aufzuglimmen. Man spürte, daß etwas aufstieg aus Menschenseelen, und das ist schon etwas in einer Kirche, wo sonst alles aufs Herabströmen wartet.

Dann schritt Eva Auerstein durch die Reihen. Allein. Nicht, wie sonst, am Arm der seideknisternden Tabea. Sie trug ein weißes Kleid, und ihr Gesicht war totenblaß.

Vorne war ihr Stuhl. Dort, wo an der Wand die Grabplatte des letzten Siegeborn rötlich schimmerte. Sie hob im langsamen Schreiten die Augen nicht. Wie eine Schlafwandelnde sah sie aus, die keinen Schritt anders tun kann, als eine verborgene Kraft, ein unbekannter Wille sie führt. 267

Es waren unter den Weibern nicht viele, die den Kopf heute nach ihr hoben. Die wenigen wunderten sich, daß sie allein so viel besser ging, als wenn die Baltin sie führte. Da mochte es also doch sein, daß die Kur bei jenem Manne mit der Kraft spät zu wirken anfing. So, wie man oft etwas auf den Acker streut, das erst im nächsten Jahr das Korn zum Wachsen bringt.

Oben aber, in dem für ihn zu engen Gestühl, saß Pfarrers Heinz und tat jeden Schritt mit der Bleichen. Er spürte, was dieser Gang für sie war. Jedes Heben des Fußes ein heimliches, zitterndes: »Ich glaube! Hilf meinem Unglauben!« Eine heiße Angst und ein noch heißeres Verlangen quoll in ihm auf. Daß sie es nur durchführte, die Schreitende dort! Trauen, Eva, Vertrauen ist alles!

»Einen Nachen seh' ich schwanken, aber ach! der Fährmann fehlt. Frisch hinein und ohne Wanken! Seine Segel sind beseelt.« Die Verse klangen in ihm auf und ließen ihn nicht los. »Nur ein Wunder kann dich tragen in das schöne Wunderland!«

Und das Verlangen, seine eigene Kraft der ihren zu Hilfe zu schicken, wurde so mächtig in ihm, daß er spürte, wie ihm die Hände zitterten.

Und nun saß sie, und er sah, wie sie sich aufreckte, wie ihre junge Brust unter dem weißen Kleid sich hob, wie ihre kranke Hand sich lebendig in die gesunde legte.

Es durchschauerte ihn. Es war ihm für einen Augenblick, als müsse er all sein Wissen und Können, diesen ganzen mühsam zusammengetragenen Schatz, weit von sich werfen und 268 nur jene einzige Perle kaufen, in der der fremde Reichtum einer fremden Welt verkörpert ist.

Die Unerbittlichkeit, die Absolutheit der Forderung erfüllte ihn mit Frösteln, und er war froh, als das Orgelspiel einsetzte und alle verhüllenden Schleier um das Erschaute wogten.

Er blickte sich um und sah in Johannes Straubs Gesicht und hörte ihn herüberflüstern: »Gehe hin und zeige dich den Priestern!« Dabei glitt ein leises, feines Lächeln über die ernsten, strengen Züge des Bauern. Und nicht weit hinter seinem Herrn sah Heinz den Knecht sitzen. Sein hochgereckter, hagerer Kopf auf dem langen Hals, wie er so frisch rasiert und glatt gekämmt über die andern aufragte, hatte in seiner Sonntäglichkeit etwas fast Kindliches an sich. »Ein langer, ein überlanger Konfirmand,« mußte Heinz denken, »einer, der vor den Türen des Lebens steht und zu ungelenk, zu dösig, zu kraftlos ist, um sie aufzustoßen.« Aber als er das kaum gedacht hatte, fiel ihm ein, wie dieser gleiche Mensch gestern die rasenden Gäule mitten im schrecklichsten Toben des Wetters gehalten hatte, während ihm Blut und Eis übers Gesicht lief. Was wäre da wohl aus Heinz Sommer geworden, wenn auf dem Bock ein feiger Schwächling oder ein Treuloser, ein nur auf sich selbst Bedachter gesessen hätte?

Und auch das andere stand plötzlich vor Heinz Sommer da: wie Semme als ein heimlicher Schutzengel nun schon jahrelang das weißgekleidete Mädchen dort unten überwachte. Wortlos, wunschlos, danklos.

Auch jetzt sahen die Augen aus dem Vogelgesicht hinab 269 nach Evas Platz. Hatte vorhin vielleicht nicht nur seine, Heinz Sommers, Kraft das Mädchen bei ihrem wagnisvollen Gang gestützt? War auch die Kraft Semmes und die Kraft des Bauern mitgegangen? War da eine Verschwörung, ein Kräftenetz, das sie einspann und trug?

Er schaute in den Sonnenstrahl, der durch irgendeine offene Tür in den halbdunklen Raum fiel. War das vielleicht das Geheimnis, das Pfingstgeheimnis, daß man den Glauben findet an die Kraft und an die Kräfte? Daß man spürt, wie alle Gesetze schweigen und verstummen und sich im Staub verkriechen, wenn diese hohe, diese heilige Schar auf den Plan tritt, deren Amt es ist, das weite All in seinen Angeln zu tragen und zu halten?

Der Gesang der Gemeinde brauste auf. »O heil'ger Geist, kehr' bei uns ein!« Pfarrers Heinz reckte sich empor. Ach, wenn ihr wüßtet, was ihr erbittet! Wenn ihr wüßtet, was aus Meßberg, was aus der ganzen Erde würde, wenn eure Bitte in Erfüllung ginge! Es würde euch nichts mehr zu groß und zu schwer sein, und ihr würdet sagen zu diesem Berge: Hebe dich auf und wirf dich ins Meer! Ihr würdet Kraft haben – Kräfte!

Die Tür schloß sich jetzt, durch die der Sonnenstrahl ins Dunkel geflossen war. Pfarrers Heinz fing an mitzusingen, und es war ihm, als hätte er soeben noch etwas gewußt, was man immer wissen sollte. Es war hinabgetaucht und hatte einen Glanz, ein Leuchten hinter sich gelassen – Pfingsten!

Nach alter, die Jugendjahre hindurch geübter Gewohnheit hörte der Sohn der Predigt des Vaters zu wie einer, 270 der das Protokoll zu führen hat. Aufmerksam, und doch ohne inneren Anteil, folgend, und doch nicht mitgehend. Aber auf einmal merkte er, daß heute etwas Besonderes in der Predigt war. Nicht, wie sonst, zurechtgeordnete Lesefrüchte und brauchbare Späne vom Studium der Woche, sondern Erlebtes und Eigenes. Da legte er das Protokoll weg und begann zu lauschen.

Er achtete nicht mehr der Wendungen in des Vaters Rede, nicht der Beziehungen, der Schlußfolgerungen, der Nutzanwendungen. Innerlich reglos und ergriffen schaute er zu, wie eine Seele, wie seines Vaters Seele um den Sinn des Lebens rang, den keiner faßt, der nicht heute willig und ohne Murren umstößt und umschreibt, was gestern noch herrlich gepaßt hat. –

Für eine Bußpredigt hielten es die Büßenden, für eine Anklage die Schuldbewußten, für versteckte Drohung die Verstockten. Johannes Straubs in Ruhe getauchtes Gesicht sah erbaut aus, und der sonntägliche Semme witterte Sonntag. Denn eine gute Predigt, ein echtes Wort echter Wahrheit ist wie die Sonne im Zenith, von der jedes Geschöpf meint, sie stehe ihm genau über dem Kopf.

Heinz Sommer aber spürte bei seines Vaters Worten, daß auch dieser Mann der Bücher und der Stille wußte, daß die ganze Welt mit all ihrem Geschehen ein Produkt und ein System geheimnisvoller Kräfte ist, in dessen Takt und Rhythmus hineinzukommen des Lebens einzige Schwierigkeit und einziger Wert und Sinn ist.

Was aber spürte wohl Eva, die diesen einsamen Gang 271 in die Kirche getan hatte wie jener zehnte Samariter den Gang zurück zu seinem Helfer? Und zugleich wie einer, der einen gefährlichen Grat bebend überschreitet? –

Es waren nicht Worte und nicht Gedanken, was in ihr kreiste und strömte bei des Pfarrers Pfingstpredigt. Es war ihr, als höre sie ihn »ein wenig Musik« machen, als klinge und schwinge im Dämmer der Kirche ein einziges köstliches, inniges Lied, auf dem die Seele ruhen kann wie ein Schwan auf sonnigem Wasser. Denn eine Glückliche hört Glück, wenn recht gepredigt wird.

Später, viel später, als manches Lüftlein dieses für Worte zu heiße Empfinden abgekühlt hatte, schrieb Eva das Lied jenes Morgens. Und auch noch in dieser erstarrten Form wurde es Freude für viele.

*

Als das Orgelspiel verklungen war und die Letzten aus der sich rasch leerenden Kirche strömten, stand Eva noch an dem roten Gruftstein neben ihrem Platz.

Sie war es gewöhnt, als Letzte mit Tabea wegzugehen, denn sie liebte es nicht, von den Gesunden, Leichtschreitenden umdrängt und überholt zu werden. Und heute, da sie den Gang allein gemacht hatte, wollte sie sich noch weniger als sonst unter die Scharen mischen. Ihr graute vor jeder Frage, ihr graute vor jedem Blick, der ihr folgen würde, vor jedem Wort der Mitfreude oder der Mitsorge, das an sie gerichtet werden könnte.

Das Freuen und das Sorgen wollte sie für sich allein haben. 272

So stand sie, die Blicke blicklos auf den Stein gerichtet, über dem das bunte Licht aus den gemalten Fenstern flirrte.

Das Murmeln unter den Türen, das Knirschen der Schritte verklang. Sie wollte sich wenden, um zu gehen.

Da glänzte etwas auf, das ihren Blick einfing. Eine Münze lag in einer Ritze in dem Stein. Sie nahm sie auf und hielt sie in der Hand, die so lange nichts mehr hatte halten können. Die zitternde Freude war in ihr, die wie ein fremder Schauer immer wieder durch ihr Herz rann, seit sie dem Wunder ins geheimnisvolle Angesicht geblickt hatte.

In ihr Buch legte sie die Münze.

Ein Zeichen sollte sie ihr sein, eine Erinnerung an den Tag der Feuertaufe.

So schritt sie der Tür zu in heimlich gestärkter Kraft.

Pfarrers Heinz wartete draußen. Sein aufglänzender Blick umfing die Weißgekleidete. Sie traten nebeneinander. In ihren Herzen jubilierten alle Vögel. Nur ihre eigene, ihre Menschensprache war wie erstickt.

Stumm reichte Eva dem Mann die Münze hin.

Er drehte sie in den Fingern, er las die Schrift, er fühlte das Metall. »Ein alter Sechsbätzner, ein Silberstück,« sagte er dann, und dachte vielleicht: »Wie schön sie ist, die Eva, wie frisch, wie voll Kraft!«

Sie nickte. »Der Anselm Veit von Siegeborn hat ihn mir dargeboten. Er hat heut einen guten Tag.«

»Vielleicht, weil du allein zur Kirche kommen kannst?«

»Vielleicht – –« 273

Bei der Fev in der sommerwarmen Stube tanzte die Taube an ihrem Faden, weil das Lüftlein vom Riesenkopf her durchs offene Fenster strich.

Vor dem schmutzigen Eckschrank mit der Hexenschrift kniete Forstmeisters Eva. Sie hatte ein Gefäß mit Wasser neben sich und scheuerte mit einer Bürste an den uralten Buchstaben. Wenn ihre Rechte erlahmte, nahm sie die Linke, und vielleicht nur, wer es wußte, sah, daß nicht eine Hand leistete, was die andere leistete.

Auf der niederen Bank vor dem Ofen saßen Hanne und die Fev, und sie sahen beide der Eifrigen zu, ohne ihr zu helfen oder Hilfe anzubieten.

»Laß,« sagte Hanne und schlug die Hände ums Knie, »das tut nicht gut.«

Die Fev lachte, daß ihr zahnloser Mund weit einsank. »Sie soll nur, sie soll nur! Laß sie machen! Es ist ihr Teufel in ihr, der nie Ruh gibt.«

Eva sah sich um. Das Haar hing ihr ins erhitzte Gesicht, die Augen funkelten vor Eifer. »Du könntest mir wohl Seife geben, Fev! Ohne Seife bring ich's nicht fertig.«

Das Weiblein steckte die Hände unter die Schürze und schüttelte den Kopf. »Mit Seife darf man nicht kommen. Mit Wasser kannst du reiben und bürsten, solang du willst. Aber Seife – das mögen sie nicht.«

»Wer mag das nicht?« fragte Eva.

Hanne stand jetzt auf und trat neben die Kniende. »Was brauchst du denn das alte Zeug zu lesen!« sagte sie dringlich und legte ihr die Hand auf die Schulter. 274

Eva lachte, daß ihre weißen Zähne blitzten. »Seit ich ein Kind war, studiere ich an diesen Buchstaben. Einmal werde ich sie doch lesen dürfen!«

»Ist nicht gesagt,« meinte trocken die Alte, »mancher beißt ins Gras und hat's nie gelesen.«

»Hast denn du sie gelesen?« fragte Hanne über die Achsel.

Das Weib zog ihre Hände hervor und strich langsam über die Schürze. »Meinst du, ich wäre sonst je einmal in Jerusalem gewesen?« sagte sie gedämpft und mit kühlem, abweisendem Hochmut.

Eva erhob sich von den Knien. Es ging mühselig, aber es ging, und hoch und schlank stand sie vor der untersetzten Hanne, vor der verhutzelten Fev. »Gib mir Seife, Fev, oder ich gehe, sie mir daheim zu holen.«

Die Alte erhob sich von der Bank. Ihre feuchten und alterstrüben Augen hingen an dem Mädchen, das so befehlend, so herrisch gesprochen hatte. »So eine bist du,« sagte sie hart, »gehst lieber ins Wasser, als daß du nachgibst.« Dann bückte sie sich und kramte aus dem Durcheinander im Schränkchen ein Stück Seife hervor.

Aber ehe sie es Eva reichen konnte, nahm es ihr Hanne aus der welken Hand. »Nichts da!« sagte die sonst so Ruhige erregt zu der Alten, »wenn sie dumm ist, dann mußt du gescheiter sein!«

Das Weiblein schüttelte den Kopf. »Keiner kann für einen andern gescheit sein, nicht einmal der Herrgott selber.«

Hanne legte die Seife oben auf den Schrank. Dann 275 deutete sie darauf und sagte zu Eva: »Da liegt sie. Kannst sie nehmen, oder kannst sie nicht nehmen! Wenn du sie aber nimmst, das sag ich dir, dann sind wir geschieden.«

Eva warf den Kopf zurück. Hochmütig wetterleuchtete es in ihren Augen. Aber dann zitterten ihre Lippen. »Dumm bist du, dumm!«

Hanne nickte. Die alte Ruhe umfloß sie. »Ich weiß, daß ich dumm bin. Aber ein wenig gescheiter als du bin ich immer noch, weil ich nicht mit dem Kopf durch die Wand will.«

»Was ist denn dabei,« sagte Eva ungebärdig wie ein schlechtgelauntes Kind, »wenn ich lesen will, was da steht!«

Mit einem merkwürdigen, überlegenen Ernst sah Hanne ihr in die Augen. »Es steht aber nicht da! Es ist zugedeckt und will nicht aufgedeckt sein! Der Fev gehört's, und du willst ihr's nehmen! Sie macht dir doch auch nicht deine Schubladen auf und wühlt darin und zieht heraus, nach was sie's gelüstet. So ist das!«

Das Weiblein ging mit leisen Schritten aus der Stube, und die Taube am Faden fing stärker zu schwingen an.

Überrascht, fast erschreckt sah Eva in Hannes blasses Gesicht.

Die nickte kurz. »Ja, immer denkst du nur, was du alles möchtest! Wär's anders, dann müßte man dir nicht alle Geschichten erzählen, dann wüßtest du sie selber!« – Zürnend, leise, wie aus einem lang unterdrückten Groll heraus sprach sie.

Betroffenheit glitt über Evas Gesicht. Der helle Glanz ihrer Augen wandelte sich. Sie lehnte gegen den Schrank, 276 als sei Ermüdung über sie gekommen. Hanne trat neben sie. »Da,« sagte sie dringlich, »da ist die Seife! Gelt, jetzt willst du sie nicht mehr! Jawohl, keiner soll dem andern mit Gewalt sein Sprüchlein lesen wollen!«

Eva raffte sich zusammen. Es wehrte sich etwas in ihr gegen das Überlegene der Gefährtin. »Ich hab doch nicht gewußt, daß es der Fev ihr Sprüchlein ist! Hexenschrift sei's, hat sie immer gesagt.«

Hanne legte die Seife in den Schrank und schloß die Tür zu. »Wenn's Hexenschrift ist, ist's Hexenschrift; darauf kommt's nicht an.«

Langsam trocknete sich Eva die feuchten Hände mit ihrem Taschentuch. Es lag ein zögerndes Verzichtleisten darin. »Du willst immer befehlen,« sagte sie grollend.

Hanne lachte leise. »Nimm sie doch, die Seife! Wer wehrt dir's denn! Ich doch nicht! Der Schlüssel steckt!«

Ein merkwürdiger, müder Blick Evas ging durch das kleine offene Fenster in den grünenden Baum hinaus, in dem einmal, als er kahl war, der Jammervogel gerufen hatte. »Ach was,« sagte sie, »jetzt mag ich auch nicht mehr.«

Hanne nickte. Klug, aber auch alt war ihr blasses Gesicht. »So ist's immer: solang man mag, soll man nicht, und wenn man darf, mag man nicht mehr. Das weiß ich schon lang.«

Die Fev trat wieder herein. Sie hatte die Brille vorne auf der Nase und trug einen wirren Ballen groben Flachsgarnes in der Hand. Ein kurzer, fast scheuer Blick lief über die Brille hinweg nach dem Schrank, dann setzte sie sich hinter den Tisch und fing an, das Garn zu entwirren. 277

Sie kümmerte sich nicht um die Mädchen, schien vergessen zu haben, daß da Besuch war. Ihr eingefallener Mund bewegte sich, aber man verstand keine Worte. Hanne trat neben sie. Eine Zeitlang sah sie auf das ungeschickte Tun der bläulichen, alten, runzelvollen Hände; dann setzte sie sich und nahm der Fev das Garn aus den Fingern.

Sie sprach kein Wort dabei. Sie fing nur an, Faden um Faden aus dem Wirrwarr hervorzuziehen und auf eine Spule zu wickeln. Sie machte es so ruhig, so geschickt, daß es aussah, als zerlege ihr ordnender Sinn das zerzauste Bündel nach einem ganz besonderen, von ihr gewußten System.

Die beiden andern sahen ihr auf die emsigen Hände. Dann setzte sich auch Eva. Es zuckte ihr in den Fingern, zuzulangen. Aber sie tat es nicht. Eine Scheu, Hanne zu stören, den Gang eines wohldurchdachten Werkes zu durchbrechen, hielt sie zurück.

Die Fev nahm die Brille ab und steckte sie in die Rocktasche. »So,« sagte sie zufrieden, »jetzt hat einmal eine von euch das, was sie braucht; jetzt muß ich der andern auch ihr Teil geben; sonst ist sie wie ein Mahlstein, der leerläuft.«

Mit leisem Ächzen stand sie auf und ging an das Schränkchen, vor dem der Boden noch naß war von Evas vergeblicher Arbeit.

Ihre Hände glitten erst tastend und wie liebkosend über die Schrift, dann tat sie die Tür auf.

Sie suchte lange. Die paar Bücher mit den ledernen Schließen nahm sie in die Hände und legte sie wieder weg. Dann zog sie einen ganzen Stoß ungeordneter alter, 278 vergilbter Papiere hervor, den ein Bindfaden kümmerlich zusammenhielt. Aber auch ihn legte sie wieder zurück, als sei das Gesuchte nicht dabei.

Und dann richtete sie sich auf und kam mit leeren Händen an ihren Platz am Tisch zurück. »So,« sagte sie, »jetzt hab ich, was ich für dich brauch'.«

Die Mädchen schauten sie an. Keine sprach. Sie wußten, daß bei der Fev alles immer anders war als woanders.

Die Alte zeichnete mit dem bläulichen Finger einen kleinen Kreis auf den Tisch: »Da guck her!« sagte sie zu Eva, und dann verweisend zu Hanne: »Du guck auf deinen Faden! Es soll nichts durcheinander kommen.«

Die beiden versuchten keinen Widerstand. Von Kindheitstagen an gestanden sie der Fev und ihrer Welt besondere Gesetze zu.

Groß und gespannt hingen Evas Augen an dem unsichtbaren Kreis, und Hanne zog Faden um Faden aus dem Chaos.

»Siehst du was?« fragte leise die Fev die starrende Eva.

Sie schüttelte den Kopf.

Das Weiblein lachte leise. »Glaub's! Es ist auch noch nichts da.«

Dann kam eine Pause des Schweigens, in der nichts zu vernehmen war als das leise Geräusch von Hannes ununterbrochener Arbeit.

»Jetzt aber,« klang es fast unhörbar auf, »jetzt siehst du etwas!«

Evas Gesicht war sehr blaß. »Ja,« sagte sie kurz. 279

Die Alte nickte. Auch ihr Gesicht war jetzt verändert. Das Gutmütige, Harmlose schien zurückgetreten, so wie bei einer Katze, die eben noch spielte und jetzt eine Maus wittert.

»Ich will dir sagen, was du siehst,« murmelte sie, »den ganzen Knäuel siehst du, den Wirrwarr, aus dem du die Fäden ziehen mußt und auf die Spule wickeln, du. Ist's nicht so?«

Eva antwortete nichts. Wie gebannt hingen ihre Augen an dem Kreis.

»Ja,« fuhr fast hämisch das Weiblein fort, »jeder muß so einen Knäuel auseinanderwirren, zu dem sind wir da!« Und dann lauter und fast befehlend: »Sag, was du siehst!«

»Wald,« murmelte Eva eintönig, wie eine, die im Schlaf spricht, »Wald und Schnee und – –«

Da warf Hanne ihre Spule auf den Boden und stieß den Stuhl zurück. »Fev, laß sie! Sie hat dir deine Schrift auch gelassen! Ich sag's ihrem Vater.«

Wie harte Drohung waren die Worte dem Weiblein hingeschleudert, und das duckte einen Augenblick den Kopf, als fliege ein Stein vorüber.

Eva blickte auf. Sie schien von weit her zu kommen. Dann strich sie sich mit beiden Händen die Haare aus der Stirne und stützte den Ellbogen auf den Tisch. »Hanne,« sagte sie versonnen, »ich glaube, du brauchst mir jetzt keine Geschichten mehr zu erzählen. Ich weiß ganz viele.«

Das »ganz viele« war ein Überrest aus der Kinderzeit, der dem Mädchen manchmal auf die Lippen kam wie eine 280 Erinnerung, und der einen merkwürdigen Hauch von Kindlichkeit um sie her breitete.

Dann bückte sie sich nach der Fadenspule am Boden und reichte sie Hanne. Ein Lächeln, ernst fast, oder müd, oder beides, war um ihren Mund: »Hier! Du mußt deinen Knäuel auseinanderwirren! Zu dem sind wir da!«

Hanne stellte die Spule auf den Tisch und schob das wirre Garn vor den Platz der Fev. »Da,« sagte sie seltsam streng, als rede sie zu einem Kind, das einen kurzen Zügel braucht, »das ist dein Knäuel, wir müssen jetzt gehen.«

Die Alte nickte und zog ihre Brille wieder hervor. Auf den Gruß der Mädchen hatte sie keinen Dank.

*


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