Auguste Supper
Die große Kraft der Eva Auerstein
Auguste Supper

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Zwei ersoffene schwarze Katzen trug der Fluß weit das Tal hinunter bis zu jenem einsamen Stein im Gelände, den man heute noch den Katzenstein nennt. Dort fand man die Tiere, ineinandergekrallt in der letzten Angst, im schlammigen Sand der verlaufenden Wasser. –

Eine kleine Hand legte sich auf Johannes Straubs Arm. »Sag doch weiter!«

Der Bauer schüttelte den Kopf. »Du verstehst das nicht.«

Da flackerten die dunklen Augen auf, wurden lauernd und unkindlich.

»Ist die Tochter eine gewesen, wie die Lona in Biala?«

»Was war's mit der?« –

»Die war ein liederliches Weib.«

»Was weißt denn du von liederlichen Weibern?«

»Sie hat ihr Kind in den Fluß geworfen.«

In Johannes Straub wuchs ein schreckhaftes Erstaunen empor. Eine Angst, in der Kleinen mit dem roten Röckchen wohne etwas Widerwärtiges, Unsauberes, über das er sich selbst nicht recht klar war. Aber als er jetzt von der Seite auf sie niedersah, hatten ihre Augen wieder den reinen, kindlichen Glanz. Sie hielt die Händlein gefaltet um die angezogenen Knie gelegt und fragte: »Glaubst du, daß es der Nix in seinen Palast geholt hat?«

Der Mann nickte nur. Er war hinter seinen eigenen, noch nicht ganz geklärten Gedanken her und verstand die Frage nicht.

Sie schüttelte den Kopf, daß die schwarzen Haare flogen. »Nein, nicht! nein, nicht! Hurenkinder mag er nicht.« Zornig sagte sie es, und sie stieß erregt mit den Füßen ins Gras. 66

Da erwachte der Bauer. Der Unwille gab ihm Worte. »Du Äfflein, was hast du für Reden! Sieht niemand nach dir, daß du so verlottert bist! Geh heim und laß dich waschen!« – Er wußte nicht, warum er das sagte; er sah nur mit einemmal den Schmutz an dem fremden Kind.

Verwundert sah sie ihn an. Dann stand sie langsam, fast mühselig auf. Ein Zögern war in ihr, ein ungläubiges, noch hoffendes Zaudern, als müsse der scheuchenden Rede ein lockender Ruf folgen.

Aber das Gesicht des Mannes blieb unwillig. »Die Tür ist offen,« sagte er kurz, »du brauchst nicht durch die Hecke zu schlüpfen.«

Wie finsterer Trotz kam es da über das Kind. »Wenn ich doch dableiben will! Wenn es mir doch da gefällt!«

Der Mann stand auch auf. Es ging bei ihm schwer und langsam, und als er hochkam, taumelte er ein wenig. Da lachte die Kleine hell auf und rief: »Man meint, du habest getrunken, wie der Schweinehirt in Biala.« Und ihr jäher Trotz war verflogen.

»Geh!« rief Johannes Straub, »du gefällst mir nicht.«

Da sah sie an sich hinunter und fuhr wie säubernd mit der Hand über ihr rotes Röckchen. Dann zog sie ein Tüchlein aus der Tasche, spuckte und wusch sich das Gesicht.

Es lag ein so demütiger, guter Wille in ihrem Tun, daß in dem Manne der Unmut zerschmolz. Er sah wieder ohne es zu wissen, den feinen, fremden Reiz, der über dem Gestältlein webte, und er murrte, indem er sich zum Gehen wandte: 67 »Kannst ja bleiben, meinetwegen. Aber so nah ans Wasser sitzest du mir nicht wieder!«

Da schlich sie wie ein Kätzlein an ihn her und drückte einen Kuß auf seine hängende, schwielige Hand, so daß er erschrak über das närrische Tun. –

Auf seinem Heimweg durch die leeren Wiesen fuhr er ein paarmal mit der geküßten Hand über das Wams, als müsse er etwas wegwischen. Eine Unruhe, ein aufgeschrecktes, bekümmertes Gefühl hatte er in sich um dieses Kind, das aus dem herrenhaften Hause stammte und doch fast wie eine Wilde war. »Das Hexlein« nannte er es in seinem grübelnden Sinn, und es lag zugleich ein heimliches Streicheln und ein Zurückstoßen in diesem Namen.

Es war ein Band angeknüpft zwischen den zweien, das nicht mehr riß. Wenn einer hätte nachgraben können, so recht tief, und dieses Band bloßlegen, daß man seine Art und Beschaffenheit sah, es hätte sich herausgestellt, daß Johannes Straub, der Bauer mit der stillen, auf das höchste Licht gerichteten Seele, in dem fremden Kind das jähe Blinken, Aufzucken, Vorübergleiten dieses Lichtes wahrnahm, wie er es noch nie in irgendeinem Menschen seiner bekannten Welt wahrgenommen hatte.

Aber niemand, selbst der Bauer nicht, ja, er vielleicht am wenigsten, wußte dies. Ihm war's zum Verwundern und fast wie ein Anstoß, daß er immer die heimliche Freude hatte, wenn er das Mädchen aus dem Forsthaus die Straße herabkommen und den Kopf nach seinem Hause drehen sah. Selten ging sie vorüber. In Stall und Scheune war sie wie daheim. 68 Sie gab den Kühen und Ochsen neue, seltsame Namen, die man in Meßberg nie gehört hatte, und nahm die Ferkel liebkosend in den Schoß.

Den Ratten, die hinter den Schweineställen nisteten, verstand sie ganz leise zu pfeifen, und in den Schwalbennestern im Gebälk der Ställe kannte sie die Zahl und das Alter der Jungen. Sie trat in die Stände zu den schweren Gäulen und sprach mit ihnen wie mit Menschen, und sie legte ohne Furcht ihre kleine Hand, ja ihre bräunliche Wange an die Pferdeköpfe.

Johannes Straub stand da manche heimliche Angst aus und manchen heimlichen Unwillen. Aber wenn er den Mund auftun und dem Mädchen sagen wollte, daß man das liebe Vieh in seinem Wert lassen könne, ohne es deshalb zu behandeln wie seinesgleichen, so fand er die Worte nicht und fand nicht den Mut. Denn alles, was das Kind tat, tat es so, als ob es so sein müsse, und es war so wenig dagegen zu sagen, wie gegen den Wind, der auf dem Scheunendach die Ziegel lüpfte und die Wetterfahne drehte.

Aber bei all dem tiefen Zutrauen, das das Mädchen gegen den Bauern an den Tag legte, blieb das stumme Prüfen und Suchen in dem Blick ihrer dunklen Augen, dieses nie rastende Auf-der-Hut-sein, das oft etwas Lauerndes hatte, und das sich niemals einlullen oder ablenken ließ.

Immer wieder, wenn Johannes Straub, der Kinderlose, den jungen, unruhigen Gast in Stall und Scheune herumhuschen sah und in ein Gespräch mit ihm kam, erschreckte und verwirrte es ihn, daß in der Kleinen neben der unbewußten 69 Wahrhaftigkeit des Kindseins noch etwas anderes wohnte: ein scheues, geducktes Wissendsein, das da und dort durchbrach, und das dabei so seltsam verschieden war von der Frechheit oder Schamlosigkeit, die man unter Meßberger Kindern finden konnte.

Der Bauer hatte einen Knecht und eine Magd. Dazu eine Bäuerin, die seit vielen Jahren in der großen sonnigen Eckstube, deren Fenster gegen die Felder gingen, im Bette lag.

Kein Doktor wußte recht, was ihr fehlte. Es war, als sei, nachdem sie dreimal ein totes Kind, zwei Knaben und ein Mädchen, geboren hatte, alle Kraft, aller Wille, alle Freude zu leben aus ihrem armen Körper gewichen.

Sie litt nicht und sie klagte nicht. Aber wie ein Vogel, der in ein schweres Wetter kam, konnte sie die Schwingen nicht mehr heben.

Die Jahre gingen, und sie lag und lag. Ihr Gesicht wurde weiß und weiß ihr Haar. Sie bekam schmale, scharfe schöne Züge. Die Schwäche, die Ohnmacht, die Dumpfheit lag wie ein Schleier darüber. Aber einmal an jedem Tag hob sich der Schleier. Das war, wenn nach getanem Tagwerk der Bauer zur Feierstunde in ihrer Stube und an ihr Lager kam. Dann saß der Mann mit gefalteten Händen und schaute still auf sein Weib. Und unter diesem stillen Blick zerfloß die Dumpfheit der langen einsamen Tagesstunden. Auf dem weißen Gesicht glühte wie von innen her ein geheimnisvoller Schimmer auf, und in die müden Augen kam ein Glanz.

Früher hatten die zwei in diesen Stunden noch von des Tages Arbeit gesprochen. Die Frau hatte ihre Seele 70 hergezwungen zu den Dingen, für die ihr müder Leib die Kraft nicht mehr besaß.

Aber nach und nach ließen sie das mühselige und nutzlose Unterfangen. Am Bette des Weibes war nur noch Feierabend. Feierabend von allem Irdischen, Feierabend von Freud und Leid, Feierabend auch von allem Begehren und Wünschen.

Dafür erwachte an diesem stillen Lager jede Sehnsucht, die aus den Erdendunkelheiten hinausstrebt. In ihrer Sprache, die erst hart und dürftig war, mit den Jahren aber freier und blühender wurde, sprachen die zwei Menschen von dem, das droben ist, da Christus ist; von Jerusalem, der hochgebauten Stadt, von den Strömen des Lebens im Paradiese Gottes. So führten sie ein doppeltes Leben. Das eine für den Mann mit harter Arbeit, für die Frau mit müder Schwäche angefüllt, das andere für beide von fernherstrahlendem Glanz übergossen und von jenem geheimnisvollen Frieden Gottes erhellt, der höher ist als alle Vernunft und alle Vernünftigen.

Johannes Straubs Knecht war ein hagerer, nicht mehr junger Mensch mit knochigem, kleinem Kopf, der auf ungewöhnlich langem dünnen Halse saß. Das glattrasierte, bläuliche Kinn sprang vor, der breite Mund lag tief und hatte eingefallene Lippen; die braunen, lebhaft glänzenden Augen schauten unruhig, oft unsicher; die niedere, faltige Stirn wuchtete über das schmale Gesicht herein und gab ihm einen unfreien Ausdruck, der manchmal fast an etwas Tierisches erinnerte, wenn auch mehr durch eine seltsame Hilflosigkeit, als durch Roheit oder Niedrigkeit. 71

Schon manches Jahr diente dieser unschöne Mensch bei seinem Bauern, und in Meßberg hieß er »Straubs Semme«. Simon war er getauft und eines armen alten Weibes Sohn, von der die meisten im Dorf nicht genau wußten, ob sie je einen Mann gehabt habe. Sie lebte kärglich von Taglöhnerarbeit, von Bettelsuppen und von ihres Sohnes nicht allzuheißer Liebe, die ziemlich mühselig durch die Jahre fortgloste, nie recht brennen wollte, aber doch auch nie ganz erlosch.

Daneben hexte sie noch ein wenig, wenn die Gelegenheit günstig war. Früher – so hieß es – hatte sie dieses unheimliche Gewerbe stärker betrieben. Damals hatte sie weitherum in der Gegend ihre Kundschaft, der sie, man weiß nicht um welchen Lohn und auf welche Weise, ihre dunklen Kräfte lieh in allerlei Not und zu allerlei Vorhaben. Dazumal trug sie, die Genofeva getauft war, den Namen: »Jerusalemshexe«, denn unter ihren geheimnisvollen Taten war die bekannteste, daß sie alljährlich nach Jerusalem fuhr, ohne Schiff und Eisenbahn.

Nun war ihr Ruhm längst erloschen und fast vergessen. Man nannte sie nur noch »Fev«, und sie hexte nicht mehr öfter, als gerade nötig war, um nicht bei lebendigem Leibe von den Lebendigen vergessen zu werden. Dieses Los, das kaum die Stärksten mit Lächeln ertragen können, stand vor der schwachen Alten mit so grinsendem Drohen, daß sie dadurch immer von Zeit zu Zeit zu einem Bockssprung aufgestachelt wurde, auch da, wo sie an sich viel lieber mit ihren müden, trippelnden Altweiberschritten des Wegs gegangen wäre. 72

Ihrem Sohn Semme zulieb, das wußte Meßberg, hexte sie noch. Ihr Werk war es, das durchschauten alle Kundigen, daß Johannes Straub den Semme so viele Jahre behielt. Der Bauer hätte Angst um sein schönes, gesundes Vieh haben müssen, wenn er den Knecht weggeschickt hätte.

Sogar nach jener dunklen Sache, als man die Christiane draußen im Molchsee zwischen den schwarzen Föhren ertrunken gefunden hatte, durfte Semme in seiner Stelle bleiben. Und man wußte doch, daß das Mädchen zwei Jahre lang mit dem Knecht gegangen war!

Wie war die Lebenslustige ins Wasser gekommen? Daß der Semme, als man ihm davon sagte, wie ein Tier aufheulte und von jenem Tage an verfiel, wie einer, der Gift im Leibe hat, das sprach eher für als gegen seine Schuld.

Aber der Bauer tat ihn nicht von sich. Ja, er, der Wortkarge, sprach für ihn! Dahinter steckte die Hexerei der Fev.

An diesem Semme ging das Kind aus dem Forsthaus vom ersten Tag an scheu vorüber. Die Augen des Gemiedenen blickten oft hinter ihr her wie hinter etwas Unbegriffenem. Manchmal sagte die Kleine mit abgewandtem Gesicht dem Knecht ein befehlendes Wort. Dann gehorchte er verwundert und benommen, denn sie war ihm zuerst wie eine Herrin. Aber heimlich keimte in ihm ein Sichwehren gegen diese Nichtachtung auf. Die Hilflosigkeit in den braunen Augen färbte sich manchmal zu dumpfem Haß um, zu Haß, dieser Waffe der Waffenlosen, die desto schärfer wird, je länger sie in der Scheide bleibt. 73

Manchmal versuchte er, sich gegen die Kleine und ihr feindliches Wesen aufzubäumen. Er wies sie fort, wenn sie sich auf dem Hof zeigte, oder versuchte doch, sie fortzuweisen.

Da hetzte sie einmal mit gellendem Wort einfach den Hund auf ihn, den ihre flinken Finger von der Kette lösten.

Das Tier, verwirrt und bestürzt über das seltsame Ansinnen, fing ein wütendes Jammern, Bellen, Heulen an und tanzte in tollen Sprüngen im Hof, wie hin- und hergerissen vom Zwiespalt seiner aufgepeitschten Gefühle.

Hellauf lachte erst das Kind. Dann wurde es plötzlich ernst. Es zuckte ihm durch den Sinn, daß der Hund leide. Sie pfiff und legte den Winselnden fest und ging aus dem Hof, ohne zurückzusehen.

Johannes Straubs Magd hieß Anastasia. Man nannte sie Stasel und vergaß, daß sie anders getauft war. Sie war breithüftig, derb und über die erste Jugend hinüber. Schlecht und recht führte sie das einfache Hauswesen. Dabei hielt sie unverdrossen Umschau, ob kein Freier sich zeige. Ein paar Jahre lang hatte sie uneingestanden, vielleicht unbewußt, gehofft, die Frau mit dem weißen Gesicht und dem weißen Haar werde bald aus dem weißen Bett und der sonnigen Stube verschwinden und ihr den Platz der Bäuerin räumen.

Aber dann begriff ihr schwerfälliger Sinn, daß der Tod, auch wenn er käme, die zwei nicht auseinanderreißen würde. Von da an lag für sie um den Bauern eine seltsame Hoheit her. Er war jetzt erst wirklich ihr Herr geworden, vor dem 74 auch ihre langsam wandernden Gedanken sich duckten, die vorher oft frech um ihn her gespielt hatten.

Und vor der kranken Frau hatte sie eine heimliche Scheu, wie vor einem Bild in der Kirche. Sie sprach wenig mit ihr, weil sie keine Worte fand, die ihr für diese Stille gefallen wollten.

Über die Sonne, die durch die vielen Fenster glitzerte, oder über den Regen, der an den Scheiben herabweinte, sagte sie manchmal etwas Schüchternes, das ihr in den Sinn kam. Oder wenn sie das Lager richtete und die weißen Kissen schüttelte, fragte sie, ob das Nachtlichtlein, das auf dem Wasser im Glase schwamm, auch all die dunklen Stunden hindurch gebrannt habe. Und wenn es die Frau mit einem müden Wort bejahte, dann langten die Hände der Stasel behutsamer zu, und ihrer Seele wurde fast bang wie vor etwas Unbegreiflichem, weil da ein Mensch war, der die ganze lange, ihrer derben Gesundheit so fremde Nacht vom eigenen Zusehen kannte.

Wie ein großer Dämpfer auf alles Grelle und Laute in Haus, Hof und Menschen war die Stube der kranken Bäuerin. Die vom Leben in müder Erschöpfung Gelöste wirkte stärker als einst die Gesunde auf das Leben um sie her, und die Kraftlose hatte ihre Kraft verdoppelt.

An die grobschlächtige, rauhe, dabei aber durch allerlei ungreifbare Dinge gebändigte Stasel schmiegte sich manchmal das Mädchen aus dem Forsthaus. Aufmerksam, ein Suchen oder Nachdenken im dunkeln Blick, betrachtete sie das rotbackige, breite, einfache Gesicht, die volle, kräftige Gestalt. 75 Es mußte etwas daran sein, was sie bestrickte oder ihr Vertrauen abgewann, denn sie drückte sich oft an die faltenreichen Röcke der Breithüftigen.

Wenn es am frühen Winterabend ans Melken ging, wenn das Licht der Stallaterne zwischen den dunklen, niederen Balken schimmerte und die leeren Schwalbennester still und fahl da droben hingen, wenn die frische Streu unter den tretenden Hufen knisterte, wenn das Kauen der Tiere und das leise Zischen der Milch, die schäumend aus den Strichen in den Eimer floß, durch das warme Halbdunkel klang, wenn der Knecht Semme mit dem dünnen, unter dem Futterbündel gebogenen Hals, Unverständliches brummend, zu den Kühen trat und die Stasel zusammengekauert auf dem Melkeimer saß, dann lehnte das Kind oft reglos, seine großen Augen weit aufgerissen, am Türpfosten und hatte ein Gesicht, das wie zerquält aussah vom Nachsinnen.

War der Knecht fort, dann fragte sie wohl plötzlich Dinge, die wie aus weiter Ferne herkamen und für die das hockende Weib an dem vollen Euter oft nur ein scheues Kopfschütteln hatte, weil ihr dumpfer Sinn fühlte, daß dies nicht Kinderfragen seien. Meist waren es Dinge, die um das Werden und Herkommen des Lebens her lagen, um das geheimnisvolle Dunkel, das den Beginn des irdischen Seins verhüllt und das frühe quält die, die heißen Blutes und dabei grübelnden Sinnes sind.

In ihrer Bedrängnis redete die Stasel dann oft etwas, mit dem das fast gierig lauschende Kind nichts anzufangen wußte und das ihm die Wirrnis in der jungen Seele noch quälender und undurchdringlicher machte. 76

An einem Frühlingsabend nahm der Bauer die Kleine mit zu seinem Weib. Er verwunderte sich über sich selber, daß er dies tat: aber das Verlangen danach hatte ihn gar stark ergriffen, als er das Hexlein, das, wie fast immer, ein flatteriges rotes Kleidchen trug, im Hof an einer Wagendeichsel turnen sah. »Sieh,« hatte etwas in ihm gerufen, »hier ist ein Kind, das keine Mutter hat, und droben liegt eine Mutter, die kein Kind hat – könnte man die zwei nicht zusammenbringen?«

Es war das erstemal, daß die Kleine das Wohnhaus betrat. Sie hatte sich seither wie ein Spatz nur im Hof, in der Scheune und in den Ställen herumgetrieben, hierhin flatternd und dahin und wieder verschwindend, wie es ihr gefiel.

Neugier, Erwartung und das alte scheue Mißtrauen stiegen in ihrem großen Blick auf, als der Bauer sie mit der schweren Hand an der Schulter nahm und ihr den Vorschlag machte.

Dann säuberte sie mit einer seltsamen, zögernden Sorgfalt ihre Schuhe am Strohwisch und stieg hinter dem Mann die geölte, steile Treppe empor.

Oben war ein langer, schmaler Flur mit vielen braunen Türen. Rehgehörne und eine ganze Reihe kleiner, hellgerahmter Bilder hingen an den grüngetünchten Wänden. Vergilbt und stockfleckig waren diese Bilder, und sie sahen aus wie Blätter aus einem alten Buch.

Die Kleine reckte sich auf den Zehen und sah auf dem ersten Bild ein Rudel Hunde und eine Frau, die aus dem Fenster eines hohen Hauses kopfüber herunterstürzte. 77

Ein leiser Schreckensruf entfuhr ihr. Der Bauer wandte sich. »Die Königin Isebel ist's, die Jehu aus dem Fenster stürzen läßt, daß sie die Hunde fressen auf dem Acker Jesreels.«

Des Kindes Gesicht war bleich und vor Schrecken ganz entstellt.

»Was hat sie ihm getan?«

Hart und streng war des Mannes Mund, seine Stimme klang anders als sonst. »Ihm hat sie nichts getan. Aber ihre Hurerei und Zauberei hat Israel verderbet. Eine Gottverfluchte war sie.«

Die Kleine fragte nicht weiter. In das dunkle Netz der quälenden Rätsel war eine neue Masche gekommen.

Auf die Rehgehörne fiel ihr Blick. Da war vertrauter Boden. »Bist du Jäger?« fragte sie.

»Früher einmal – schon lange nicht mehr.«

Prüfend musterte sie die bescheidenen Trophäen. »Warum hast du nie einen Elch geschossen, wie mein Vater?«

Der Mund des Bauern verzog sich zu einem kleinen Lächeln. Sein ganzes Gesicht sah dadurch aus, als laufe ein Sonnenstrahl darüber. »Mir tut's ein Rehböcklein, ich trachte nicht nach hohen Dingen.«

Sie ließ den Blick nicht von den Gehörnen. »Es ist kein einziger tüchtiger Bock darunter, du hast kein Glück gehabt,« sagte sie mitleidig.

Der Bauer nickte. Sein Lächeln war verflogen. »Nein, kein Glück.« Dann nahm er ihr Händlein. »Komm, sie hört uns und wird unruhig.« 78

Bis zur letzten Türe schritten sie den Gang hinunter. Dort mündete von einem Fenster nach dem Hofe her ein Seitengang, der voller Helle war.

An der Türe horchten sie ein wenig und traten ohne zu klopfen ein.

Eine Menge Licht kam den beiden entgegen. Draußen verglühte der Frühlingshimmel nach einem leuchtenden Tag, und helle Ströme brachen durch die vielen Fenster, fluteten in dem weiten, niederen Raum auseinander und überdeckten alles mit rotgoldenem Glanz. Dem Kinde entfuhr ein entzückter Laut, ein naturhafter Freudenlaut, wie er wohl in dieser stillen Stube noch nie erklungen war.

Die Frau im Bett drehte den Kopf nach der Tür. Sie hatte heute einen schlechten Tag gehabt. Ihre Stirne, ihr Haar war mit einem weißen Tuch fest umwunden; farblos, streng, rein waren die scharfen Züge; groß, tiefliegend, reglos die Augen, die nach dem Kinde starrten.

Die Kleine blieb stehen wie festgebannt. Es war, als ob ihr überraschter, ungläubiger Blick scheu, zögernd, furchtsam rückwärts gehe, wie vor etwas Unheimlichem oder Unfaßbarem. Langsam, zitternd fast, griff ihr mageres braunes Händlein in den Rock, und sie zog, wie in tiefer Scham oder tiefer Angst, die roten Falten empor und über ihr Gesicht.

Eine Weile sank bange Stille über die Stube. Den Bauern erschreckte dumpf der Gedanke, er habe etwas nicht recht gemacht. Dann lachte er leise auf und drückte dem Kind das Händlein herunter. »Du, Bärbel, du! Geh hin und grüße die Frau!« 79

Die Nüchternheit des verweisenden Wortes scheuchte einen Bann. Wie im Trotz stand die Kleine. »Ich heiße nicht Bärbel.«

Die Frau richtete sich ein wenig auf. »Wie heißt du denn?« – Ihre Stimme hatte fast keinen Klang, schleichend, tonlos, mühsam kam sie daher.

Das Kind wandte den Blick von ihr und sah in unbewußter Bitte an dem Bauern in die Höhe. Es war, als ob sie sich zu etwas Vertrautem flüchten müsse, um wieder Boden unter die Füße zu bekommen.

»Sag' du ihr's,« flüsterte sie.

Der Mann schritt zum Bett und setzte sich dort auf seinen Stuhl. Er winkte der Kleinen; aber sie rührte sich nicht vom Platz.

»Es ist die Eva vom Forsthaus; das Hexlein, von dem ich dir schon gesagt habe,« erklärte er seinem Weib.

Sie streckte die durchsichtige Hand ein wenig aus. »Komm her! Du hast einen schönen Namen! Heißest wie die Menschenmutter im Paradies, von der wir alle kommen.«

Es war, als hätte das Kind auf einmal alle Scheu vergessen. Ihre Augen glänzten auf. »Erzähle das!« sagte sie fast befehlend und trat neben den Bauern ans Bett.

Ein schönes, geruhiges Lächeln glitt über der Kranken Gesicht. »Nun,« sagte sie frischer als zuvor, »es ist die uralte Geschichte, deine Mutter wird sie dir erzählt haben.«

Das Kind machte eine merkwürdige, fast wegwerfende Bewegung mit der Hand. »Die ist doch gestorben.«

»Wie lange denn schon?« 80

»Ich weiß nicht – hundert Jahre, glaube ich.«

Der Bauer schüttelte mißbilligend den Kopf. »Lüg' doch nicht!«

Die Kleine schaute ihm verwundert ins Gesicht. »Ich lüge ganz gewiß nicht, du kannst mir's glauben; auf Ehre und Seligkeit!« Sie sprach dringlich, und ihre Augen flackerten, dabei lehnte sie sich näher an das Bett, so daß die abgezehrten Hände der Frau ihr rotes Röcklein heimlich streicheln konnten.

»Wie alt bist du?« fragte die kranke Stimme.

Ein Nachsinnen kam in das bräunliche Gesicht, ein unruhiges Suchen. Dann brach es hervor: »Einmal bin ich fünf gewesen« – sie spreizte die mageren Finger ihrer rechten Hand und schien sie mühselig zu zählen –»aber von heute weiß ich's nicht. Ich will Fräulein Tabea fragen, die wird es vielleicht wissen.« – »Wer ist Fräulein Tabea?«

»Nun, das ist doch Fräulein Tabea bei uns daheim, die über mich befehlen darf und über alles, nur nicht über den Vater.« Während die Kleine das sagte, war es deutlich zu sehen, wie sie selbst sich alles innerlich erst klarmachen und zurechtlegen mußte, ehe sie Bescheid geben konnte. Langsam, hart, fremd war ihre Sprache. Über den Bauern und sein Weib kam eine leise Befangenheit. Sie spürten, daß jede an das Kind gerichtete Frage irgendwohin führen konnte, wo Fremde nichts zu suchen hatten.

»Du wirst wohl sechs Jahre alt sein und heuer in die Schule müssen,« sagte der Bauer obenhin, um aus der Gefahr wegzukommen. 81

Sie schüttelte den zerzausten Kopf und schaute feindselig drein. »Ich weiß noch nicht, ob ich hingehe. Sie hauen einen da. Und manche haben Läuse.«

Eine kurze Weile preßte sie den Mund fest zusammen, dann drängte sie sich mit einer seltsamen, ernsten Eindringlichkeit ganz nahe an das Bett. Jenes heimliche Flehen: ›Verlache mich nicht und schilt mich nicht!‹ das so oft, von den Erwachsenen unbeachtet, über Kindergesichter gleitet, ehe sich eine Frage aus dem Innersten losringt, es erschien und zerschmolz auch auf ihrem Gesicht, als sie leise fragte: »Gehen die Läuse noch an dich?«

Es war, als sei ein bitterernstes Wort gefallen. Weder die Kranke noch der Mann lachten. Der Glanz in der weiten Stube blaßte ab, das erste Tasten der Dämmerung ging durch den Raum.

Bangend, eintönig sagte das Kind in die Stille hinein: »Der Schweinehirt in Biala sagt: Wer bald stirbt, an den gehen die Läuse nicht mehr.«

Es war, als ob von der auslöschenden Abendröte ein Schimmer auf dem Gesicht der Frau hängengeblieben wäre. Leuchtend sah es aus, und es leuchteten die Augen, die sich von dem Kind nach dem verglühenden Himmel wandten. Eine Hoheit, fremd und erschütternd, lag über dem Antlitz, aus dem das Leiden alles weggemeißelt hatte, was die edle Reinheit stören konnte. »Kind,« sagte die erloschene Stimme, »deine Augen sehen gut; ich sterbe bald, so Gott es will.«

Langsam, wie unter einem Zwang, legten sich die Hände der Kleinen ineinander; ihr Blick wich nicht von der Frau. 82 »Du bist sehr schön,« sagte sie leise und voll Nachdruck, »sehr schön bist du. Muß man sterben, wenn man ganz schön ist?«

Da legte sich des Bauern rauhe Hand auf den Kindermund: »Schweig du.«

»Laß sie reden,« raunte die Frau, »sie ist ein Kind.«

Vorwurfsvoll schaute die Kleine auf den Mann. »Hörst du: du sollst mich reden lassen! Aber ich will jetzt nicht mehr reden.«

Die Frau tastete nach ihren Händlein und streichelte sie. Dann ließ sie auch dies, und es war eine Ruhe, eine Unbewegtheit in der Stube, als sei das letzte Leben erloschen. Dunkel kroch der Abend aus den Ecken, graue Schleier legten sich über das weiße Bett, und zuletzt war nichts mehr da, als der mit den Binden umwundene Kopf der erdgelösten Frau, auf dem alles leise Licht in der Stube sich zusammenzuziehen schien.

Schwer über das Bett gelehnt stand das Kind. Sie wußte nichts mehr von sich, sie war nur noch saugendes, hungriges Schauen. Sie sah hinüber in eine ferne Welt unbeschreiblicher Schönheit, der man auf dieser Erdenseite entgegenreifen muß durch Schönheit. Ein hohes, heiliges Wissen wuchs ihr zu aus der Nacht heraus, ein Wissen von jener Art, daß man nicht fragt: woher kommst du? und das trotz seines dunklen Ursprungs zu einem schimmernden Licht auf dem Wege wird.

Der Lärm heimkehrender Gespanne im Hof zerstörte den Bann. Der Hund an der Kette fing sein tolles Bellen an, 83 die Stimmen des Semme und der Taglöhner ließen sich hören, und die Betglocke, von hastigen Bubenhänden zu hastig geläutet, schwang darüber hin.

Der Bauer rückte seinen Stuhl. Es war ihm, als hätte er geschlafen und geträumt, so hingenommen und vor sich selbst hinausgestellt hatte er sich gefühlt. Er legte dem Kind die Hand auf den Kopf. »Horch! es läutet; du wirst heim müssen, sonst suchen sie dich.«

Sie richtete sich langsam auf. Ihr schmales, dunkles Gestältlein stand so fremd in der Stube, in der sonst um diese Stunde zwei diesseitsmüde Menschen ihre schweren Worte miteinander wechselten.

Lange sprach sie nichts. Dann sagte sie, wie noch benommen von etwas, das sie erlebt hatte: »Wenn du bald stirbst, könntest du wohl die Türe nicht ganz zumachen! Ich möchte hineinsehen, dort, wo man ganz schön ist!«

Vielleicht hörten Mann und Frau die tiefe, unbewußte, ewige Menschensehnsucht aus der Kinderrede. Ein Seufzer klang aus dem Bett. »Ich werde wohl müssen! Alle machen die Türe ganz zu.«

»Ja,« bestätigte der Bauer und seine Stimme klang rauh, »so will es Gott.«

»Wem hat er es gesagt?« fragte nach einer kleinen, beklommenen Stille das Kind.

Die beiden wußten keine Antwort oder gaben wenigstens keine.

Im Hof rief eine grelle und hörbar unwillige Stimme: »Eva!« 84

Die Kleine stand unbeweglich aufrecht. Über ihr ganzes dunkles Gestältlein schien Trotz und Widerstand gebreitet.

»Hörst du, eure Magd sucht dich!« mahnte der Bauer.

Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Lassen soll sie mich! Wem hat es Gott gesagt, das mit der Türe?« – – Es klang unkindlich, fast drohend oder gewalttätig, und man mußte gute Ohren haben, um den Unterton der Angst herauszuhören, einer Angst, davon zu müssen und das Beste dahinten zu lassen.

Die Kranke hatte diese guten Ohren. »Geh nur,« sagte sie mütterlich zusprechend, »wenn du größer bist, wirst du das alles wissen.«

»Eva,« klang es noch greller, noch unwilliger im Hof.

Da hob ein seltsamer schmerzlicher und zorniger Seufzer des Kindes Brust, und ohne Gruß, huschend und flink, entschwand sie durch die Türe, durch die der Ölgeruch der Flurlampe in die Krankenstube strömte.

Das war die erste Begegnung zwischen einer Mutter, die kein Kind hatte, und einem Kind, das keine Mutter hatte.

Wie viele nachher noch kamen und was dabei gesprochen wurde, das steht vielleicht in jenem besonders wichtigen Buch geschrieben, darin aufgezeichnet wird, was Menschen einander sind und wie sie sich gegenseitig vorwärtshelfen, fernen Zielen zu.

Wenn Eva künftig mit der Stasel von der Bäuerin sprach, nannte sie sie nie anders als »Die Schöne«. Ein flimmerndes Märlein erzählte sie der Magd, von einem 85 glänzenden Goldschein, den die Schöne um den Kopf habe wie einen Strahlenkranz.

Schüchtern nur widersprach oder zweifelte die Stasel; denn auch ihren derben Sinnen war es immer, als liege etwas Besonderes um den weißen Kopf auf den weißen Kissen her. Aber schon diese schüchternen Widerreden oder Zweifelsreden brachten die Kleine in Harnisch, so daß sie zornigen Blickes erklärte: »Ich habe es doch gesehen, du dumme Stasel!«

Dann schwieg die Gescholtene und spürte eine merkwürdige, halb von Grauen überschattete Freude, deren Grund sie nicht durchschaute. – –

Eva Auerstein aus dem Forsthaus ging mit den Meßberger Kindern in die Schule. Sie verlor ihre fremde Sprache bis auf einen letzten unverwischbaren Klang, und ihr fremdes Wesen wurde zu etwas Gewohntem und Selbstverständlichem. Ein paarmal gingen die Läuse an sie, dann schnitt man ihr die Haare dicht am Kopfe ab, und spottend nannten die Kinder sie: Adam.

Das erstemal kam sie in Wut und spie denen ins Gesicht, die ihr nahten. Dann trug sie den Spott mit herrischem Stolz und setzte etwas darein, wild und frech zu tun, wie die Buben. Das schaffte ihr Hochachtung und ergebene Anhängerschaft, über die sie verfügen konnte, wie sie wollte.

Sie war eine launische, befehlshaberische Herrin im lauten Spiel; aber je tyrannischer sie sich gebärdete, je williger gehorchten ihr die Meßberger, deren verhocktes Blut es nicht zu viel eigenem Willen brachte, höchstens zu jenem beharrenden Eigensinn, der unter dem Trägheitsgesetz steht und den die 86 rasche Klugheit des Mädchens zu umgehen wußte wie einen Steinblock im Weg, mit dem man auch nicht rechtet und unterhandelt.

Unter der Leitung der Eva, die immer noch meist ein rotes Kleid trug, wie es ihre bräunliche Haut, ihre dunklen Augen und Haare fast forderten, durchstreiften die jungen Horden Wälder und Heide. Sie bauten sich Hütten und Zelte, Burgen und Königsschlösser an Waldsaum und Flußufer, sie angelten mit gebogenen Nadeln und stellten Fallen aus Dachziegeln, sie jagten den Schmetterlingen nach und pirschten auf Käfer, Schlangen und Eidechsen; sie streckten ihre Hände, oder doch ihre Begehrlichkeit nach allem Lebendigen aus, als sei es für sie und um ihretwillen erschaffen, und sie brüllten und grölten oft in die warme, stille, blaue Sommerluft hinaus ohne Sinn und Zweck und Absicht, aus reiner heißer, wilder Freude am Leben. Aber über einem wachte die Herrin Eva wie eine Richterin: lebendige Beute ließ sie nicht quälen und töten, und schmähender, grimmiger Verachtung oder jäher Rache war sicher, wer sich gegen dieses Gebot verging. Dafür bevölkerte die Herrin Luft und Land mit fremdem Getier, wie es zuvor kein Meßberger gekannt oder geahnt hatte.

Sie zeigte ihrer Gefolgschaft in der engen Bergschlucht den Drachen, wie er züngelnd, schwer, stinkend und rauchend an den feuchten Steinwänden herunterhing, den Schatz bewachend, der in den Klüften lag. Den Elch mit den breiten Schaufeln, den Ur mit dem mächtigen Nacken sah sie unter den Bäumen, den Adler, den nacktköpfigen Geier hoch über 87 den Wipfeln. Die Feueraugen großer Eulen leuchteten ihr aus sterbenden Baumstümpfen, und zwischen Felsgeröll sah sie die blauen Schlangen mit schimmernden Krönlein.

Sie war nicht neidisch und behielt diese Dinge nicht für sich allein. Mit deutenden Fingern und glänzenden Augen zeigte sie alles ihrer Schar, und ihre flüsternde Stimme und Sprache ward in der Erregung wieder fremd und voll der harten, seltsamen Laute, die sie dereinst aus dem fernen Lande mitgebracht und scheinbar längst vergessen hatte.

Mund und Nase sperrten die Meßberger auf, und die Schwerfälligsten unter ihnen, die, die ihrer stumpfen Sinne am wenigsten Meister waren, die sahen und hörten oft am raschesten, was da zu hören und zu sehen sein sollte. Mit diesen paar Auserwählten tat sich Eva inniger zusammen; doch nicht so, daß sie ihnen gegenüber eines ihrer Herrenrechte aufgegeben hätte, oder daß sie sich durch besondere Treue an diese kleine Schar gebunden fühlte. Sie verstieß und zog zu sich heran nach Laune und Wohlgefallen, und ihre besten Freunde hielt sie unter härtestem Zwang.

Manchmal wachte in der Schar der Wunsch auf, unter der Führung Evas in den weitläufigen geheimnisvollen Garten des Forsthauses einzudringen, den dichte, von Baumwipfeln überragte Hecken eifersüchtig rings umgaben und in dem die Amseln sangen wie nirgends sonst. Aber unerbittlich lehnte das Mädchen ab, und je aufdringlicher die anderen wollten, je abweisender wurde sie. »Erlaubt es dein Vater nicht?« fragte wohl eine Stimme aus der Schar mit jenem hämischen Klang, der aus heißen Seelen Feuer schlägt. 88

Hochmütig flackerten Evas dunkle Augen auf. »Nicht darum!« Mehr sagte sie nicht; hätte vielleicht auch nicht sagen können, was wie ein dumpfes Gefühl in ihr lebte: daß die Lärmenden nicht hineinpaßten in den verträumten und verwilderten Garten, in dem die verwitterten Grabsteine alter Priorinnen, die Fliesen und Dachziegel des hingeschwundenen Klösterleins zwischen den Buchshecken lagen oder unter breitausladenden alten Bäumen zu grünbemoosten Hügeln aufgeschichtet waren.

Das aber wehrte das Mädchen den Meßbergern nicht, daß sie mit heißer Mühe und unter mancher Verwundung durch die alte dichte, stachlige Hecke zu schauen versuchten und die Dinge sahen, von denen Eva erzählte, daß sie drinnen seien.

Auf diese Weise sahen sie die lustwandelnden Nonnen, die in Büchern lasen und Blumen aus dem Rasen pflückten, und unter denen eine war, die ein so welkes, sonnverbranntes Gesicht hatte wie Fräulein Tabea. Diese Nonnen kamen nach und nach allen einmal vor die Augen, bald deutlicher und bald verschwommener, bald nur flüchtig, bald für lange. Wer sie heute nicht gesehen hatte, der sah sie morgen, und wer sie morgen nicht erblickte, dem schärften Scham, Ärger, Neid den Blick, so daß sie doch übermorgen an ihm vorüberschwebten.

Nur ein kleines, bleiches Mädchen mit krankhaft dickem Hals, aber einer schönen, klugen Stirne sah nie etwas. Ein Waisenkind war sie, dessen Eltern sich schon in jungen Jahren die Lungen aus der Brust gehustet hatten. Sie trieb sich bei ihrer Großmutter herum, hatte dort Kost und Schlafstelle, 89 und in Meßberg galt es dafür, daß sie gut untergebracht sei. Das wußte niemand, daß auch ein sattes Kind beständig hungrig sein, und daß man für die Nacht ein Bett und doch nirgends eine Heimat haben kann.

Wie ihr Schatten war die kleine Hanne hinter Eva Auerstein her. Sie ließ nicht von ihr; aber sie hielt auch nie recht stand, wenn Eva mit ihr richtig und gründlich anbandeln wollte. Sie war vielleicht die Gehorsamste unter der Gefolgschaft; aber sie wich immer aus, wenn einer der herrischen Befehle an ein einzelnes erging. Ergeben und doch selbständig, treu und doch nicht gefesselt, untertan und doch nicht untertänig stand sie hinter ihrer dunkelhaarigen Königin, eine einzelne, auch wenn sie im Schwarm mitging.

Ob Eva sie liebte, war schwer zu entscheiden. Oft schien es eher, als sei sie ihr lästig oder zuwider. Die zuwartenden hellen Augen der Hanne waren unbequem; eine Kühle ging aus von ihrem bleichen Gesicht, wenn in Eva die Hitze loderte. Aber wenn es galt, aus der Fülle der Meinungen einen Rat oder Vorschlag herauszuschälen, da brachte Eva oft mit einem raschen Ruf alle andern zum Schweigen und fragte die Hanne. Und wenn alle etwas lobten und nur Hanne hielt sich zurück, so blieb in Evas Seele ein Stachel, dessen schmerzendes Dasein sie dann irgendwie die Waise entgelten ließ, vielleicht ohne es zu wollen.

Diese Hanne, die durch die Hecke am Garten niemals etwas sah, war die einzige, die im Frühling mit Eva einstmals hineindurfte.

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