Auguste Supper
Die große Kraft der Eva Auerstein
Auguste Supper

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Wie ein Stein, den man ins Wasser wirft, Ringe zieht, die zuvor niemand berechnen kann, so bewirkte Evas Lähmung in ihrem Umkreis manche Verwandlung. Sie selbst aber blieb sich am meisten gleich, oder es war doch das, was sich an Wandlungen an ihr und in ihr vollzog, nicht der Krankheit auf die Rechnung zu setzen. Auch wenn der Hagel der Knospe eine Wunde schlägt, drängt sie noch unerschüttert dem Aufblühen zu.

Jahrelang schleppte man das Mädchen durch Heilanstalten und die Wartezimmer berühmter Ärzte. Sie ließ alles willig mit sich geschehen. Aber wenn sie sich selbst besser verstanden hätte, müßte sie gemerkt haben, daß sie im Grunde genommen weniger Genesung suchte als das Neue, das Unbekannte, die fremde Welt und die bunten Erlebnisse.

Sie müßte gemerkt haben, daß unter den knechtenden Banden ihres Leidens das Abenteuernde in ihr immer noch den Kopf hoch trug und die Augen hell und suchend in den Tag schweifen ließ.

Und sie müßte gemerkt haben, daß zwar ihr gelähmter Arm und ihr schwaches Bein bei diesen oft mühseligen 208 Kreuzzügen nach dem Heil nicht auf ihre Kosten kamen, daß dafür aber ihre Seele manchen Schleier von verhüllten Dingen zog und aus der freundlichen Dämmerung des Kindseins früh und ein wenig zu unvermittelt in den Tag hineingestellt wurde.

Was wäre von diesen Jahren zu erzählen? Es war da viel Rankenwerk, das um das wahrhaft Schicksalhafte sich herzog, wie die dünnen Triebe der Reben im schwülen Frühsommer, die über die heimlich wachsenden Trauben hängen. Von Fruchtansätzen aber gab es nur ganz zarte und tiefversteckte Spuren: ein paar kleine Lieder, ein kurzes, von seltsamer, wissender Trauer erfülltes Märchen, das Eva niederschrieb und wieder zerriß, als sie merkte, daß Tabea es in der Hand gehabt hatte.

In Meßberg lobte man den Forstmeister, daß er so viel für seine junge Tochter tat. Mit Ehrfurcht sprach man von dem großen Haufen Geld, den all die nutzlosen Kurversuche kosteten. Hinausgeworfenes Geld hatte in den Augen der Meßberger doppelten Glanz und eine besondere Hoheit.

Das aber sagte doch auch mancher, daß es für Eva vielleicht gar kein Glück sei, einen so reichen und freigebigen Vater zu haben. Wäre sie armer Leute Kind, dann schleppte man sie nicht zu den Doktoren, sondern hätte schon lang einmal von kundiger Seite, zum Exempel von der Fev, »dafür tun lassen«. Oder wenn die Jerusalemshexe zu alt und zu kraftlos war für den schweren Fall, so gab es noch andere Leute auf der Welt, die etwas können. 209

Zäh und beharrlich bohrte sich die Meßberger Meinung durch bis zu Fräulein Tabea. Das schwarzseidene, sonntägliche Kirchenkleid umgab diese mit einem Schimmer von Gläubigkeit, und so wagte sich das Zutrauen einiger Gläubigen an sie.

Die Baltin wehrte nicht ab. Von der Fev zwar wollte sie nichts wissen. Aber was man ihr erzählte von jenem Mann, der eine Kraft hatte, das wollte ihr nicht aus den Ohren. Eine Kraft müßte man haben, um Eva zu heilen, das spürte sie, das leuchtete ihr ein. All das Massieren und Elektrisieren, all die tastenden Versuche, die experimentierenden Eingriffe der heilkundigen Berühmtheiten hatte sie vor ihren Augen zerfließen sehen in Ohnmacht. Das hilflose Von-außen-her all dieser Heilversuche hatte oft grell belichtet vor ihr gestanden, und wenn sie wieder einmal unverrichteter Dinge mit Eva heimreiste, dann ging es ihr durch den Sinn, ob wohl nirgends mehr auf der Erde ein Teich sei, den ein Engel aufrühre und mit seiner Kraft lade, damit geheilt werden könne, wer zuerst hineinstieg?

So kam ein Tag, an dem Tabea hochgemut, als reise sie dem Wunder entgegen, mit Eva zu dem Mann fuhr, der die Kraft hatte. Der Forstmeister wehrte es nicht. Als ihm die Baltin den Plan vortrug, lief ein Lächeln über sein braunes Gesicht. Aber eher ein trübes als ein ungläubiges.

»Ich weiß, Sie glauben nicht –« tadelte unwillig die Baltin.

Er fuhr sich durch das kurze Haar. »Wer sagt Ihnen das? Ich glaube, daß es eine Kraft geben kann, die Eva heilt.« 210

»Nun – und –?« forderte die Baltin heraus.

»Eva glaubt es nicht. In Eva schreit nichts nach dieser Kraft. Und solang das nicht aufeinandertrifft, die Kraft und der Glaube, solang der Funken nicht springt – Sie wissen ja – das Neue kommt nicht ohne das!« Er wandte sich ab und ging die Treppe hinunter.

Es war eine weite und beschwerliche Reise, die Tabea mit Eva zu machen hatte. Der Mann mit der Kraft schaute Eva lange schweigend an, so lange, daß ihre dunklen Augen zuletzt unruhig wurden und plötzlich nicht mehr standhielten, sondern scheu nebenhinaus irrten.

Da sagte der Mann etwas zu Fräulein Tabea, das streng, fast drohend klang, und er machte dazu eine kurze, wie wegwerfende Bewegung mit der blaugeäderten Hand.

Darüber, vielleicht aber auch aus einem andern, unbekannten Grund, fing der fette, graue Hund, der neben dem Ofen auf einem Kissen lag und der Eva bisher fast ebenso eindringlich gemustert hatte wie sein Herr, ganz toll zu bellen an.

Das Keifende, ja Beschimpfende, das in des häßlichen Tierleins Bellen lag, brachte plötzlich die zuvor scheue und ernste Eva zum Lachen. Unbefangen und hell lachte sie hinaus, denn allen Tieren gegenüber fühlte sie sich frei und unbedrückt.

Da nickte der Mann stärker mit dem Kopf, so daß ihm Haarsträhnen auf die gerötete Stirne fielen, und er bohrte Eva den Finger in die Schulter. »Da sehen wir es! Dieses muß hinaus! Dieser Teufel muß zuerst ausfahren!«

Evas Lachen erstarb jäh. Verwirrung, ja Schrecken stieg in ihren dunklen Blick. Wie lange hatte sie nicht mehr 211 an das unselige Geheimnis ihres Teufels gedacht! Und nun war er offenbar wieder in ihre Augen getreten und hatte sich vor diesem Mann gezeigt, der die heilende Kraft hatte! Ob ihr Teufel es war, der auch heute verhüten wollte, daß sie geheilt werde?

Wie harter Trotz flog es durch sie hin. Trotz ihrem Teufel, Trotz aber auch diesem strengen Heiland gegenüber! Sie wollte nichts von ihnen! Nicht von ihres Teufels und nicht von dieses Menschen Gnade wollte sie geheilt sein. Sie kamen ihr beide vor wie einem dunklen Reich entstiegen, einer Welt, die sie hinter sich lassen wollte, um ins helle, weite, selige Leben zu wandern.

Ehe sie ein Wort fand, klang bittend und seltsam bescheiden neben ihr Fräulein Tabeas Stimme: »Sie können doch helfen? Wir sind sehr weit hergereist und kamen mit großen Hoffnungen!«

»Diese da sicherlich nicht!« sagte der Mann mit vernichtender Härte und deutete auf Eva.

Sie wollte die Augen auf ihn richten in ehrlicher Verwunderung darüber, daß und woher er das wissen könne. Da fiel ihr ein, welches Unheil heute in ihren Augen lag. Wie ein stürmendes Gespann, das der Lenker in letzter Sekunde noch zurückreißt, zwang sie ihren Blick an dem Manne vorüber ins Leere.

So lag etwas Unaufrichtiges, ja Verschlagenes über ihr, das ihrem wahren Wesen so fremd und fern war wie Feuer dem Wasser.

Aber der Mann mit der Kraft sah nur den bösen Schein. 212 Er gehörte zu jenen mit Blindheit Geschlagenen, die beständig anklagend und murrend vor den Meister treten: »Siehe, dieser folget dir nicht mit uns!« Und die nie auf die göttliche Antwort achten! »Wer nicht wider uns ist, der ist für uns! Wisset ihr nicht, wes Geistes Kinder ihr seid?« – –

Zu der Baltin hingewendet sagte er: »Es ist immer die alte Geschichte: kein Teufel will aus seinem warmen Nest. Immer schreien sie schon von ferne: Was haben wir mit dir zu schaffen –«

In diesem Augenblick fing der Hund an, sich gähnend auf seinem Kissen zu wälzen. Töne seiner hündischen Langeweile stieß er dabei aus, als wolle er sagen: nun kommt das wieder, was ich schon hundertmal gehört – immer das gleiche – immer das gleiche! –

Zum zweiten Male lachte Eva laut auf. Sie wollte nicht. Sie erschrak selbst darüber und wurde schnell wieder ernst. Aber der abgeschnellte Pfeil läßt sich nicht halten. Das Unheil war geschehen.

»Reisen Sie wieder heim,« sagte eisigkalt der Mann zu der Baltin, »ich darf meine Zeit und meine Kraft um der andern willen nicht an Fälle verschwenden wie diesen hier.«

»So halten Sie die Sache für hoffnungslos?« fragte nach einer bangen Stille Tabea leise.

Der Mann strich seine Haarsträhnen über den kahlen Kopf. Eine tiefe Aufregung lag über ihm, ja eine Empörung, wie sie Teufeln gegenüber begreiflich ist. »Hoffnungslos?« stieß er hervor, »hoffnungslos ist nichts, solang der allmächtige Gott im Regimente sitzt. Aber hartnäckig ist das mit dieser 213 da! Es muß erst das Herz zermürbt werden, ehe man an eine Heilung denken kann. Heraus muß etwas, heraus!« Und er machte eine Bewegung, als zöge er mit Wucht an einem unsichtbaren Hindernis.

Eva wehrte jetzt ihren Augen nicht mehr, das Schauspiel zu genießen. Sie sah auf den Mann mit Neugierde und Erwartung. So, als sei sie gespannt, was weiter geschehen werde.

Er trat ganz nahe an ihren Fahrstuhl heran. »Meine Tochter, in dir ist der Böse noch mächtig. Daher deine Krankheit. Du kannst wieder kommen, wenn du durch Reue und Buße dem Feind die Herrschaft gekündigt hast. Wir werden für dich beten.«

Und dann, zu Tabea gewendet, die kurze, sachliche Frage: »Haben Sie sonst noch ein Anliegen?«

Und Fräulein Tabea hatte noch das Anliegen mit ihren Schmerzen im rechten Arm. Und sie wurde geheilt. –

Als Eva ungeheilt von diesem Ort zurückkam, wurde beschlossen, nun keine Kur mehr zu versuchen. Sie selbst hatte auf einmal genug der nutzlosen Reisen. Wie eine Trübung legte sich etwas über ihren rastlosen Sinn. Sie sprach nicht über die verunglückte Fahrt. Auf des Vaters Fragen erzählte sie nur von dem gähnenden, sich wälzenden Hund, von dem Lachen, das ihr gekommen sei. Aber in ihren Augen glomm trotziges Licht dabei, und dann stieß sie noch hervor: »Meine Tochter, hat er zu mir gesagt. Was braucht er denn zu lügen!«

Der Forstmeister strich ihr über das dunkle Haar. »Lügt man denn, wenn man ›meine Tochter‹ zu dir sagt?« 214

»Du nicht!« entgegnete sie warm und drückte ihre Lippen auf seine braune Hand.

Die Baltin aber erklärte nach der Reise wieder einmal ihrem Herrn, sie sei jetzt zu der Erkenntnis gekommen, daß die Lähmung zu Evas Bestem sei. Eine Natur wie die ihre sei durch solch einen Zügel und Zaum vor vielem behütet, und kein Mensch könne abschätzen, wohin sich ohne diesen hemmenden Pfahl im Fleisch das schwer zu bändigende Mädchen verirren würde. Man habe wahrscheinlich zu danken, statt zu klagen.

Der Forstmeister sah in sein Buch, aus dem er aufgeblickt hatte, solange Tabea sprach. »Gut,« sagte er trocken, zurückweisend, »danken Sie! Man dankt ohnedies zu wenig und meist für das Verkehrte auf dieser Welt.« Und dann irrten seine Gedanken ab von dem Gedruckten, auf das er niederblickte, und er spürte wieder, wie schwer es sei, einzustehen für ein Blut, dessen Quell und Ursprung man nicht kennt.

Für sich allein wurde Eva eingesegnet, lang hinter den andern her. Die ganze Schar der einstigen Trabanten zusamt der einspännigen Hanne hatte längst den Schritt ins alltägliche Leben und Treiben der Erwachsenen mit jener unreifen und unechten Reife getan, die so viele dann im ganzen Leben zu keiner echten und reifen Reife mehr gelangen läßt.

Mit Kühen und Ochsen fuhren jetzt die Buben, die unter Evas Regiment einst Burgen im Wald gebaut und Schmetterlinge gefangen hatten. Die Burgen und Schmetterlinge waren vor der Zeit in ihnen verschüttet und quälten manche 215 ein Leben lang scheintot unter dem Schutt, besonders die, die hinter Maschinen ihre Tage zubringen mußten.

Die Mädchen, die Sträuße und Kränze gewunden, waren im Dienst in der Stadt oder mußten daheim harte Magdsdienste tun.

Nur Hanne, die in der Stille Getreue, die Ärmste von allen, an deren Kraft und Zeit irdischer Besitz keine großen Ansprüche stellte, war manche Stunde bei Eva.

Die alte Großmutter sagte nichts dagegen. Ihr war die blasse, unscheinbare Enkelin wie die zufällige Hinterlassenschaft einer Zeit, an die das Weib fast mit Bitterkeit dachte. Da waren Sohn und Söhnerin gewesen, und man hatte von einem Feierabend geträumt. Dann fingen die zwei Jungen an, sich von der Welt wegzuhusten, und sie ließen der müden Alten nichts als das Kind, das keine Stütze, keine Hilfe war.

Sie gab ihm Obdach und Nahrung und schlug sich mit ihrem armen Leben herum, Tag um Tag. An Hanne viel zu denken, hatte sie keine Zeit und kaum Veranlassung. Denn das Mädchen lebte von den frühesten Jahren an lautlos auf eigene Faust. Sie spielte allein, als sei sie nicht allein, sie wuchs einsam heran, als hätte sie immer Umgangs genug. So fand die Großmutter bei Hanne und Hanne bei der Großmutter keine Lücke zu füllen, darum strömten sie auch einander nicht zu und brauchten einander kaum.

Als Hanne nach der Schulzeit anfing, die Kuh zu melken und das alte Häuslein mit dem kleinen, verwilderten Garten zu bestellen, lobte die Großmutter sie nicht darum. Es war 216 alles so selbstverständlich, so schicksalhaft im müden Geist der Greisin. Und als das Mädchen sich dann noch der paar Äckerlein annahm, legte die Alte sich tagelang ins Bett und ließ die Zügel den welken Händen entgleiten, als müsse das so sein.

Wenn sie dann Hanne nebenan in der Stube oder in der kleinen dunklen Küche leise reden oder auch leise singen hörte, kam es ihrem sich verwirrenden und verirrenden Geist vor, als sei nun Hanne die Mutter und sie selbst das Kind, das schlafen soll. Und sie schlief viele Stunden wunschlos und sorglos, eine ans Herz Gottes Gebettete. Dann schlich sich oft Hanne fort zu Forstmeisters Eva.

Dem Band, das diese zwei umschloß, war etwas eingewoben, was sie immer spürten und nie verstanden. Als ob es mit jenem Frühlingstag zusammenhänge, der sie für lange Zeit so scharf getrennt hatte, so fühlten sie, und wußten sich's doch nicht zu deuten. Wußten nicht, daß die eine der andern die von der allgebräuchlichen hürnernen Schale befreite Seele abspürte. Wußten nicht, daß sie beide am äußersten Rand der breiten und staubigen Straße wanderten, auf der die andern gehäuft in der Mitte pilgerten. Wußten nicht, daß ihrer beider Freude war, von diesem Rand aus dann und wann ein grünes Gras, eine blühende Blume vom Acker und von der Wiese nebenan zu rupfen, was doch eigentlich allen auf der Straße Ziehenden verboten war.

Auch das wußten sie damals noch nicht, daß die Wallenden in der staubigen Straßenmitte Hohn und Spott haben für die am Rand Schreitenden und bei fremden Blümlein Verweilenden. 217

An all das dachten sie nicht und wußten nichts davon. Eva wußte nur, daß ihr Hanne erwünschte Gesellschaft war, besonders in Tagen, die, wie es immer wieder vorkam, Schmerzen brachten und ein stärkeres Gebundensein.

Und Hanne ging ins Forsthaus wie zu einem selbstverständlichen Dienst, der ihr zustand und dem sie sich nicht entziehen mochte, den sie sich aber auch von niemand und nichts hätte befehlen oder verbieten lassen. Diese Freiheit, in der sie zusammenkamen, schätzten und schützten die zwei unbewußt mit aller Kraft.

Der erste Frühlingssturm stieß ans Forsthaus, heulte oben in den weiten, schlechtverwahrten Speichern und ließ die mächtigen Bäume im Garten aufrauschen.

Das laute, seltsam klagende Schreien der Enten in Küfer Lutzens Hof klang herein zu den Mädchen, die in Evas weiter Stube am Fenster saßen. Sie hatten beide den Kopf über Bücher geneigt; aber zu beiden drangen dennoch die Laute des Frühlings bis hinein in die jungen Herzen.

»Hanne,« sagte plötzlich Eva und hob den Kopf, »sag ehrlich, ganz ehrlich, hast du ihn schon einmal bei mir gesehen?«

Die Blasse sah auf vom Buch. Ihr Blick war noch in irgendeine Ferne verloren. »Was sagtest du?«

»Ach,« klang es ärgerlich und doch verhalten, »du hörst doch nie, was man dich fragt. Ob du ihn schon bei mir gesehen hast?«

»Wen?«

»Wen? Wen? Wen glaubst du wohl?« 218

Von Hanne wich die fast phlegmatische Ruhe nicht. Sie kannte zu gut die Art der Genossin, die bald hingebendste Freundin, bald strengste Herrin war. Und gerade dem Herrischtun fühlte sich Hanne aus einer Tiefe heraus gewachsen. »Ist es ein Mann?«

Hellauf lachte Eva. Dann besann sie sich. Was war da zu sagen? Wer kennt die Natur der Teufel?

»Halb vielleicht ein Mann, halb vielleicht nicht,« sagte sie tastend und ihren eigenen Worten nachsinnend.

»Oh,« meinte Hanne, »dann weiß ich's schon: Pfarrers Heinz!«

Eine leise Blutwelle lief über Evas Gesicht. Ihre Augen glänzten flüchtig auf. Dann sagte sie fast grob: »Wie kann ich den meinen! Er ist doch weit fort! Du schwatzst dummes Zeug.«

»Er kommt aber immer wieder,« beharrte Hanne zäh.

Eva setzte sich aufrecht. Steif, abweisend sah sie aus. »Ach du, jetzt schwatzest du von etwas anderem, weil du es nicht weißt.«

»Was soll ich denn wissen?«

»Mit dir kann man nicht reden. Deine Gedanken gehen durcheinander wie deine Haare.«

Hanne legte jetzt das Buch weg, in das sie seither immer wieder einen Blick getan. Sie lächelte. »O du, jetzt sagst du das zu mir, was Heinz schon oft zu dir gesagt hat. Ich weiß doch nicht, was du von mir willst. Frage deutlich, dann kann ich deutlich antworten.«

»Nichts,« entgegnete Eva trotzig und kindisch, »lies du nur.« 219

Hanne zog mit unbewegtem Gesicht das Buch wieder zu sich her und las weiter. Man sah, daß sie allen Klippen und Untiefen im Umgang mit der Freundin gewachsen war. Die Blässe ihres Gesichts, die früher dem Kind etwas Krankhaftes gegeben hatte, sah jetzt eher aus wie ein Sippen- oder Rassezeichen, das sich nicht verlieren kann und das nichts Bedrohliches an sich hat. Auch die untersetzte, in ein bedächtiges Wachstum gekommene Gestalt mutete nicht krankhaft an.

Doch lag über Gesicht und Gestalt jener unnennbare Stempel, den Leid oder Leiden geheimnisvoll aufprägt und der alles Grobe unmerklich und doch unverkennbar verfeinert.

Am stärksten sprach dieses Besondere vielleicht aus den Augen, die meist groß und ruhevoll, bei manchen Gelegenheiten aber auch eindringend, ja stechend blicken konnten, als komme etwas zu ihnen her, was ein gewöhnlicher Blick nicht sieht.

Jetzt las sie ruhig weiter in ihrem Buch, als kümmere sie sich nicht um die grollende Gefährtin.

»Hanne,« klang es nach einer längeren Stille fast sanft, »sage ehrlich, hast du schon einmal den Teufel in meinen Augen gesehen?«

Hanne schaute auf. »Hast du einen?« fragte sie sachlich und ohne Verwunderung.

Eva nickte. »Jeder Mensch hat einen, sagte mir einmal die Fev. Nein,« verbesserte sie sich, »jeder rechte Mensch.«

Hanne strich über ihr Buch. »Kann sein,« meinte sie gelassen. 220

Eva starrte hinaus in die Baumwipfel, in denen der Wind spielte. Plötzlich wandte sie den Kopf und schaute Hanne voll, wie herausfordernd an. »Daß du's weißt: ich habe gewiß einen. Ich meine nicht einen mit einem Kuhschweif und Hörnern. So dumm bin ich nicht. Aber ein Teufel ist's. Ich spüre oft, wie er etwas von mir will, was ich nicht soll. Als kleines Kind habe ich ihn schon gehabt. Vielleicht ist er mit mir, mit meinem lebendigen Geist in mir schon auf die Welt gekommen. – Vielleicht« – sie sprach plötzlich ganz langsam und schwer – »hat ihn schon meine Mutter gehabt, als ich aus ihrem Blut geworden bin.«

Eine leise Stille war in der Stube; das Murren des Windes stieß wider die Fenster. Jetzt atmete Hanne schwer auf. »Wenn du weißt, daß du einen hast, was fragst du mich?«

Das unruhige Glänzen in Evas Augen erlosch. Ihr Blick wurde hochmütig. »Ich habe dich nicht gefragt, ob ich einen habe; nur ob du ihn schon gesehen habest?«

»Nein,« sagte Hanne nun auch in anderm Ton, »gesehen habe ich ihn nicht; aber gedacht habe ich manchmal –«

»Was hast du gedacht?« fiel Eva fast drohend ein.

Hanne blätterte in ihrem Buch um ein paar Seiten zurück. Ohne Hast tat sie es, als wolle sie keine Antwort geben und sich nicht mehr um die Gefährtin kümmern. Dann strich sie plötzlich das Blatt glatt und las laut: »Und es begab sich danach, daß er reiste durch Städte und Märkte und predigte und verkündigte das Evangelium vom Reich Gottes, und die Zwölf mit ihm, dazu etliche Weiber, die er gesund gemacht von den bösen Geistern und Krankheiten, nämlich Maria, 221 die da Magdalena heißt, von welcher waren sieben Teufel ausgefahren.« Sie schwieg und sah nicht auf von dem Buch.

Evas Stirne fing langsam zu brennen an. Es lief wie ein leises Zucken durch die weiße, gelähmte Hand, die in ihrem Schoß lag. Gequält brach es nach langer Zeit aus ihr heraus: »Fortgeschickt hat er mich und hat mich nicht heilen können.«

»Wer?« fragte Hanne, ohne aufzublicken.

»Der Doktor. Nein, er ist kein Doktor; er hat nur eine Kraft.«

Hanne tat das Buch bedächtig zu. »Er hat keine Kraft,« sagte sie ruhig, fast trocken, »sonst hätte er dich geheilt, auch wenn du sieben Teufel hättest. Und dann erst recht.«

Eine klare, jähe Sonnenflut übergoß draußen die aufleuchtende Welt. Die Mädchen hoben zu gleicher Zeit die Köpfe, wie angerufen von der Kraft des himmlischen Lichtes.

Und auf einmal hatten sie beide die Augen voll schwerer Tränen und wußten nicht, warum.

*


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