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Come segne la lepre il cacciatore
Al freddo, al caldo alla montagna, al lito
Ne più la stima poi che presa vede
E sol dietro a chi fugge affretta il piede.
(Ariosto, Cant. 10. Stanz. 7.)
Der Thurm von Koat-Vën, welcher den Abend vorher so lebhaft die Aufmerksamkeit der Herzogin von Almeda erregt hatte, erhob sich, wie schon gesagt, auf den hohen Felsen der Westküste von Bretagne.
Dieses, anfangs zu einer Seewarte bestimmte Gebäude war später aufgegeben und vom Intendanten der Bretagne an Joseph Rumphius, einen sternkundigen Mathematiker, überlassen worden, um die meteorologischen und hydrographischen Beobachtungen, mit welchen sich dieser seit geraumer Zeit beschäftigte, zu erleichtern, und da Koat-Vën nicht weit von dem Städtchen St. Rénan lag, wo Rumphius wohnte, fand er diese Warte äußerst bequem. Auch waren die verschiedenen kreisförmigen Gemächer, welche diese Bequemlichkeit ausmachten, gewöhnlich mit Quadranten, Astrolabien, Uhrwerken, Globen, Fernröhren und andern ohne alle Ordnung hingeworfenen Instrumenten angefüllt.
Aber jetzt bewohnte Rumphius den Thurm von Koat-Vën nicht mehr, und es waren auch alle Werkzeuge der astronomischen Wissenschaft in eine Art Häuschen verwiesen worden, welches sich auf dem Forst des Gebäudes befand, und die nützlichen Mobilien, die alle jene gelehrten Geräthschaften ersetzten, bezeugten hinlänglich, daß die Bestimmung des Thurmes für jetzt verändert war und daß sein neuer Herr, sich mehr mit der Erde beschäftigend, versucht hatte, das Gebäude bewohnbar zu machen.
Die vier langen und schmalen Fenster, die, nach Süd, Nord, Ost und West durchgebrochen, den geräumigen und einzigen Saal, aus dem der erste Stock bestand, erhellten, waren mit langen Vorhängen geziert; dann standen einige Sessel und ein breiter, vortrefflicher Lehnstuhl mit Armlehnen und einem sehr hohen Rückentheile um einen großen, mit Schriften und theologischen Büchern bedeckten Tisch.
Es war den Tag nach jenem, an dem die Herzogin sich so unvorsichtig auf den Abhang des Fal-Goët gewagt hatte; die Sonne spiegelte sich im Meere, welches ein ungestümer Landwind spielend aufregte, und der Gürtel der Inseln und Klippen, deren dunkle Kämme den Horizont begrenzten, zog sich mitten durch den perlenden Schaum, der ihren Fuß küßte.
Dennoch lag eine gewisse tiefe Schwermuth in dem Anblicke dieses reinen, einförmigen Himmels; das Gefühl einer unbezwingbaren Traurigkeit wurde dadurch erzeugt, und man hätte zu sehn gewünscht, daß die weißen Flocken irgend eines Gewölks an diesem immer gleichen Blau sich entwickeln möchten, gleich als hätte man auf den Anblick, auf die Gestalten dieses Gewölkes, auf seine Contraste gerechnet, um die Seele von dem verwundenden Hinstarren abzuziehen.
Mit Recht; denn ein immer blauer Himmel, ein Himmel ohne irgend eine jener ergreifenden und langen Unterbrechungen von Licht und Schatten, von Sonne und Finsterniß – o wie traurig ist ein solcher Himmel! ja, traurig; es ist ein Leben ohne Freude und Thränen, ohne Liebe und Haß!
Es war zwei Uhr, und um diese, Zeit schwieg Alles auf dem Strande, war Alles stumm zu Koat-Vën. Nur das klagende Geschrei des Tarek mischte sich manchmal in das dumpfe und regelmäßige Gemurmel der hohen Wogen, die sich schwerfällig an der Küste brachen … zuweilen rauschten die feuchten Fittige einer Seemöve an die kleinen, mit Blei eingefaßten Fensterscheiben dieses Thurmes, oder es streifte wohl der Eisvogel an das Marienglas derselben, wenn er Moosstückchen und Seegras in die Höhlungen des Gemäuers trug, wie er sie für den Winter einsammelt.
Auch sah man nach langen Zwischenräumen mitten durch die sonderbar gestalteten Zacken der dunkeln Felsen, ein weißes und von der Sonne vergoldetes Segel blitzen, vorbeiwehen, dann verschwinden, gleich jenen Erscheinungen der Liebe und Jugend, welche zuweilen in ein verblühtes und vor der Zeit gealtertes Herz schimmern.
Allein diese tiefe Grabesstille wird plötzlich unterbrochen; eilige Tritte hallen auf der Wendeltreppe wieder, welche nach den obern Stockwerken führt; die Thür des großen Saales wird heftig aufgerissen, ein Mann tritt mit den Worten ein: »das ist sie« und eilt, sich in den Lehnstuhl zu werfen.
Dieser Mann schien höchstens 25 Jahre zu zählen; seine ungepuderten Haare, lang und kastanienbraun, fielen, statt nach der damaligen Mode nach hinten gezwungen zu sein, auf seine Schultern herab. Seine Stirn war weiß und erhaben, seine Augen groß und geistvoll, seine Nase fein geformt und gerade, seine Lippen schmal, und das runde Kinn war so frisch und warm, seine Gesichtsfarbe so zart, daß ihn viele Frauen um dies schöne Antlitz beneidet hätten.
Vielleicht würden einige kleine Züge um die Augenwinkel einen offenen und frohen Charakter verkündet haben, hätten nicht die tiefen Falten, die plötzlich die Stirn des jungen Mannes durchkreuzten, seinem lieblichen Antlitz einen leidenden und kummervollen Ausdruck verliehen.
Sein einfacher Anzug von dunkler Farbe ließ seinen herrlichen Wuchs bemerken; doch näherte sich die Kleidung, dem strengen Schritte nach, der eines Geistlichen. Er stützte seinen Kopf auf eine Hand; sein Gesicht ward immer bleicher; er begann ganz andächtig und aufmerksam in einem ungeheuren Quartbande mit Schließhaken von Kupfer, der aufgeschlagen auf dem Tische lag, zu blättern.
Er mußte äußerst vertieft in diese Beschäftigung sein; denn die Thür des Zimmers öffnete sich, ohne daß er es im mindesten zu bemerken schien.
Es war die Herzogin von Almeda, welche an dieser Thür erschien.