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XXIV

Bericht des Rittmeisters von Vogelschrey

Ich bin, so schnell ich konnte, nach dem Schloß zurück. Vor dem Eingang hielt mein eigenes Fuhrwerk, das ich am Nachmittag zuvor mit dem Brief an den Abt nach dem Kloster Maria Stern geschickt hatte. Daneben stand ein älterer, kleiner Mönch in fremdartiger Ordenstracht. Der breitkrempige Hut überschattete ein mildes, in würdigen Falten ruhendes Antlitz eines stubenbleichen, freundlichen Gelehrten. Er lüftete, mit der angestammten Leichtigkeit der Bewegungen eines geborenen Herrn aus gräflichem Hause, den schwarzen Filz von der in eine weite, elfenbeinerne Glatze übergegangenen Tonsur. Seine Augen waren forschend klar, wie die eines alten Beichtvaters und Menschentrösters, den auf der Welt nichts mehr erstaunt. Ich denke mir, daß im Mittelalter die Mönche, die neben der seelischen Hirtenpflicht auch die leibliche Heilkunst des Arztes pflogen, so, ihre Mitmenschen auf Herz und Nieren prüfend, hergeschaut haben mögen. Er reichte mir seine Hand und sprach:

»Ich habe mich flugs zu Ihrem vetturino auf den Bock gesetzt und bin mit ihm durch die Nacht hierher gefahren, mein Herr von Vogelschrey. Denn mir ahnte nichts Gutes, sobald ich erfuhr, daß hier uno sosio – ein Doppelgänger von mir – in Schloß Vogelöd sein schnödes Wesen treibt!«

»Sie sind der Pater Faramund?«

» Sicuro! Religioso von der Societa della crociferi! In der Weltlichkeit Dr. theol. Graf Oetsch genannt.«

»Großer Gott, Hochwürden! Warum kommen Sie erst jetzt?«

Der Mönch von Golgatha schien erstaunt. »Auf Ihr eigenes Geheiß, mein Herr Rittmeister!« sprach er mit Bedacht. »Ich fügte mich Ihrem Widerruf!«

»Ich verstehe nicht ...«

»Ich erhielt von der Baronin Safferstätt von einer Poststation aus eine Meldung, daß sie zu Ihnen unterwegs sei und mich alsbald dort erwarte ...«

»Jawohl!«

»Diese Post erreichte mich am Abend, also uhngefähr um die Zeit, wo die Signora wohl bei Ihnen abstieg. Ich machte mich am nächsten Vormittag, nach dem dritten Gebet, reisefertig. Da, sul punto di partire, schon mit einem Fuß im Wagen, wurde mir durch einen ländlichen Boten ein Brief von Ihnen abgegeben ...«

»Von mir?«

» Si – si! Mit dem Aufdruck Ihres Wappens, eines singenden Vogels auf dem Ast, links oben, und rechts ein Stichdruck: Schloß Vogelöd. Ein dickes, gelbes, pergamentenes Papier ...«

Solche Briefbogen lagen unten in der Halle und auch auf den Zimmern zum Gebrauch für die Gäste. Das schoß mir durch den Kopf.

»Hochwürdiger Herr! Was stand in dem Brief?«

»... daß die Baronessa Safferstätt unversehens ernstlich unpäßlich geworden sei und Sie, Herr von Vogelschrey, in ihrem Auftrag mich bäten, meinen Besuch hier im Schlosse um eine Woche hinauszuschieben!«

»Wer brachte den Brief?«

»Ein Mann aus der montagna. Aus dem Gebirge.«

»Wie sah er aus?«

»Sah ich ihn denn, mein Herr capitano? Der Bote gab den Brief an der Klosterpforte ab, ermahnte den Laienbruder, ihn eilends zu behändigen, da er keinen Aufschub dulde, und ging.«

»Haben Sie den Brief bei sich?«

Der Mönch vom Golgatha-Orden hob bedauernd die Schultern und machte mit den Händen eine Bewegung: » Stracciato! Zerrissen ... längst zerrissen ...« Ich sagte:

»Der Brief war gefälscht!«

»Ich merke das jetzt auch ...«

»... und inzwischen kamen und gingen Sie, hochwürdiger Vater, in falscher Gestalt hier im Schloß!«

Der zweite Pater Faramund hatte ein kaum merkliches feines Lächeln über die Torheit des Lebens.

»Und wo bin ich jetzt? Machen Sie mich mit meinem alter ego bekannt! Ich bin gespannt!«

»Ich kann es nicht mehr!«

» Perchè?« »Er ist tot.«

»Und wer ist es?«

»Wir wissen es nicht!«

»Weiß es niemand?«

»Nur eine kann es wissen: die, die mir allem menschlichen Ermessen nach den ungebetenen Gast heimlich ins Schloß geladen hat, die Mette Safferstätt.«

»Ist sie mit ihrem Gatten hier?«

»Ihr Mann hat heute nacht Selbstmord begangen.«

Der Priester wurde sehr ernst. Er trat mit einer raschen Bewegung über die Schwelle.

»Führen Sie mich zu der Signora, bitte!« »Wollen Sie sich nicht erst ausruhen, hochwürdiger Herr? Eine Stärkung zu sich nehmen, nach der Nachtfahrt?«

Der Golgathianer-Vater hörte gar nicht auf mich. Er war ganz Pflicht und wandelndes, aus der Ferne gerufenes Gewissen. Er stieg langsam, gleichmäßig die Treppenstufen empor, schritt im dumpfen Rauschen seiner Kuttenfalten oben durch den Gang, erreichte die Türe gerade, als die Poletta ihren bleichen, schwarzen Kopf herausstreckte, und trat, während sie erschrocken und ungläubig zur Seite wich, mit einem leisen, sanften Anklopfen der Fingerknöchel wider das Holz gleichzeitig auch schon in den Vorraum und schloß die Türe hinter sich.

Ich stand eine kurze Weile draußen auf dem Gang. Drinnen regte sich nichts. Als ich auf dem Rückweg schon oben an der Treppe angelangt war, hörte ich aus dem Zimmer der Mette Safferstätt einen einzigen hellen, durchdringenden, entsetzten Schrei. Dann wurde wieder alles totenstill.

Unten in der Halle hatten sich alle Jagdgäste versammelt. Der Landrichter a. D. Ritter von Söller saß unter ihnen. Ich hatte, während ich über die Stufen hinunterkam, den Eindruck, als ob er sie der Reihe nach dasselbe fragte. Gerade wie ich mich erschöpft in einen Ledersessel warf, schüttelte der Letzte, der Königliche Kämmerer Herr von Höllring, betroffen und verneinend den Kopf. »Wir reden gerade von dem Grafen Johann Preisgott Oetsch!« verkündete mir der Herr von Söller.

Ich machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand. Ich war froh, daß der unheimliche Mann nicht auch noch da war und Unheil stiftete.

»Der ist in den Bergen oben! Gottlob!« sagte ich.

Der Landrichter sah mich sonderbar und schweigsam an. Ich fuhr fort:

»Aber er muß jetzt bald heimkommen!«

Dabei fiel mir ein, daß der Oetsch doch heute um neun Uhr morgens abreisen wollte. Es war jetzt schon beinahe so viel an der Zeit. Eigentlich die höchste Zeit. Ich rief den vorbeikeuchenden Haushofmeister an:

»Haben's den Grafen Oetsch noch nicht gesehen?«

Nein. Dem Rubesoier war von dem Herrn Grafen heute morgen bis jetzt noch nichts bekannt geworden. Ich dachte mir: wenn der Oetsch nur schon über alle Berge wäre! Mir war ganz elend zumut und mein Kopf so leer wie meine Scheuern vor Petri Kettenfeier. Ich bin sonst im Pokulieren mäßig. Aber jetzt habe ich mir einen Enzianschnaps eingeschenkt und hinuntergestürzt. Meine Hand hat dabei gezittert. Ich war so aufgeregt und gereizt, daß ich ganz zornig zu dem Söller gesagt hab':

»Sie sind doch sonst hinterher, alles auszuspionieren ...«

»Ja«, nickte er. »So hitzig wie noch nie in meinem Leben!«

»Warum sitzen's denn da und lassen die Zeit verstreichen? Warum decken Sie denn, wenn's so gar schlau sind, das Geheimnis des Paters Faramund nicht auf?«

»Ich bin eben daran!« sagt der Herr von Söller.

Es ging eine Bewegung durch die weite Halle. Es war, als machten sogar die Ahnenbilder an den Wänden große Augen. Die Augen der Gäste hingen jedenfalls alle starr an den Lippen des Landrichters, und meine auch. Den Atem hab' ich angehalten. Mein Herz hab' ich klopfen hören und den Pulsschlag gehen.

Der Herr von Söller sagt ruhig: »Ich habe eben die Herren hier alle auf Ehre und Gewissen gefragt, ob ein einziger von ihnen in diesen Tagen den Grafen Johann Preisgott Oetsch zu gleicher Zeit mit dem unbekannten Pater Faramund gesehn hat?«

»Sicherlich keiner!« erwiderte ich. Er nickt.

»Nein. Keiner.«

Ich fahre fort: »Das konnte auch gar nicht der Fall sein! Das ist doch klar! Denn der Oetsch und der richtige Pater Faramund, der jetzt dort oben ist, sind Vettern und kennen sich. Der Oetsch hätte also sofort bei der ersten Begegnung mit dem Unbekannten gesehn, daß er nicht seinen Vetter vor sich hatte!«

»Ist es aber nicht ein sonderbarer Zufall, daß die beiden sich in den drei Tagen niemals begegnet sind?«

»Gar nicht!« sage ich. »Denn der Oetsch läuft schon von weitem spornstreichs vor jedem Priester davon! Das ist bei ihm wahrhaftig nichts Neues!«

»Nein. Das ist richtig!« gab mir der Herr von Söller zu. »Jetzt möchte ich trotzdem einmal dem Tageslauf des Grafen Johann Preisgott Oetsch in den letzten dreimal vierundzwanzig Stunden nachgehen. Das heißt, wenn das Sie und die anderen Anwesenden nicht ermüdet!«

Die Herren sind schweigend und gespannt näher zu ihm herangerückt oder haben um ihn und hinter ihm gestanden. Mir drehte sich noch immer ein Mühlrad im Kopf, und ich war nicht so höflich wie sonst. Ich hab' gesprochen: »Der Tageslauf vom Oetsch? ... 'nauf in die Berge! Wieder 'runter! ... Nachts wieder 'rauf! Da haben's dem seine Tätigkeit!«

»Eben!« sagt der Herr von Söller. »Wollen mal schauen: Am Abend spät kommen die Safferstätts an. Die Baronin hat sich für den nächsten Tag den Pater Faramund aus dem Kloster Maria Stern hierher geladen ...«

»Hätt' sie das nur nicht getan und uns unsere Ruh' gelassen!«

»Rittmeister ... lassen wir jetzt einmal alle unsere Sentiments beiseite! Bleiben wir akkurat bei den Tatsachen! Am nächsten Morgen, früh nach der Messe, ist der Oetsch auf und davon!«

»Ich hab' ihn selbst den Berg hinaufsteigen sehen!«

»Am selben Vormittag gibt ein Mann aus den Bergen im Kloster Maria Stern einen gefälschten Brief von Ihnen ab, der Pater möchte noch nicht zu den Safferstätts kommen ...«

»Das hat mir der Pater eben in ihrer Gegenwart berichtet!«

»Auf den Abend ist der Oetsch wieder aus den Bergen zurück und steht zeitig vom Diner auf und geht in sein Zimmer, wie er hört, der Pater Faramund wird erwartet!«

»Ja.«

»Eine oder zwei Stunden darauf, während der Oetsch in seinem Zimmer vor dem Aufbruch zur Jagd schläft, kommt ein falscher Pater Faramund, begibt sich zu der Baronin Safferstätt, bleibt lange Stunden betend und Beichte hörend bei ihr und wird von Ihnen spät in der Nacht auf dem Rückweg gesehen ...«

»... wie ihm die Poletta in sein Zimmer leuchtet! Gewiß!«

»In das Zimmer neben dem Oetsch! Morgens, während der Pater noch unsichtbar ist und nach den Anstrengungen tief in den Tag hinein schläft, kommt der Oetsch von der Jagd zurück und zum Vorschein!«

»Da hab' ich ihn selbst vor dem Schloß gesprochen!«

»Dann ist er in sein Zimmer gegangen und hat sich ermüdet, nach der durchwachten Nacht in den Bergen, für den Vormittag schlafen gelegt und ist also unsichtbar geworden!«

»Und ich bin mit den Herren auf die Jagd.«

»Bald darauf ist an diesem Vormittag, während der Oetsch schlief, aus dem Zimmer nebenan der Pater Faramund herausgekommen und hat erst im Park sein Brevier gebetet und ist dann wieder zu der Baronin Safferstätt hinaufgestiegen, um ihre Beichte weiter zu hören.«

»Ja«, bestätigte ich bang. »Das hat meine Frau selber beobachtet!«

»Kurz vor Mittag ist der Pater von dort in sein Zimmer zurückgekehrt und hat dem Laquaien Gaißböck Weisung gegeben, er bedürfe geistlicher Sammlung und wünsche strengstens, den ganzen Nachmittag hindurch nicht gestört zu werden!«

»So hat es mir der Haushofmeister gemeldet.«

»Gleich nach Mittag, während man den Pater Faramund nicht stören durfte, hat sich dann wieder im Zimmer nebenan der Graf Johann Preisgott Oetsch, so wie er morgens Weisung gegeben hat, wecken lassen, ist unter uns erschienen und hat den ganzen Nachmittag in unserer Mitte verbracht.«

»Ja«, erwidere ich. Es lief mir kalt über den Nacken herunter.

»Abends um sechs Uhr gedachte der Graf Oetsch wieder auf die Jagd zu gehen!«

»Kein Zweifel! Die Absicht hat er mir und auch dem Haushofmeister Rubesoier geäußert!«

»Und eine Stunde später, sobald der Oetsch über alle Berge war, abends um sieben Uhr, wollte der Pater Faramund nebenan erst wieder gestört sein und ein frugales Abendbrot bekommen!«

»Ja«, sage ich entsetzt.

»Mit anderen Worten: Es sind da zwei Zimmer nebeneinander. Es kommt immer abwechselnd durch die eine Tür der Graf Oetsch, durch die andere der Pater Faramund heraus. Aber niemals beide gleichzeitig!« sagt der Herr von Söller. »Und es ist dem Grafen Oetsch, gemäß seiner Gepflogenheit, sich aus Rücksicht auf die Nachtruhe der anderen Gäste häufig seines ebenerdigen Fensters zum Aus- und Einstieg als Weg in das Freie zu bedienen, ein leichtes, vor unseren Augen auf die Jagd zu gehen und bald darauf, von uns allen unbemerkt, in der Dunkelheit durch den Park zurückzukommen. Gleich darauf erscheint dann regelmäßig der Pater.«

Ich stand langsam auf. Die anderen Herren, die noch saßen, auch ...

»Nun tritt von außen her, durch einen Dritten, die verhängnisvolle Störung in diesem Wechselspiel ein!« fährt der Herr von Söller fort. »Die Baronin Safferstätt hat dem vermeintlichen Pater Faramund ihre Schuld gebeichtet. Ihrem Mann war das ein Dorn im Auge. Wie dem sein Gewissen aussah, das sehen wir aus der Kugel, die er sich in den Kopf geschossen hat. Er wollte nicht, daß außer seiner Frau und ihm noch ein Mensch von dem Geschehenen wüßte. Wie sie nicht nachgab und weiterbeichten wollte, ist er hinunter zu dem Pater Faramund, um den durch Drohungen oder Bitten zu bewegen, die Beichte abzubrechen. Gegen den Einspruch des Laquaien Gaißböck ist er um vier Uhr nachmittags beinahe gewaltsam bei dem Pater eingedrungen. Komisch: Das Zimmer, in dem der Hochwürdige doch der Beschaulichkeit pflegen wollte, war leer! So leer wie das Zimmer des Oetsch nebenan, der um diese Zeit bei uns drüben in der Halle saß! So leer, als ob es niemals irgendeinen Pater Faramund gegeben hätte ...«

»Ja ... aber ... Herr von Söller ...« sag' ich und weiß dabei gar nicht, was ich reden soll. Er läßt mich auch nicht zu Wort kommen.

»Während also der Pater Faramund unsichtbar ist, sitzt der Graf Oetsch, wie eben bemerkt, in unserer Mitte und erzählt uns seine Gespenstergeschichten – nicht wahr?«

»Ja.«

»Drüben aber, im Zimmer neben dem seinigen, sitzt unterdessen der Baron Safferstätt und wartet auf den Pater Faramund, und der kommt und kommt nicht und will nicht erscheinen, und die siebente Abendstunde, in der er sein Abendbrot haben wollte, rückt schon heran, und er bleibt spurlos wie in Luft vergangen. In der Halle aber sitzt der Graf Oetsch.«

»Ja.«

»... und ahnte natürlich nichts von dem Gast im Zimmer des Paters Faramund, bis er sich nach sechs Uhr von uns verabschiedete, in sein Zimmer ging und dabei vom Flur aus mit lebhaftem Unmut, wie der Laquai Gaißböck berichtet, nebenan durch die offene Türe den Baron Safferstätt im Zimmer des Paters Faramund sitzen sah!«

»Ja.«

»Er frug den Bedienten, was der Baron denn da wolle, und hörte, daß Herr von Safferstätt schon seit Stunden hier auf den Pater Faramund warte und durchaus nicht das Zimmer räumen wolle, bevor jener käme, und ist dann in sein eigenes Zimmer gegangen und hat zornig die Türe ins Schloß geworfen!«

»Ja.« »Der Graf Oetsch hat sich dann zur Jagd angezogen und fertig gemacht. Aber er ist, entgegen seiner Gewohnheit, nicht gleich in aller Eile fort, sondern ist unschlüssig dageblieben und unruhig und ungeduldig in seinem Zimmer auf und ab gegangen!«

»Ich bin selbst gegen acht Uhr zu ihm hinein, auf der Suche nach dem Pater Faramund!« sage ich. »Da war der Oetsch zu meinem Erstaunen noch da und hat mit umgehängter Büchse am offenen Fenster gestanden und entschuldigend gemeint, er sei wegen des Regens noch nicht draußen im Gebirge!«

»Und im Zimmer nebenan hat nach wie vor der Baron Safferstätt gesessen und, wie es scheint, durch seine bloße Anwesenheit verhindert, daß in dem Zimmer der Pater Faramund wieder auftaucht, nachdem der Graf Oetsch endlich auf die Jagd gegangen ist!« versetzt der Söller.

Ich habe nicht mehr antworten können. Der Landrichter fügte hinzu:

»Der Graf Oetsch hat sich vorher noch, während er sich zur Jagd rüstete, Mühe gegeben, Ihnen, Rittmeister, das Verschwinden des Paters zu erklären ...«

»Er hat höhnisch zu mir gemeint,« rief ich, »das wäre wohl eine Kreatur der Mette Safferstätt gewesen und jetzt wieder längst über alle Berge!«

»Und Sie haben's geglaubt?«

»Nur so lange, bis gleich nachher die Mette meiner Frau auf das Kruzifix schwor und ihr Mann mir beteuerte, das sei in Wahrheit der Pater Faramund gewesen! Da haben wir angefangen, überall in Schloß und Umgebung nach ihm zu suchen!«

»Und habt's keinen Floh von seiner Kutte gefunden!« sprach der Herr von Söller. »Und während ihr den Pater Faramund unten im Schloß suchtet, war der Graf Oetsch die Nacht durch auf die Jagd oben in den Bergen.«

»Ja.«

»Den ganzen gestrigen Tag, den Sonntag, ist der Oetsch unter uns hier im Schloß gewesen. In der Zeit hat sich vom Pater Faramund nichts gezeigt!«

»Nein.«

»Auf die Nacht ist der Oetsch wieder zur Jagd hinaus. Wir haben ihn weggehen sehen. Ob er hinterher heimlich wieder durch das offene Gartenfenster in sein Zimmer zurück ist, das wissen wir nicht!«

»Nein!«

»Jedenfalls ist ein paar Stunden darauf der Pater Faramund, von der Beichte der Baronin Safferstädt kommend, uns allen auf der Wendeltreppe erschienen!«

»Ja.«

»Gleich darauf hat er sich wieder in Luft und Nichts aufgelöst. Er war weder in seinem Zimmer, als Sie und Ihre Gattin ihn da suchten, noch sonstwo. Auch das Zimmer des Grafen Oetsch nebenan war leer. Der Graf Oetsch war nun wirklich, während wir noch drüben dem Baron Safferstädt die Pistole entwanden und ihn zur Ruhe brachten, hinaus in die Nacht und das Gebirge. Und dann? Seitdem blieben beide, der Graf Oetsch und der Pater Faramund, jeder in seiner Gestalt, verschwunden!«

Der Landrichter schloß. Keiner redete eine Silbe. Alle schauten auf mich. Ich war schließlich der Hausherr. Unter meinem Dach begab sich der Spuk. Ich mußte das Wort nehmen. Ich konnte kaum. Meine Kehle war trocken. Ein ungeheures, unbestimmtes Grauen schnürte sie mir zusammen. Endlich begann ich:

»Wenn, wie Sie, Herr von Söller, meinen, der Johann Preisgott Oetsch sich Leib und Hülle des Paters Faramund geborgt hat – warum hat er's getan?«

»Das fragen's noch?« sprach der Richter von Söller. Er schaute die Anwesenden der Reihe nach an. »Ihr Herren: in dieser Stunde – Hand auf's Herz: waren wir nicht alle, wie wir hier stehen und sitzen, und ebenso die ganze Welt draußen, heimlich überzeugt und haben es dem Grafen Johann Preisgott Oetsch schon zugetraut, daß er, um aus seinen Schulden herauszukommen und die Familiengüter zu erben, seinen älteren Bruder Peter-Paul aus dem Wege geschafft hat, wenn ihm auch die gerichtliche Untersuchung nichts hat nachweisen können?«

Ein Schweigen bejahte.

»Mag nun auch der Graf Oetsch mit uns anderen Menschen zeitlebens sein spöttisches Spiel getrieben und uns für Schwachköpfe und Böotier eingeschätzt haben,« sprach der Ritter von Söller sehr ernst, »trotzdem, meine Herren: der Verdacht des Brudermordes trägt sich auch für einen Nekromanten und Magus des Nordens wie den Grafen Oetsch nicht leicht!«

»Wenn er sich unschuldig weiß – freilich!«

»Er wußte sich unschuldig. Er fahndete nach dem Schuldigen. Sein Bruder Peter-Paul war ein halber Heiliger. Ein Selbstmord war also ausgeschlossen. Er hatte draußen in der Welt keine Feinde. Also kein Mord aus Rache. Auch kein Raubmord. Denn man fand alle Wertsachen bei der Leiche. Wer also war es? Graf Johann Preisgott – das wissen wir – pflegt immer genau entgegengesetzt zu denken wie alle anderen Menschen ...«

»Ja, wahrhaftig ...«, pflichtete ich bei.

»Kein Mensch auf der Welt hegte den leisesten Verdacht gegen die Gräfin-Witwe, die jetzige Frau von Safferstätt. Grund genug für den Oetsch, gerade gegen sie und ihren jetzigen, zweiten Mann Verdacht zu schöpfen!«

»Weiter ...«, sagte ich mechanisch. Ich ließ mich nur noch von dem Landrichter von Söller führen.

»Nähern konnte er sich seiner Schwägerin nicht. Denn auf ihm lastete ja die Schuld, ihren Mann ermordet zu haben. Also umlauerte er sie heimlich. Sie hatte eine Jungfer Poletta, die ihr Vertrauen genoß ...«

»Ihr volles Vertrauen ...«

»Das Mädchen ist schwarz wie der Teufel und hitzig von Geblüt und schwärmerisch veranlagt. Nun, meine Herren, das geheimnisvolle Treiben der Haberer in unseren bayerischen Bergen hat leider etwas an sich, was zur lebhaften Einbildungskraft des Volkes spricht. Diese von den Behörden meist vergeblich gesuchten Rinaldos aus dem Untersberg mit ihren geschwärzten Gesichtern erscheinen empfindsamen Weibern von niederem Stand wie der Poletta im verklärten Licht der Räuberromantik.«

»So ist es!« sagte ich.

»Es war für der ihren Xaver, den im Volk viel genannten Haberfeldmeister, den Fröschel von Hub, nicht schwer, mit der leichtgläubigen Poletta ein Verhältnis anzuknüpfen und sie zu betören!«

»Die Mette Safferstätt hat meiner Frau selbst geklagt, daß das Mädel nicht von dem Banditen abließ!« sprach ich.

»... und mir,« fuhr der Herr von Söller fort, »hat die Poletta gestanden, daß ihr Liebster bei ihrer letzten Zusammenkunft in München sie fleißig nach ihrer Herrschaft ausgefragt habe, und daß sie ihm erzählt habe, was ihr die gesagt hatte: daß sie in nächster Zeit nach Vogelöd gehen und dort den Pater Faramund treffen würde, für den die Poletta die Briefe nach Italien und später nach Maria Stern selbst auf die Post getragen und dessen Antwortbriefe sie gesehen und über den ihre Herrin sich oft mit ihr beim Frisieren des näheren unterhalten hatte!«

Wir hielten alle das Maul. Der Ritter von Söller hatte das Wort. Er sagte:

»... Daß der Mann, dem die Poletta in ihrer Liebesseligkeit gemeldete Konfidenzen machte, in Wahrheit nicht der Fröschel von Hub war, ist nach der gestrigen Depesche der Münchener Polizei an mich erwiesen. Denn der wirkliche Fröschel von Hub befand sich an jenem Tag langst wieder hinter Schloß und Riegel!«

Er wies das Telegramm vor. Da war kein Zweifel.

»Nehmen wir einmal an, dieser Herr Haberfeldtreiber sei in Wahrheit der hochgeborene Graf Johann Preisgott Oetsch gewesen,« begann der Landrichter wieder, »so war es für ihn ein leichtes, sich schon Wochen vorher, um nicht Verdacht zu erwecken, bei Ihnen, mein teurer Herr von Vogelschrey, zur Hirschbrunst zu Gast zu laden und das inzwischen beschaffte Habit der Religiosen von Golgatha im Koffer mitzubringen!«

Ein Schweigen.

»Nun kommt, nach vierzehn Tagen, auch die Baronin von Safferstätt an. Graf Oetsch weiß durch die Poletta: sie will dem Pater Faramund beichten. Aber er weiß auch, daß ein solches Geständnis von ihr an den Priester ihn, den Oetsch, noch durchaus nicht unbedingt von dem Verdacht des Mordes entlastet. Denn die Beichte ist das Grab. Er kann nicht ermessen, welche Sühne der Pater Faramund der Baronin Safferstätt auferlegen wird ... Vielleicht daß sie sich auf Lebenszeit in ein Kloster zurückzieht ... Er vermag da gar nichts vorauszusehen, denn die näheren Umstände der Tat und das Maß der Schuld der Baronin Safferstätt sind ja ihm, dem Grafen Oetsch, selbst noch unbekannt!«

Wir schwiegen und horchten. Der Ritter von Söller verstärkte seine Stimme: »Dem Grafen Oetsch brachte keine Beichte seiner Schwägerin bei einem Priester Befreiung, der schwieg, weil er eben ein Priester war. Befreiung brachte ihm nur die Beichte seiner Schwägerin bei einem Priester, der mit ihrem Geheimnis in seiner Brust zu den Menschen hinausging und es laut verkündete und sie öffentlich anklagte, weil er eben in Wahrheit kein Priester und nicht an das sigillum confessionis gebunden war. Darum entschloß er sich, sich in den Pater Faramund zu verwandeln, um die Baronin Safferstätt zu entlarven.«

Stille umher. Die Stimme des Herrn von Söller: »Darum gab er, am Mittag nach ihrer Ankunft, als Älpler, wie er auf die Jagd ging, gekleidet, drüben im Kloster den Brief mit dem Wappen des Schlosses Vogelöd und in der dem Pater Faramund unbekannten Handschrift des Herrn von Vogelschrey ab – den Brief, in dem der Pater gebeten wurde, noch nicht zu kommen!«

Der Ritter von Söller machte eine Pause. Dann fuhr er fort: »Der Graf Oetsch wußte, daß sein Vetter, der Pater, kränklich war und, um sich durch Treppensteigen nicht zu ermüden, ein Zimmer zur ebenen Erde erhalten würde. Er erbat sich gleich bei seinem Eintreffen ein ebensolches, um bei seinem Aufbruch zur Jagd vor Tau und Tag nicht Gäste und Dienerschaft zu stören, sondern nach seiner abenteuerlichen Art durch das Fenster ins Freie gelangen zu können. So bekamen er und sein Doppelgänger zwei Zimmer nebeneinander. Denn die anderen Räume in dem Flügel waren von mir und den anderen Gästen besetzt.«

Der Herr von Söller sprach jetzt kurz und rasch, und seine Worte klangen, als fielen Hammerschläge hart hintereinander auf den Amboß. »Am Abend spät stand er im Mondschein als Pater Faramund am Tor. Er ging zu der Baronin Safferstätt und hörte in dieser Nacht den Anfang ihrer Beichte. Er vernahm am nächsten Vormittag, während wir alle auf der Jagd waren, ihre Fortsetzung. Ehe er zum Schluß der Beichte gelangen konnte, kam die Angst und Wut des Barons Safferstätt dazwischen, der sich, um eine Vollendung des Geständnisses zu verhindern, drohend unten im Zimmer des Beichtvaters festsetzte und auf ihn wartete und so dem Grafen Oetsch die Möglichkeit nahm, sich wieder in den Pater Faramund zurückzuverwandeln!«

»Und doch tat er es am nächsten Abend!« sprach ich.

»Er tat es,« sagte der Landrichter, »weil er sah, daß wir alle steif und fest an den Pater Faramund glaubten und seit vierundzwanzig Stunden vergeblich nach ihm suchten. Da entschloß er sich zu dem Wagnis, noch einmal dessen Gestalt anzunehmen und der Baronin Safferstätt in der Schlußbeichte das letzte Restgeständnis ihrer Schuld zu entreißen. Als er auf dem Rückweg unversehens am Fuß der Wendeltreppe auf uns stieß und wir alle ihn sahen, da war sein Vorhaben bis zu Ende geglückt. Er wußte jetzt von der Baron Safferstätt aus ihrem eigenen Munde, wer die Mörder seines Bruders waren, und konnte es allen Menschen draußen lns Gesicht rufen und vor Gericht beschwören ...«

Ich holte mein Sacktuch heraus und trocknete mir die Stirne. Der Herr von Söller schloß: »Seine Rache begann sich sofort zu erfüllen! Das Geheimnis lebte. Die Toten standen auf. Die Baronin Safferstätt war in seiner Hand, schon auf dem Weg zum Gericht. Ihr Mann und Mitschuldiger erschoß sich, während der Graf Oetsch drüben in seinem Zimmer zum letztenmal die Kutte ablegte und irgendwo verwahrte. Der Pater Faramund war nicht mehr vonnöten. Er hatte seine Pflicht getan. Er löste sich auf. Der Graf Oetsch ging an seiner Stelle zum letztenmal hinaus in die Berge. Er wollte keine Zeit verlieren. Für heute morgen hatte er sich schon den Wagen bestellt, um nach München zu reisen und durch eine Anzeige bei Gericht das Urteil gegen seine Schwägerin zu vollstrecken!«

Der Rentmeister trat heran.

»Was bringen's, Herr Mitterhuber?«

Der dicke Mann schnaufte, so hurtig war er vom Schloßflügel herüber in die Halle gesprungen.

»Möchten der Herr Rittmeister nicht gerad' mal schnell in das Zimmer des Paters Faramund kommen? Der Wappolt tät' schön bitten ... Er hat mit seinem Spürhund, dem Teifi, wieder einmal in dem Schloß nach dem Pater umeinandergestört ...«

»Da kann er lange suchen!« sagte ich, während ich mit dem Höllring, dem Tettikon und noch ein paar andern den Korridor entlang ging.

»Merkwürdigerweise nimmt der Hund, der Spitzbub', die Spuren im Haus nur noch schwach auf ...«

»Weil's alt sind, mein Lieber!« antwortete statt meiner der Landrichter. »Schon von gestern abend!«

»Hingegen ist der Teifi aus dem Zimmer des Paters nicht herauszubringen und wimmert und kratzt am Boden!«

»... und da möchte ich den Herrn Rittmeister fragen, ob wir ein paar Dielen aufheben dürfen!« ergänzt der Forstmeister Wappolt, der mitten in dem Raum steht.

»Wegen mir! Lassen's aus der Sägmühl' ein paar Zimmerleute holen!«

»Tut nicht not! Wir haben den Schrank beiseite gerückt, der vor der Verbindungstür zwischen den beiden Zimmern steht. Er ist leer und leicht zu bewegen und ist in letzter Zeit jedenfalls oft herumgeschoben worden!«

»Woran merken's das?«

»... weil der Staub, der sich immer unter solch einem Schrank ansammelt – die Schlampen, die Zimmermädel, kommen da ja nie ordentlich mit dem Besen hin – weil der von Stiefelabdrücken ganz zertreten ist!«

Der Forstmeister, der von Beruf gewohnt war, Spuren auf der Erde zu lesen, bückte sich und wies auf die Wandleiste am Boden.

»Hier am Rand fehlt der Staub völlig. Man sieht: da sind zwei Dielenbretter schon losgelöst und gelüftet. Man kann sie mit zwei Fingern, wenn man in den Zwischenspalt faßt, in die Höhe heben!«

Der Teifi hockte in der Mitte, schnupperte und scharrte und stieß aufgeregte Töne aus, als wollte er drängen: So macht's doch schon, ihr faden Kerl'! So macht's!

Die Bretter fielen staubwirbelnd zur Seite. Weißgelb schimmerte die Kiesschüttung zwischen den Balkenlagern. In dem rechteckigen Hohlraum, den sie freiließen, lag in sich gebogen und ineinandergefallen etwas Schwarzbraunes, wie die Leiche eines Mönchs.

»Jesus, Maria, Josef! Der Pater Faramund!« schrie der dicke Mitterhuber. Der Forstmeister trat zurück und bekreuzigte sich. Sein Hund war in die Höhlung hinuntergesprungen, faßte das Bündel – so leicht konnte kein Mensch sein! – schwang, es in den Zähnen haltend, sich wieder nach oben und apportierte seinem Herrn die leere Kutte des hochwürdigen Ordensmannes und dann die beiden losen Schuhe und dann ein Futteral mit goldener Brille und dann ein schwarzes Hauskäppchen für die Tonsur und dann ein großes silbernes Kruzifix an einer Kette von welschen Wassernüssen.

Ich hab' nicht erst abgewartet, was der Köter da noch alles an geistlichem Rüstzeug ans Tageslicht bringen möcht'. Zusammen mit dem Mantel und dem Hut, die noch im Zimmer in der Ecke hingen, war die Ausstattung des Paters Faramund jetzt fein beisammen. Meine Herren Beamten standen da wie die Hühner, wenn's donnert. Sie waren wie vor den Kopf geschlagen. Ich für meinen Teil wußte genug. Ich ging weg. In der Halle sah ich, daß draußen vor dem Portal ein leerer Wagen hielt. Der Haushofmeister trat, das dickbäckige alte Hamstergesicht ganz schlaff vor neuer Besorgnis, auf mich zu.

»Herr Rittmeister! Der Herr Graf von Oetsch hatten zu heute morgen eine Equipage zur Abfahrt befohlen.«

»Dasselbige weiß ich, Rubesoier!«

»Die Equipage wartet schon eine Stunde über die angesagte Zeit. Der Herr Graf kommen nicht zum Vorschein. Der Herr Graf sind auch nicht in seinem Zimmer noch sonst im Schloß. Der Herr Graf sind noch nicht wie sonst um die Frühmesse herum von der Jagd zurückgekehrt ...«

»Er ist zurück!« sagt neben mir der Landrichter von Söller, der mir gefolgt war.

»Wo ist er?« schrei' ich und weiß in meiner Verwirrung nicht mehr, was ich red', und fühl' nur undeutlich, daß das ein Unding ist, daß ich erst noch lang nach dem Oetsch frag', und daß ich mir die Frage von selber beantworten könnt', – da nimmt mich der Ritter von Söller und führt mich beiseite, daß uns der Haushofmeister nicht hört, und spricht:

»Wenn der Oetsch und der Pater Faramund eins sind und der Pater Faramund und der Filzenschuster auch, dann ist der Oetsch halt auch der Filzenschuster gewesen – der Schluß ist klar – und ist aus den Bergen zurück und liegt drüben tot beim Alten Wirt auf dem Tisch!«

Der Landrichter fuhr fort: »Der wahre Filzenschuster hat seit Wochen mit einer königlichen Kugel im Bein fern von hier auf einer Alm am Watzmann verborgen gelegen. Und inzwischen fielen hier Ihre schönsten, ängstlich gehüteten Hirsche – denn ein bißchen schußneidisch sind Sie schon, lieber Rittmeister, und haben darin ganz recht – also fielen Ihre stolzesten Kapitalhirche Nacht für Nacht, trotz aller Mühe, die sich der Graf Oetsch draußen in den Bergen mit den Wilderern gab, einem großen Unbekannten zur Beute. Und je hitziger der Herr Graf auf die Berge hinaufstieg, desto sicherer traf dort oben der sogenannte Filzenschuster!«

»Um Gottes Willen!« ruf' ich und greife mir mit den Händen an den Kopf. Der war mir wüst und wirr. Ganz leer war er mir in dem Augenblick. Der Haushofmeister hat sich mir genähert. Um ihn loszuwerden, sag' ich: »Schicken's die Gäule nur wieder in den Stall, Rubesoier! Der Herr Graf ist nicht mehr da. Er ist seit einer Stunde weg!«

»... und kommt nicht wieder?«

»Nein!« antworte ich wie betäubt. »Nein! ... Der kommt nicht wieder.«

Der Haushofmeister verbeugt sich und geht. Ich stehe noch in der Halle, da tritt zu mir der alte Domestik Baptist, der dem Oetsch drüben im Gästeflügel aufgewartet hat. Ich bin ungeduldig, werde ganz wild:

»Was hast denn du?«

Der Baptist Gaißböck trägt respektvoll etwas Weißes auf einem silbernen Tablett.

»Einen Brief von dem Herrn Grafen Oetsch!«

Jetzt ist mir doch das Blut zu Kopf gestiegen und dann wieder herunter, daß mir ganz schwindlig vor den Augen geworden ist:

»Treib du deine Narrenspossen wo anders!« sag' ich zu dem alten Depp von Lakaien. »Der Herr Graf schreibt keine Briefe mehr!«

»Wohl, wohl, gnä' Herr! Da ist der Brief!«

»Wann hat er ihn dir gegeben?«

»Gestern abend, nach dem Gebetläuten, und hat mir streng angeschafft, ich soll den Brief erst abgeben, wenn er, der Herr Graf, heute morgen seit einer Stunde weggefahren ist. Nachdem der gnä' Herr dem Haushofmeister gesagt haben, der Herr Graf hätten vor einer Stunde das Schloß geräumt, bringe ich den Brief!«

»Gib her und schau, daß d' weiter kommst!«

Meine Hand zitterte, als ich den Brief an mich nahm. Ich mußte mich setzen, ehe ich ihn öffnete.

»Schau mir über die Schulter und les' mit!« sprach ich zu dem königlichen Kämmerer von Höllring. »Mir graust vor der Post aus dem Jenseits!«

Und der Höllring stellte sich hinter mich, und ich las die phantastisch verschnörkelten, wie kabalistische Zeichen ineinander verschlungenen Schriftzüge des Oetsch.

»Lieber Poldl! Heute abend bringe ich das zu Ende, weswegen ich dir und der Frau Centa unters Dach gekommen bin. Morgen früh bin ich über alle Berge.

Was es ist, wirst du bald erfahren, wenn der Landrichter mit den Gendarmen in Vogelöd erscheint und meine Frau Schwägerin samt Herrn Gemahl wegen Mords gleich mit sich nimmt. Es tut mir leid, daß das bei Euch geschieht. Aber die beiden haben sich selber den Ort für ihr Strafgericht ausgesucht. Seit vierzehn Tagen warte ich bei Dir auf sie.

Das Warten ist langweilig genug gewesen. Du und die Centa, Ihr seid viel zu gut und fromm für einen, der wie ich mit dem Teufel auf Du steht, und an Deinen Gästen wird einmal der heilige Petrus im Himmelreich seine Freude haben, aber langweilig sind sie in ihrer Gerechtigkeit zum Umkommen, und ich muß Euch gottseeligen Leute ein wenig aufmischen und umeinandertreiben, sonst ist mir nicht wohl in meiner Haut. Ich bin halt so.

Poldl: einen einzigen Fehler hast Du von jeher, seit ich Dich kenn'! Ist nur ein Schönheitsfehler: Du sparst zu sehr mit Deinen Hirschen und Gamsböcken. Du ladest Dir die Leute zur Jagd ein und bringst ihnen dann nur das G'lump vor die Büchse, und die Kapitalböcke, die schießt der Herr Rittmeister mit seinem Anderl vorher oder hinterher, wenn die Luft von Gästen rein ist, höchst eigenhändig für sich.

Gleich am ersten Abend, wie ich vor vierzehn Tagen gekommen bin, haben sie unten in der Halle in Deiner Abwesenheit darüber geschimpft, und der Professor Langpointner hat in seinem Verdruß gesagt: ›Ich wollt nur, dem guten Rittmeister käm' einmal der Filzenschuster oder sonst ein zünftiger Wilderer ins Revier und räumte unter seinem Bestand auf, damit er merkt, daß die Platzhirsche nicht für ihn allein auf der Welt wachsen!‹

Du – das hab' ich mir gesagt sein lassen! Das war ein Wink, die vierzehn Tage passabel hinzubringen, vor denen mir sonst vor Langeweile gegrault hat. Am Ende der vierzehn Tage stand die wichtigste Entscheidung meines Lebens, wegen der ich – ein Kerl wie ich! – ganz brav zu Euch zu Familienbesuch gekommen bin. Ich hab' gefiebert. Ich hab' einen Zeitvertreib gebraucht.

Vom nächsten Tage ab hat der Filzenschuster angefangen, bei Dir zu spuken, und Dir, damit Du nur ja weißt, wer's ist, auch noch ein paar recht freche, unorthographische Zetterln geschrieben. Du: der Malefizkerl hat schon gut geschossen! Ich habe mir die ganzen vierzehn Tage jede Nacht Mühe gegeben, ihn zu fangen. Immer umsonst! Gift' Dicht nicht, Poldl! Weißt jetzt, warum! Lach' lieber hinterher! Es hilft Dir ja jetzt nichts mehr. Und vielleicht ist's Dir eine gute Lehre.

Also: wo der Filzenschuster zurzeit herumstreunt, das weiß ich selber nicht. Wenn sie ihn einmal fangen, hat er schon genug auf dem Kerbholz. Brauchst ihm nicht auch noch Deine Hirsche auf den Buckel zu packen. Das war ein anderer. Die paar schönen Geweihe gönnst Du mir schon! Du bist ja ein guter Kerl. Ich hänge sie mir in Pfaffenrod auf. Jetzt, wenn ich dem Bedienten den Brief übergeben habe, gehe ich zum letztenmal heut abend in die Berge. Morgen früh bist Du mich und meinen Schabernack für immer los. Denn ich fürchte immer: mich ladest Du nicht sobald wieder ein, Dir jagen zu helfen!

Und jetzt kommt in Dein Haus der Ernst, Poldl! Der ganze böse Ernst. Ein frommer Mann wie Du muß es das Gericht Gottes über zwei Todsünder nennen, die unter Deinem Dach wohnen. Da denkt man nicht mehr an die Narrenspossen von dem Filzenschuster. Handkuß der Centa! Bete, Poldl! Bete! Dein Johann Preisgott.«

Ich steckte den Brief ein und sagte nichts und ging wie ein Nachtwandler am hellen Tag wieder vom Schloß am Platz vor der Kirche vorbei hinüber zum Alten Wirt, wo der Tote lag. Mein Freund Höllring hielt mit mir gleichen Schritt und versetzte: »Der Oetsch hat immer in Verwandlungen und Verwechslungen gelebt. Er ist von einer Haut in die andere geschlüpft. Er rühmte sich – und es ist von anderen bestätigt –, daß er in den Karlistenkriegen als spanischer Priester verkleidet durch die Reihen der Regierungstruppen gegangen sei ...«

»Wie jetzt als Pater Faramund ...«, sagte ich.

»... und im Feldzug der Spanier in Marokko als Araberscheich inmitten der Horden der Rifkabylen!«

»So wie jetzt als Filzenschuster ...«

»Und das war seine letzte Verkleidung hier auf Erden!«

Ich schwieg. Aber als wir vor dem Wirtshaus standen, begann ich:

»Ja und doch ... Ich begreife nicht ...«

»Was denn, Herr Rittmeister?«

»Da drinnen liegt doch der Pater Faramund ... der Doppelgänger ... so wie wir ihn sahen: bartlos ... ältlich ... und nicht der Oetsch ...«

Aber als wir den Saal betraten, da schlief, auf dem Tisch ausgestreckt, doch der Johann Preisgott Oetsch den ewigen Schlaf. Die Perücke des Wilderers war abgestreift. Das Tageslicht schien hell auf sein kurzes, dunkelblondes Haar. Der lange, blonde Schnurrbart starrte wieder abenteuerlich aus dem hageren, geheimnisvollen Gesicht, dessen rechte, unversehrte Seite wir vor uns hatten, und diese zurückgewonnene Bartzierde gab dem Antlitz einen ganz anderen Charakter und ließ es wieder, gesäubert, unentstellt und in der warmen Sonnenhelle, die es mit trügerischem Leben überflutete, viel jünger und in den kennzeichnenden, feierlich gewordenen Linien des Oetsch erscheinen, wie wir alle ihn kannten und zu unserem Kreise zählten und doch zeitlebens eine unbestimmte Scheu vor ihm nicht los wurden.

»Er hat sich den Schnurrbart abnehmen lassen müssen, um einem Mönch zu gleichen,« sagte der Landrichter von Söller, der daneben stand, »und ihn seitdem als künstlichen Bart getragen – so wie ich ihn jetzt in seiner Tasche gefunden habe – wenn er nicht diesen falschen Bart schon seit Jahren getragen hat, um so uns anderen, nach seinen verrückten Launen, als Spiegelbild und Doppelgänger aller möglicher Menschen zu erscheinen!«

Wir schauten auf den Toten, und da flössen uns jetzt alle drei, der Haberer, der Fröschel von Hub, und der Wilderer, der Filzenschuster, und der Priester, der Pater Faramund von Golgatha, zu einer einzigen Gestalt zusammen und wurden zum Bild des Grafen Johann Preisgott Oetsch.

Und ich dachte daran, daß der Oetsch ja gesagt hatte, man könne nicht sterben, und daß er jetzt also vielleicht schon wieder in einer neuen Daseinsform auf dieser armen Erde herumwandelte und des Todes spottete, und ich fühlte dann doch: Der Tod ist stärker als alles, auch als der Johann Preisgott Oetsch, und wußte: Sein dunkles, wirres, von Dämonen gehetztes Leben war hinüber zur ewigen Ruh', und ich faltete die Hände und sprach das erste Sterbegebet für seine arme Seele ...


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