Charlot Strasser
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Charlot Strasser

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Fohrer hatte, noch in den Zwanzigerjahren, immerhin beschlossen, er sollte es mit der Liebe versuchen. Wie der Säugling mit den Händen zu weben, mit der Stimme zu lallen, mit den Augen zu unterscheiden, mit den Beinen zu strampeln ausprobte. Anregend wirkte in handgreiflicher Nähe die Tochter seiner Logisfrau. Daß diese Jungfer, die Anna, sich bereits durch den ganzen Großstadtpfuhl gewälzt hatte, daß sie bis in die letzte Fiber verdorben und eine jugendliche Trinkerin war, bemerkte er vielleicht. Wollte es aber nicht gelten lassen. Möglicherweise gelüstete ihn eben nach einem derartigem Fegefeuer, wie er es dann durchschreiten mußte. Um sich ein für allemal ausgiebig zu verbrennen. Als gewarntes Opfer hernach aber doch sagen zu dürfen, daß auch er dem Versuche, der Versuchung, wie die Anderen zu freien, im Grunde nicht ausgewichen sei. Wäre es sonst denkbar gewesen, daß er am Laster so vorbeischielte? Er, der minder aus Bedürfnis, denn aus geistiger Bedürftigkeit sich bisher so reinlich gehalten hatte?

Die Anna hatte ihm mitgeteilt, daß sie guter Hoffnung sei. Hatte es auch vor ihrer Mutter nicht verbergen können. Es schien ihm unglaublich, gleichwohl glaubte er es. Er hörte eines Nachts die ewig gereizte Witwe brutal auf die Schwangere losdreschen, sie verwünschen und mit den entsetzlichsten Lästerungen schwören, daß der Bastard nicht zur Welt kommen würde. Fohrer gelobte sich, das Mädchen aus dem Sumpf zu heben. Er trat gegen die rabiate Zimmervermieterin auf. Beteuerte, der Vater des unerbetenen Gastes werden zu wollen, die arme Gefallene zu heiraten, sie glücklich zu machen.

Freilich verschwieg er seine Ersparnisse.

Er war männlicher, sicherer, tapferer als je. Er nahm seiner Wirtin die geistigen Getränke fort, sorgte für Ordnung in den Stuben.

Während eines Sonnenaufgangs wurde das Kind geboren. Niemand konnte davon wissen. Die Nachbarwohnung stand seit einem halben Jahre leer. Anna galt als an einem Lungenleiden erkrankt. Die Alte hatte dem Fohrer, dieweil die Wehen einsetzten, in rauschgieriger Berechnung Annas Pflege überbunden. Vermochte zu entschlüpfen, kehrte mit Branntwein zurück. Fohrer, viel zu unerfahren und unbeholfen, um von sich aus zu handeln, überdies eingeschüchtert durch die Drohungen der beiden Frauen, falls er sie verriete, suchte in fassungsloser Angst und Demut vor der blutigen Gewalt, mit der sich ein neues Leben Bahn ans Licht brechen wollte, die Qualen zu lindern. Ersann die undenklichsten Handreichungen. Betäubte sich an seiner meist überflüssigen, eigenen Geschäftigkeit.

Am dritten Nachmittag lief die durch Blutverlust und Schmerz wie irrsinnig gewordene Dirne, halb angekleidet, ins Freie. Wollte sterben. Sich ins Wasser stürzen. Sah sich bedroht, verfolgt. Heulte und tobte vor trunkener Verzweiflung. Fohrer und seine Wirtin atemlos hinter ihr her.

Es waren Zeugen für die Auftritte, die sich solcherweise auf der Straße in der Dämmerung, am Färbergraben abgespielt hatten. Daß sich diese Zeugen später über die Stunde widersprachen, täuschten, rettete die Kindsmörderin. Sie hatte wohl früher davon geredet, sie werde den Wechselbalg erwürgen, hätte es aber bei klarem Verstande nimmer vollbracht.

Nachdem sie von der Mutter und Fohrer unter beständigem Ringen nach Hause geschleppt worden war, ergriff sie, delirierend, plötzlich ein Kissen. Deckte es mit einer Flut von Flüchen über des Neugeborenen Köpflein.

Fohrer entriß ihr das Kissen. Die Alte stürzte sich auf ihn. Hämmerte mit ihren Fäusten auf seine Schläfen. Grauenvoll kämpften die drei zusammen. Jedes gegen das andere. Als sie nach einer Unendlichkeit, wie es Fohrer schien, erschöpft innehielten, lag der Säugling erstickt unter dem Bettzeug.

Fohrer entfloh dem fürchterlichen Tatort, sowie er das Unheil halbwegs erfaßt hatte. Irrte die ganze Nacht bei eisiger Kälte im Walde umher. Bezog aber am nächsten Abend, fast, wie wenn nichts geschehen wäre, eine von der bisherigen weit entfernte Kammer. Es dünkte ihn, er wisse nichts mehr vom Vergangenen. Etwas Unmögliches mußte geschehen sein. Jedoch, es wäre aufzehrend gefahrvoll gewesen, darüber nachzugrübeln.

Die Alte war am auf den Mord folgenden Morgen in kürzerer Frist nüchtern, als sie zum Rausche gebraucht hatte. Hastete zum Leichenbeschauer. Zeigte laut jammernd das Unglück an. Man faßte sofort Verdacht, verhaftete sie und Anna. Merkwürdiger Weise entschied die ungesäumt angeordnete ärztliche Untersuchung mit einer fehlerhaften Bestimmtheit, daß der Tod just eben zu der Zeit eingetreten sein mußte, als die Frauen und Fohrer nach den Zeugenaussagen draußen gesehen worden waren.

Fohrer, zur Verhandlung geladen, befand sich in einem verwunderlichen Zustand. Von dem freilich nur er alleine Kenntnis hatte. Er bildete sich ein, daß er nicht lebe. Nie gelebt habe. Daß die ganzen Szenen, erst im Zimmer des Untersuchungsrichters, dann vor dem Staatsanwalt und den Geschworenen unwirklich seien. Den Mord hatte er nur geträumt. Träume erzählte man nicht. Die anwesende Anna, die Witwe, der Untersuchungsbeamte, das Gericht waren leere Stühle, vor denen man vorbringen durfte, was man wollte. Stühlen berichtete man mit nichten die Wahrheit. Die Erinnerung an etwas Gräßliches war eine Täuschung. Was darüber redete, waren Stimmen. Wie sie die Irren im Narrenhaus hörten. Laut werdende Gedanken aus überreizter Phantasie. Die Weibsbilder hatten getrunken; Anna war über der Geburt irrsinnig geworden. Er war ihr mit der Alten zusammen nachgerannt. Zwei Stunden lang. Als sie nach Hause kamen, war das Kindlein gestorben.

Alle Kreuz- und Querfragen fruchteten nichts. Das Glück, wenn man so sagen will, war den Frauen geneigt. Es gelang nicht, weder sie, noch Fohrer in Widersprüche zu verwickeln. Der unbescholtene Ruf des Kanzlisten und seine Darstellung der Charaktere von Mutter und Tochter bewahrten diese vor Zuchthaus. Selbst die Frage nach fahrlässiger Tötung wurde von den Geschworenen verneint.


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