Charlot Strasser
Wer hilft?
Charlot Strasser

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II. Abend am Fenster

(Donnerstag)

Ich habe vergangenen Dienstag Abend gleich von 342 zu erzählen begonnen. Hatte ganz vergessen, zu berichten, wer ich bin. Was ich will.

Meine eigene Geschichte fängt unglaubhaft gewöhnlich an:

Die Kinder schreien nach Brot. Die Frau liegt im Wochenbettfieber. Ich verbringe den Tag auf der Schreibstube. Adressen tanzen vor meinen Augen. Mit dem verdienten Geld aber läßt sich nicht tanzen.

In einem Monat stehen wir auf der Straße. Werden auseinandergerissen. Zwar Hunger dürften wir nicht erleiden. Man wird jedes von uns in seinen Stall, an besondere Krippen verzetteln. Wie es eben das Gemeinwohl am billigsten zu stehen kommt. Die Betten, den Tisch, die Stühle und die paar Eßgeräte, die wir noch besitzen, behält der Hausherr.

In vier Wochen muß mir geholfen sein. Oder ich laufe Gefahr, der Versuchung zu erliegen. Bei der Post, beim Telegraph, bei der Bahn fragte ich an. Die Beamten schickten mir meine Offerten zurück. Man verlangte das Leumundszeugnis. Die liebe Gemeinde war doch verpflichtet, die Vorstrafe hinzuschreiben. »Betrug, Unterschlagung.« Das Verhängnis im Heimatspapier war blau angestrichen. Ein milderndes Wort machte sich nirgends geltend.

Mein Wegweiser beherrscht ein Straßenkreuz. Die vierte Richtung, die aus dem Dasein flüchtet, wollen wir einstweilen versperren. Bleiben die drei übrigen:

Die eine zeigt ein glänzend bezahltes Geschäft, vor dem mich der Himmel behüten möge.

Die andere führt in die brave, ersehnte, noch nie so heiß geliebte Arbeit. Ihr Pflaster ist durchlöchert von Vorurteilen der werten Zeitgenossen. Sie lehnen mich ab. Verabscheuen mich.

Die dritte schlage ich einstweilen ein. Aber sie gibt mir nichts zu beißen. Bis ich am Ziele bin. Es ist kaum Aussicht, daß ich's erreiche.

Wir vermögen zu Hause kein Licht. Zum Glück leuchtet Dienstag, Donnerstag und Sonnabend eine Straßenlaterne an mein Fenstersims. Ich kann gerade die Bleistriche unterscheiden.

Ein wirklich gutmeinender Inspektor der Fürsorgestelle für entlassene Sträflinge scheut keine Mühe, mir herauszuhelfen. Aber er nimmt um meinetwillen nichts als Abwinksignale wahr.

Dieser mein dritter Weg, ein lebhaft umworbener und letzten Endes nur einem einzigen sich öffnender Notausgang, findet sich dann, wenn es mir gelingt, meine Lage künstlerisch zu schildern. Wenn ich in einer volkstümlichen Novelle mein Zuchthäuslerschicksal dergestalt darzustellen vermag, daß weite Volkskreise auf die Schwierigkeiten hingewiesen werden, die dem aus der Strafanstalt Entlassenen entgegentreten. Und wenn ich die Wohltat der Schutzaufsicht klarlegen könnte.

Geschrieben habe ich schon viel. Gelesen auch. Gedacht nur zu viel.

Die Aufgabe ist harzig. Abgesehen davon, daß man gut geschrieben haben muß, handelt es sich hier um Wahrhaftigkeit. Und, wie ich glaube, um neue Gedanken. Aber die weiteren Kreise wollen zum tränenseligen Anfang und schmalzigen Schluß geleitet werden, die abgerundete Geschichte lesen, in angenehmer Spannung gehalten sein. Denn es scheint überflüssig, zu erzählen, was es bedeutet, ein paar Pfund Brot, Milch, Maccaroni, Nudeln und das bißchen Frieden im Haushalte, der durch die winzigen Alltagsmühsale so kläglich gefährdet ist, zu erstreiten.

 
*
 

Ich wüßte schon, wie man Gefühlchen, die weite Schichten ergreifen, anrührt:

 

Beispiel.

Ein armes, verstoßenes Stiefkind bekommt unablässig Prügel. Blau und grün wird es geschlagen. Und, als es größer geworden, einmal gegen die Stiefmutter aufmuckt, macht sie verleumderische Anzeige. Steckt den Knaben in die Besserungsanstalt. Zu den bösen Buben, die ihn vollends verderben. Man lernt allerhand Laster kennen. Bespricht künftige Diebstähle und Detektivabenteuer. Der gute Verwalter jedoch hält den Zöglingen so wunderschöne Abendandachten, daß die Saatkörner ins Herz des verhärtetsten Sünders eindringen müssen. Wenn auch die gesäte Saat noch lange nicht keimt.

Eines Tages verändert sich unser Knabe, wird ernst, fleißig und einem guten Meister in die Lehre gebracht. Dessen Tochter heißt Angelika. Nichtwahr, ein Engel. Sie ist so still und gut und rein, daß der Lehrling in geheimer Verehrung zu ihr aufblickt und sich gelobt, ein rechter Mann zu werden, ihre Gunst zu erringen. Auch bekundet sie offensichtlich Mitleid. Wenn der Meister grob und übelgelaunt ist, wenn ihn die Meisterin ohne Nachtessen ins Bett schickt, schiebt sie ihm ein Butterbrot mit Konfitüre ins Kämmerchen oder drückt ihm im Vorbeigehen verstohlen, innig die Hand. Sonst sprechen die beiden nie ein Wort miteinander.

Bis eines Tages zwei böse Buben aus der Korrektionsanstalt kommen und unseren Helden zu einem Trinkgelage einladen. Das Kartenspiel lehren sie ihn, sowie männliche Kraftausdrücke. Auch zeigen sie Geld, von dem sie nicht angeben wollen, wo sie es her haben. Leider findet unser Knabe an ihrem Treiben Gefallen. Muß wahrnehmen, daß Angelika ihn immer trauriger anblickt. Ihm auch kein Konfitürbrot mehr zuschmuggelt. Trotzdem vermag er sich nicht herauszureißen. Verliert erst noch beim Jaß, macht Ausgaben für Zigarren und Bier, Schulden bei den bösen Buben und hat Angst, daß sie ihn, wenn er nicht bezahlt, dem Meister verraten.

Das Verhängnis naht unabwendbar. Die Schlingel kundschaften aus, daß die Millionärsfamilie in der Villa am See in den Ferien ist. Überreden unseren Liebling, mitzutun. Er braucht nur Wache stehen. Beim Landhause werfen sie dem bellenden Hund ein Stück vergifteten Fleisches vor, das er unberochen frißt. Augenblicklich stirbt. Darauf klettert der kleinere dem größeren auf die Schultern, bis er das Fenster erreicht, drückt eine Scheibe ein, dringt ins Zimmer, räumt eine Kommode aus und erbeutet dreihundert Franken.

Unserem Jüngling zerspringt beim Aufpassen fast das Herz. Man will ihm fünfzig Franken zuteilen. Er nimmt nur so viel, als er den beiden schuldig ist und schleudert ihnen das Geld,. von Gewissensbissen zerrissen, vor die Füße. Dann läuft er, wie von Furien verfolgt, die ganze Nacht durch die Straßen der Stadt.

Als er am nächsten Tage Angeliken begegnet, erleidet er, um ihrer verweinten Augen willen die grausamste Strafe, zu der alles, was folgt, harmloses Kinderspiel bleibt.

Die bösen Buben verprassen ihr Geld. Fallen auf. Der Diebstahl kommt an den Tag. Der Verdacht richtet sich ohne weiteres gegen die beiden. Eingezogen, beteuern sie, daß unser Jüngling der Anstifter war.

Bei seiner Verhaftung wird Angelika bleich wie der Tod. Muß sich am Türpfosten halten.

Der Unselige faßt zehn Monate Gefängnis. Alle haben gegen ihn ausgesagt: die Meistersleute, die zwei Schlingel und der Verwalter der Besserungsanstalt. Nur Angelika beharrt treuen Sinnes, er könne nie und nimmer so schlecht gewesen sein.

Im Gefängnis kommt unser Freund zur Einsicht. Wird ein anderer Mensch werden. Das verübte Böse hundertfach gut machen. Führt sich musterhaft. Auch ist man lieb zu ihm. Direktor sowohl wie Pfarrer und Lehrer. Alle nehmen sich seiner an, reden oft und eindringlich mit ihm. Er leistet den Wärtern kleine Dienste. Erfährt manche Vergünstigung des inneren Leidens wegen, das auf seinen Zügen zu lesen steht.

Der Tag der Entlassung bricht an. Der Pfarrer hat längst an wohltätige Damen und Vereine geschrieben. Drückt beim Abschied unserem Jüngling einige Franken in die Hand, die er sich durch Flechten in der Zelle verdient hat. In der großen Stadt wird er vom Schutzaufsichtsinspektor mit strengen, doch liebevollen Worten empfangen. Der Jüngling erkennt dankbar, daß die Menschen einfach gut sind. Nach einigen Tagen angstvollen Wartens wird ihm mitgeteilt, er könne sich in seinem Berufe weiter ausbilden und zwar beim nämlichen Meister, der ihn schon früher zu sich genommen.

Angelika konnte nämlich um des Entgleisten willen keine Ruhe finden. War beim Inspektor erschienen und hatte mit ihm vereinbart, wie ihre Eltern dazu bewogen werden sollten, den armen Gefallenen aufzuheben. Das warmherzige Werk gelingt.

Angelika duldet nicht, daß Nebenarbeiter je eine Bemerkung über unseres Jünglings Vergangenheit äußern. Sie weist einmal zornsprühend einem Gesellen die Türe, der in einem Streite Zuchthäusler ruft. Verteidigt ihre Tat nachher weinend vor den Eltern. Kein Wunder, daß einer weiß, wie er geliebt ist.

Jede Woche besucht ihn der Schutzaufsichtsinspektor und spricht ihm väterlich zu. Unser Jüngling reift zum Manne. Wird die kräftige und immer notwendigere Stütze des alternden Brotherrn.

Doch stetsfort brennt der Makel der Gefängnisstrafe auf seiner Stirne. Angeliken wagt er kaum zu antworten. Errötet, wenn sie nahe ist. Senkt den Blick. Als sie einmal erkrankt, wacht er nächtelang an ihrem Lager, entfernt sich, wenn es ihr besser geht und sie mit ihm zu plaudern anfängt.

Endlich hält er es in seiner Sehnsucht nicht mehr aus und – gäbe es denn einen Besseren und Näheren – wendet sich an den Inspektor um Rat. Mit gütigem Lächeln wird seine Beichte entgegengenommen. Der Inspektor kennt seine Pflegebefohlenen. Darum hat er auch Angelika seine Mithülfe nicht versagt. Ueberzeugt von der Reinheit und Tugend der schön Verliebten, lehnt er diese neue Vermittlung nicht ab, sondern bestellt die beiden nun großen Kinder zu sich. Legt ihre Hände ineinander.

Die Meistersleute brummen zuerst, können jedoch schließlich die Tränen nicht verbergen. Da sie auch keine schlechten Bürger sind. Von sich aus setzen sie die Hochzeit an. Der Verwalter der Erziehungsanstalt, ein inzwischen silberhaariger Greis, hält die erste Tischrede. Habe immer gewußt, daß unser Held einer von den rechten sei und daß die gesäten Saatkörner eines Tages doch keimten.

In der Staatsstube unseres Ehepaares aber hängt bis zum heutigen Tage eine Photographie, nach dem Hochzeitsessen verfertigt. Auf einem Sessel in der Mitte der Bräutigam; die linke Hand zu Angeliken hingestreckt, die in ihrer Jugendblüte, in Myrtenkranz und Brautschleier gerührt auf ihn herniederblickt, die Rechte dem Inspektor darreichend, der . . .

 

Obige wahre Geschichte, – verlogen, wie das Leben nie ist – breit ausgemalt, mit vielen moralischen Anwendungen, Sprichwörtern und rührenden Einzelszenen, müßte prämiert werden!


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