Charlot Strasser
Wer hilft?
Charlot Strasser

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

»Vielleicht liegt gar keine Notwendigkeit vor, Alwin Fohrers Geschichte zu erzählen,« wollten Sie mir einwenden, die Sie von Ihrer Berufsarbeit ermüdet sind, oder hinter den Ladentisch rechnen und von der Kunst aufheiternde Erholung verlangen.

Und doch. Versuchen Sie es einmal, einen seltsamen Menschen zu verfolgen, der Ihnen durch unkorrigierbare Hartnäckigkeit, mit der er sich an ein System festklammert, die Tatsache vor Augen geführt hat, daß man auf diesem Planeten um Vieles minder leiden würde, wenn man sein Denken und Handeln nicht auf gesonderten Tellern sortierte. Nicht gedankliche Folgerungen über die tausendfältigen, wechselnden Forderungen der Wirklichkeit stellte. – Aber das einfach Richtigdenken bringt er nicht fertig. Will er nicht fertig bringen. Er will sich die Freiheit bewahren, just eben Denken und Handeln miteinander in Widerspruch zu versetzen, weil er es als seine bedeutsamste freie Willensbestimmung betrachtet. –

Versuchen Sie einmal, einen solchen Menschen aufzubauen. Sie werden sehen, wie hölzern er zunächst wirkt, wenn er nur in seiner äußeren Erscheinung, in abgeschlossenen Tatbeständen, an den Objekten einer alltäglichen Umwelt dargeboten wird. Je sorgfältiger wir die Worte wählen, um den Bewegungen und Verwandlungen einer Seele gerecht zu werden, desto mehr dürfen wir auf die starren und gegenständlichen Bilder verzichten. Desto weniger sollen wir aufteilen, auflösen oder festhalten und im begrenzenden Rahmen vollendete Gemälde hinhängen. Das Seelenleben hat nicht nur den einzigen, erstarrten Ausdruck, der in sprachlicher Umschreibung meinetwegen auch ungeheuer eindringlich sein kann. Sondern das wirbelt und drängt und verändert und vermengt sich. In unübersehbarer Fülle. Wissende Kunst schafft belebende Bereicherung, Ihr meine lieben, ermüdeten Bürger. –

 

Alwin Fohrer war für mich im Verhältnis zu seiner Bildung der anspruchsloseste Mensch, der mir je vor Augen gekommen ist. Sein Zimmer barg einen Schragen, einen Stuhl, einen Tisch, ein Waschbecken, ein Wasserglas, eine Zahnbürste, einen Kleiderhaken und eine Schachtel: Sechs Knöpfe, je eine Bürste für Schuhwichse und Kleider, je eine Näh- und Stopfnadel, ein halbes Dutzend auf eine Visitenkarte aufgeheftete Stecknadeln, fünf Stricknadeln, je ein Knäuel Zwirn und Wollfaden darin. Er besaß je zwei Hemden, Socken, Taschentücher, einen Schirm, ein Paar Hosen und einen Vikarsrock, so könnte man ihn am besten bezeichnen, der oben geschlossen war. So daß Krawatte wie Kragen überflüssig wurden. Auch auf Hosenträger verzichtete er. Den Rock hatte er sich aus einem abgeschabten Mantel, den er vor zehn Jahren außer Dienst zu setzen beschließen mußte, ganz ordentlich zusammengenäht. Der neue, neun Winter alte Sommermantel baumelte am Kleiderhaken, wenn nicht gerade Stein und Bein gefror. Fohrer brachte es fertig, beispielsweise im Jahre 1913 mit 848 Franken, inklusive Zahnarztrechnung von 40, Steuern von 50 und Lesestoff von 2 Franken, im Jahre 1915 mit 658 Franken, einberechnet 59 für Steuern, leider zu gut zu leben, wie er sich ausdrückte.

Es gibt mehr solcher wunderlicher Heiliger, wie unseren hochbetagten Fohrer, als wir gemeinhin glauben. Sind sie Ihnen nie im Bureau, auf der Straße, am Wirtstische begegnet? Ihre Philosophie ist die Durchschnittsweltanschauung manches im Nichts dahinschwindenden Spießers, der von seiner anarchischen Allbürgerlichkeit kaum eine Ahnung hat. Führen wir Ihnen einen derartigen Kauz leibhaftig vor, fällt es Ihnen zuguterletzt nicht einmal ohne Weiteres leicht, sich in ihn einzufühlen und moralinfrei, nachsichtig, geduldig zu verstehen.

 

Sie glauben wohl, daß dadurch, daß Alwin Fohrer sein merkwürdiges, ganz besonderes und sogar furchtbares Erlebnis hatte, er erst zum Sonderling gestempelt wurde? Sind geneigt, wie er selbst es tat, die Entscheidung für sein übriges Geschick darin zu erblicken?

Es hat mit dieser seiner Vergangenheit die nämliche Bewandtnis, wie mit allen »besonderen Erlebnissen«. Wir gedenken ihrer nur in so außergewöhnlicher Weise, wenn wir ihrer bedürfen. Nicht sie sind es, die in uns wirken und sich immer wieder vor unseren Augen aufdringlich abrollen. Wie denn, ich bitte Sie, sollte dies in unserem Gehirn vor sich gehen? Als ob es ein Kinotheater wäre! Wir sind unerbittlich eigene Schmiede unserer Schicksale. Unerbittlich. Sind es aber gar häufig und allesamt schlecht. Und dann, – dann brauchen wir dieses Erlebnis. Dann ist es Sündenbock und Ausrede, Wendepunkt, Verhängnis und was Ihnen beliebt. Die schöne Kulisse, die wir aus unserem Requisitenhaus der verantwortlichen Erinnerungen hervorsuchen und mit der Aufschrift versehen: »Hier fielen die Würfel über den sonst viel fähigeren und tüchtigeren N. N.«

Darum mögen Sie sich nicht wundern, wenn ich Ihnen erzähle, daß Alwin Fohrer auch vor jener schrecklichen Begebenheit eigentlich ein Original, ein Fuchs war, der stets saure Trauben entdeckte. Selbst wenn er nicht wußte, wie sie tatsächlich schmeckten. Ein Kind, das nicht zu leben verstand, das vor seinen Aufgaben zurückwich, wie eben der ABC-Schütze mittelst Leib- und Kopfwehs vor dem Examen.

 

Als sich ihm einmal, ein einziges mal, Gelegenheit bot, eine Schulfreundin, die er mit seinen zehn Jahren zur Königin seines Herzens auserkoren hatte, vor einem Rudel schneeballender Klassengenossen dadurch zu beschützen, daß er vor die an einer Hausmauer angelehnte hintrat und die Geschosse der Feinde über sich klatschen ließ, mußte er schnöden Dank einheimsen. Sie machte sich, sowie die Gefahr abgeschlagen war, mit den Worten davon: »Du bist ja ein Torticollis!« Der Ausdruck stammte von einem Lehrer, der ihn Fohrer angehängt hatte. Weil er, seit ihn sein Ohr schmerzte, den Kopf zur kranken Seite neigte. In der Meinung, es ziehe ihn dort beim Gehen hinunter. Von da an wurde er noch mißtrauischer, als schon ohnehin. Sah im Weiblichen jedweder Schattierung seinen Widersacher.

Auch in der launischen Mutter erblickte er etwas entsprechendes. Namentlich, nachdem sie ihn eines Nachmittags zu Hause behalten hatte. Der Knabe war über langem Hin und Her entschlossen gewesen, zwei Kameraden zum Baden zu begleiten. Sich nicht wie bisher seiner eigenen Nacktheit zu schämen. Während er sich von einer Schwester – zwölf Jahre hatte sie vor ihm voraus – trotz vielem ihn demütigendem Wenn und Aber das Geld für die Badhosen ausbettelte, rief ihn die Mutter unter allen nur erdenklichen Zärtlichkeiten zu sich in die Küche. Erzählte ihm dort weinend, daß der Vater, – er war Siegrist, – nie zu Hause sei oder dann über die Pfarrpachtsorgen redete. Daß man den fürchterlichen Egoisten immer bedienen müsse, er aber keine Spur eines Herzens für die Kümmernisse einer Gattin und Erzieherin von acht Kindern habe. Und Ähnliches mehr. Alwin, stolz, daß er zum Vertrauten erwählt wurde, hatte aufmerksam acht. Dachte am Ende, die Klagende wolle getröstet sein und sagte: »Gott hätte das Heiraten verbieten sollen!« Die erbitterte Frau, deren einziges Buch, das sie las, die Bibel war, – darüber hinaus habe ihre Erd- und Himmelskenntnis keine Viertelstunde gereicht, meinte der erwachsene Fohrer zuweilen, – versetzte dem nichtsahnenden Alwin ein paar derbe Ohrfeigen und schickte ihn ohne Nachtessen ins Bett.

Etwas älter geworden, begegnete ihm die erstgeborene Schwester oft mit verweinten Augen. Dazu hörte er, wie sie von Vater und Mutter vielfach heftig getadelt wurde. Nachträglich begriff er freilich, weshalb sie ihn einen gefühlsrohen, verdorbenen Lumpenbuben tituliert hatte, dieweil er ganz harmlos, im Spaß, zu ihr geäußert: »Du wirst ja von Tag zu Tag schwerer.« Nach einigen Monaten – das vernahm er ebenfalls bedeutend später – schenkte sie einem unehelichen Kinde das Leben. Ingrimmig erhob er im Stillen gegen die Schwester den Vorwurf, daß sie einer solchen Lappalie wegen ein Getue um sich herumgemantscht habe.

 

»Aha!«, entschlüpfte es Ihnen mit Befriedigung bei der Lektüre der Jugenderinnerungen Alwin Fohrers. »Da fänden wir ja, was wir auch für uns gerne betonen: Den ungeschickten Lehrer, die garstigen Schulkameraden, die bösen älteren Geschwister, die uneinigen Eltern, die verlogene Geschlechtsmoral und all das Andere!«

Meinen Sie nicht, daß Fohrer nebstdem liebliche, gütige und ihn fördernde Bilder aus seiner Kindheit besaß? Warum klammerte er sich nicht an diese? Wozu holte er, wenn man ihn, wenn er sich selbst über die Geschichte seiner werten Person befragte, die bitteren, fatalen Begebenheiten heraus, die verdächtig einheitlich die eine Wirkung, gleich dem Hemmschuh am Karrenrad, ausübten? Requisiten, an denen er sich die Willkür der Weltordnung von dem Moment an bewies, als er, statt sich gradaus zu tummeln und zu wehren, den Weg des dauernd und ungerechterweise verhinderten Universaltalentes betrat. –

 

Da er von Frauen umsomehr träumte, je weniger er sich ihnen zu nähern getraute, verspann er sich in die klassische Dramenwelt. Pickte sich vornehmlich die Liebesszenen heraus. Schwelgte im Gedanken, wie schön es wäre, wenn er ein wirkliches »Fräulein« zum Mitmachen hätte. Wollte Schauspieler werden. Deklamierte unermüdlich die ihm zugänglichen, jugendlichen Liebhaberrollen mit meist donnernder Stimme vor sich hin. Versagte jedoch prompt bei der Leseprobe einer Schulaufführung, weil er kein Stichwort richtig hörte. Hatte damit das einzige Ziel verloren, von dem er überzeugt gewesen wäre, daß es seine Bestimmung, ja seine Mission in sich schloß. Planlos studierte er nun. Wofür seine Erzeuger die Mittel an ihrem Leibe absparen mußten. Landwirtschaft, Rechtswissenschaft, Philologie, Zoologie, Nationalökonomie. Wurde indessen aus lauter Ziellosigkeit so gründlich-ängstlich und ängstlich-gründlich, daß seine Erkenntnis, er werde nie alles durchdringen, was ihm wissenswert schien, Hindernis über Hindernis aufwarf und er schließlich, als seiner Eltern Hülfsmöglichkeit erschöpft war, bei nichts weiter, als einer vollkommenen Pedanterie anlangte. –

 

Sie wünschen mich, abgesehen davon, daß ich Sie bei Ihrer bekannten Übermüdung gar zu eingehend mit Fohrers Absonderlichkeiten beschwere, eben hier zu unterbrechen. Sie sind der Ansicht, daß die aufgeführten Züge ausnahmslos diejenigen seines angeborenen, ererbten, ja geradezu unabänderlichen Charakters gewesen seien?

Genehmigen Sie schon den Widerspruch: Charakterbereitschaften sind nie angeboren, nie ererbt, hingegen abgelernt, ausgewählt, ausprobiert, angewöhnt, sind bequeme, gefügige Diener der uns erfüllenden, beherrschenden Vorstellungen. Wir bekleben sie, wie wenn sie fertige, greifbare Gegenstände wären, mit allerhand Namen, damit wir uns rasch zu verständigen vermögen. In der Tat aber schaffen wir sie von Gelegenheit zu Gelegenheit, von Augenblick zu Augenblick neu, wobei wir uns allerdings mit blitzartiger Fingerfertigkeit an früher Erfahrenes und Erprobtes erinnern. –

Als seinem grimmigsten Feind rief Fohrer stets wieder der Liebesfurcht. Hielt er sich allein dann schon für größer und stärker, wenn er einer verlockenden Gelegenheit, Sklave ehrlicher Neigungen zu werden, trotzig die Stirne geboten hatte. Aus sämtlichen Büchern, daraus er die Rosinen misogyner Welteinstellung mit eigentlicher Begeisterung klaubte, umpanzerte er sich mit Vorsicht und Abscheu. Gewöhnte sich, seine Tage in Bibliotheken, in denen er sich wie im waffengespicktesten Zeughaus geborgen fühlte, zu hocken. Weil der dessenthalb sehr mißgemutete Vater ihn eines Tages zur Entscheidung über seinen Beruf aufforderte, nahm er kurzerhand den ersten besten Hülfsbibliothekarposten an. In einem wortreichen Schreiben verzichtete er auf jegliche Erbansprüche seines anwartschaftlichen Vermögens. Zweifelte dabei nicht, daß keines vorhanden war. Später beschäftigte er sich auch als Kanzlist. Nachdem er sich gegen die Fährnisse des Erdenwallens genügend gesichert glaubte und für Bücher nicht mehr zu erwärmen vermochte, die doch zu Vieles auswiesen, was nicht den gesuchten Rosinen entsprach. Kannte ausschließlich einen mechanischen Drang zur Betätigung. Zu Geldverdienen und Sparen.

Denn mit der Zeit hatte er sich zum Sammler ausgebildet: zum Geldsammler. Er war weder geizig, noch habgierig. Es machte ihm lediglich Freude, Franken zum Franken zu gesellen. Es interessierte ihn einfach, zu beobachten, wie weit er es im Anhäufen bringen könne. Eine Bestimmung für sein Geld sah er nicht. Auf einen winziger und winziger werdenden Gedankenkreis beschränkte sich letzten Endes sein Dasein.

Nur, daß am Eintritt in diese Wüste und Einöde jenes Erlebnis explodierte und wieder verblich. Scheinbar ohne Spuren hinterlassen zu haben. Ihm nur als geläufige Formel dienend. Als Erklärung, an der er sich begnügen konnte, wenn ihm mitunter aufstieß, wie wenig er des gemeinsamen Weltlebens, der Menschenfreude teilhaft gewesen war.

 

Sie sind keine Freunde von Übertreibungen? Trotzdem – das bewußte Geschehnis war nach einigen Jahren wirklich papieren, kanzleimäßig in seinem Gehirn registriert und ad acta gelegt worden.


 << zurück weiter >>