Charlot Strasser
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Charlot Strasser

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III. Abend am Fenster

(Samstag)

Bevor ich zu 342 zurückkehre, sollte ich beim Anfang aller Menschenordnung beginnen:

Wo das erstarrte Recht bewegt werden könnte, weil sich gut und böse ewig verwandeln. Wo das Verbrechen aufhört und die Krankheit sich dartut. Wo krank und verbrecherisch ineinanderfließen: beides Waffen und Schilde, unsere Schwächen zu bemänteln. Wenn es dem Ich mühsam wird, der erzwungenen Ordnung zu folgen. Wenn es ihr ausweichen will. Mit ihr in Gegensatz gerät. Sich und die Widerstände immer feindlicher sieht. Und dennoch nichts als selbstisch bleibt.

 

342's Vater war ein fünfmal wegen Diebstahls bestrafter Trinker. Nüchterner könnte das Leben eines »geborenen« Verbrechers nicht beginnen.

Von der Mutter sagte er, sie sei ein stattlich ausgerüstetes, zungengewandtes Kriegsschiff gewesen, »das seine friedlichen Elemente einzuschüchtern suchte. Denn sie fühlte große Neigung zu Widerspruch, Branntwein und anderen Lastern.«

»Du sollst in großen, hohen Ehren halten deinen Vater und deine Mutter, auf daß du lange lebest im Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird«, schreibt 342 in seinen blauen Heftchen. »Dieses Wort richtet sich an Erzieher, wie Zöglinge. Sorget dafür, daß man Euch in solchem Sinnbilde ehren kann. Liebe! So Eltern ihrem Sprößling mit Leib und Leben sich hingeben, werden sie sicher auch Dank erfahren. Wie das Kindesgemüt empfindlich für zärtliche Behandlung ist, ebenso kann es reizbar gegen herzlose Brutalitäten werden. Die wachsende Seele gleicht einer Pflanze, die analog der letzteren, um die Gedeihung zu befördern, eine sorgfältige Pflege verlangt. Was für Früchte unmenschliche Krudelität und Engherzigkeit erzeugen, davon erzählen Bücher, Irren- und Strafanstalten.«

»Die Begrüßung meiner Geburt soll nicht besonders freudig gewesen sein, da der Pazifismus zwischen Vater und Mutter schon zu jener Zeit gestört, speziell zersetzt war. Daß meine Wiege infolgedessen nicht neben ägyptische Honig- und Fleischtöpfe zu stehen kam, ist leicht verständlich. Ich war nach dem Begriff meiner Angehörigen ein überflüssiges Geschöpf, nur geduldet, weil betreffende Duldsamkeit unter Gesetzesform prosperierte. Hätte diese ihr Dasein nicht behauptet, wäre jedenfalls kurzer Prozeß mit mir gemacht und ich dem Schwarzen anvertraut worden. Das ging nicht. Würde die Sensation des Publikums und die Sympathie des Richters erregt haben. Also mußte wohl oder übel für mich gesorgt werden. Inzwischen entschlüpfte ich meiner Wiege und nach dem Entwicklungsprozeß der Puppe wurde ich zum Zugvogel ernannt, dem man das Privilegium zuerteilte, verschiedene Zonen kälteren und wärmeren Klimas zu bereisen. Auf meinen Fahrten hatte ich besondere Abenteuer, insofern die beanspruchten Alimentationsgelder behufs Verpflegung des Unersättlichen verweigert oder nicht zur bestimmten Zeit einbezahlt wurden. Solchenfalls hing man dem Zugvogel ganz einfach die Rückfahrkarte um den Hals und adressierte ihn an das kältere Klima. Die eisigste Luft wehte mir im Lande der Mutterschaft. Auch der Reinlichkeitssinn ging meiner Frau Mamma ab und, weil das Waschen ihr so unsägliche Mühe bereitete, nahm sie es nicht genau mit der Trockenlegung in meiner Babyzeit. Meine Verwandten behaupten, sie hätten mich oft genug aus Erbarmen zu sich geholt, nur, um mich nicht hungern und im Dreck halb verfaulen zu lassen.«

342 als Kind sang jahrelang nichts außer »lalala« vor sich hin. Dafür verprügelte ihn der Vater, insonderheit wenn er getrunken hatte. Dessen vierte Verurteilung bewog seine Ehehälfte, sich von ihm zu scheiden. Tränen seien hüben und drüben nicht geflossen.

Nach der Trennung nahm die Erzeugerin den Knaben der herumhausierenden Großmutter fort. Die gerade damals wegen Hehlerei ins Gefängnis geriet. 342 wurde weiter verkostgeldet. Trafen die Beträge für seinen Unterhalt nicht rechtzeitig ein, stieß, trat, prügelte man ihn von Ort zu Ort. Drückte ihn in die Ecke, wie kein Tier. Sogar der dabei mitwirkende Lehrer klagte der Mutter, er könne den Jungen so viel schlagen als er wolle, es nütze doch nichts.

Jetzt gab man ihm noch einen Stiefvater. Nicht nur trank er, sondern schlug auch die »Alte«. Hatte bei der Verheiratung gegen einen Betrag von zweihundertfünfzig Franken die Verpflichtung übernommen, den Knaben bei sich zu halten. »In welcher Atmosphäre ich war, merkte ich bald an der Pravität eines Mannes, der im Begriffe stand, das empfangene Geld in Alkoholdämpfe umzuwandeln. Er war einer jener Parasiten, die nur den eigenen Appetit kennen und der nicht Anstoß nahm, ein hungriges Kind zusehen zu lassen, wie er beim Znüni je ein halbes Pfund Speck oder selbst einige Liter Most und ein Zweipfünderbrot verschlang, ohne mir einen Bissen davon zu verabreichen.«

Der achtjährige 342 mußte das Mädchen für Alles machen. Richtete morgens fünf Uhr den Kaffee und Bratkartoffeln her. Konnte die Mutter jeweilen nicht rechtzeitig zum Essen wecken. Sodaß sie zu spät in die Weberei kam. Wofür er seine Tracht erhielt. Mutter liebte den schwachen, Vater den starken Mokka. Nie vermochte er ihn, »da sich keines für die Mittelmäßigkeit entschließen wollte,« nach Wunsch zubereiten. »Ich weiß nicht, war es verwöhnte Liebhaberei oder bloße Kaprizität, daß sich so kolossaler Widerspruch bei den Geschmacksorganen erhob. Verfehlte ich den Sinn des einen oder des andern, dann gab's Konflikt, dessen Schuldfolge wiederum mir zugeschrieben und höflichkeitshalber mit ein paar Ohrfeigen quittiert wurde. Wohlan, Backpfeifen galten nur als scherzhafte Demütigungen und durften meinerseits zur Humanität eingereiht werden. Solange der Stiefvater den Lederriemen, den er um den Ranzen geschnallt hielt, nicht in Funktion setzte, um mir damit rote, blaue und violette Streifen über meinen Leib zu zeichnen, solange hatte es keine Gefahr.«

Eines Tages war 342 befohlen worden, auf zwei Wiesen, die davon übersät waren, die Maulwurfshügel zu verrechen. Er bewältigte kaum die Hälfte. Angstvollen Herzens kam er nach Hause. Sah den weindünstenden Stiefvater auf der Ofenbank liegen, »der im Trancezustand die gewaltigsten Baumstämme entzweisägte. Er hätte leicht den Vorrang in der Konkurrenz mit des Nachbars Schwein erschnarcht.« Durch das Zuschlagen einer Tür geweckt, stierte er, ohne sich vom Platz zu rühren, den Knaben mit gläsernen Augen an. Drohte folgenden Tages zu inspizieren. Nach durchwachter Nacht plante 342, den Brauntrank zu Vaters Gunsten anzubrühen. Fand ihn, wie er seit dem Abend hocken geblieben war, vor dem Tische, den eine eklige Speichellache bedeckte. Das Tabakspaket darin schwimmend. Die Pfeife zertrümmert am Boden. Die Mutter wartete wie gewohnt im Bett, bis der Sohn die Säuberung vollzogen hatte. Verwünschte ihn, als das Frühstücksgebräu nicht ihrem Geschmack entsprach. Schlug. Beschimpfte den Gatten. Lief in die Fabrik. Ein Taschenmesser ergreifen, dem Buben nachrennen, war für den Stiefvater eins. Um nicht frieren zu müssen, blieb 342 den Tag über im Schulhaus. Durch die Dunkelheit schlich er dann heim. »Notabene, wenn man solcher Hölle überhaupt diesen Ausdruck beilegen darf.« Unter ausgeklügelt gesteigerten, wochenlangen Züchtigungen lieferten ihn die Eltern einem Nachbarn aus, der dem Stiefvater in wenig nachstand. »Beide sogenannte Krachbrüder, die sich nicht schämten, friedlich einhergehende Liebespärchen über den Haufen zu werfen oder ihnen die Kleider vom Leibe zu reißen.«

 

Des Vaters Freund also schickte den Buben mit Vorliebe auf die äußersten Äste der Obstbäume. Um die dort vergessenen Früchte zu gewinnen. Als 342 seiner Mutter klagte, sich an den glitschigen Stämmen kaum halten zu können, meinte sie: »Das wäre noch gefährlich! Wenn du herunterfällst und gleich tot bist, darüber hätte niemand geweint und wäre mir besser gewesen.« Wenn der Knabe für Botengänge Belohnungen erhielt, verwahrte sie das Geld in einem Spartopf. Als er aber eines Tages seine Kasse revidierte, was seine einzige Freude gewesen sei, war das Geld spurlos verschwunden. »Mein Schmerz wuchs unermeßlich beim Anblick der sinnlosen Dieberei meiner Vorgesetzten. Sie mag das Geld nutzlos für Schnaps oder Naschwerk ausgegeben haben. Wie Butter an der Sonne schmolz mein Glaube an ihre Aufrichtigkeit. Ich traute niemandem mehr. Fing an, sie anzulügen. Wurden mir Trinkgelder zu teil, verschleckte oder vergrützte ich sie.«

Die Herbsttage waren kalt. Die Bäume naß. Die einzigen Hosen durchsichtig. Von den Rinden schmierig und feucht. Keine Gelegenheit, sie zu trocknen. Nach den frostigen Nächten morgens nahezu vereist.

Haß und Argwohn und wieder Haß nährte das Kind gegen Mutter, Stiefvater, Menschen, Welt. Nachdem es den Sommer hindurch Reisigwellen fürs Haus gesammelt hatte, dachte keiner daran, als der Winter kam, ihm für Schuhe zu sorgen. »Der liebe Leser kennt meine Hosen. Nur die Fußbekleidung ist unerwähnt geblieben, einzig aus dem Grunde, weil die betreffende ihre Existenz nicht behauptete. Ich lief seinerzeit barfuß durch die Fluren. Als ich schließlich die vom letzten Jahr her vergessenen Zehenschoner hervorzog, o weh – sie hatten jedenfalls keinen Hafer erhalten. Sperrten die Mäuler weit auf. Die Mutter kam nach langem Hin und Her zum nicht ungewöhnlichen Gedanken, wieder einmal dem freigebigen Kredit nahezutreten. Leider ohne Erfolg. Der Angegangene, Krämer und Schuhmacher in einer Person, befand sich schon seit geraumer Frist mit meinen Eltern auf dem Kriegspfad. Sie drohten, zeitlebens nichts mehr bei ihm zu holen. Der Spezierer war froh. Wußte wohl, daß, wenn die Frau Mutter bestellen kam, er den Bleistift und das Buch für Contodubio bereit halten mußte. Sie kaufte übrigens nie selbst ein, wenn sie auf Pump nehmen wollte. Schickte stets mich. Fing dann der Knirps die Scheltworte auf, wußte er, was die Uhr geschlagen hatte und in welchem Ansehen seine braven Eltern standen.« Des Knaben jämmerlich zugerichtete und halb erfrorene Gestalt erweckte am Ende das Mitleid einer Posthaltersfrau, die ihm ein Paar ausgetragener Holzböden verabfolgte. Aus des Vaters fadenscheinigstem Rock wurde ihm ein Anzug verfertigt. Die schmutzige Seite nach innen, die halbwegs saubere nach außen gekehrt. »Das ist eine Vergleichsweise, die man füglich auch bei Menschen observiert. Wenn sie vor der Welt als fromm erscheinen wollen, wenden sie die bessere nach außen,« kann sich 342 nicht enthalten, im Zuchthaus hinzuzufügen. Selbst das renovierte Kleidungsstück empfing er lediglich gegen seine bittern Tränen. Denn der Schneider wollte wieder abziehen. Die Mutter hatte, wie stets, kein Geld. Daß 342 im folgenden Sommer sein Bett mit einem zur Aushülfe eingestellten Knecht, einem Knabenschänder teilen mußte, erregte bei niemand Bedenken. Hingegen befahl die Mutter dem Rohling, als ihr Eigengeborener einmal krank war und die schmutzige Familienwäsche nicht einweichen mochte, auf ihn einzudreschen. Ging mit dem Beispiel unentwegt voran. Bis er sich erbrach und wochenlang im Fieber dalag.

Als später der Elfjährige den vom Knechte genossenen Unterricht bei den Nachbarsmädchen nutzbar machen wollte, pflanzten ihn mitten im Winter die empörten Erzieher auf die Straße. Schickten ihn mit einem Briefchen zu einer Tante, auf daß er von ihr der Gemeindebehörde überantwortet werde. Die Heimat besaß kein Waisenhaus. Versteigerte das Kind an den mindest fordernden Landmann.

Der dritte, rauschsüchtige Pflegevater trat ihn, wo er traf. Ein Jahr lang duckte der Knabe sich. Brannte dann zu seinen Großeltern durch. Ward von ihnen einem braven Schneidermeister übermittelt, welches Begebnis ihm als hellster Fleck seiner Vergangenheit leuchtet. Weil aber die guten Leute selber nichts zu verzehren hatten, mußten sie ihn aufgeben. Infolgedessen er dreizehnjährig wieder zu einem Schnapsgreis geschoben wurde. Ob er dem oder der Alten gehorchen sollte, begriff er nicht. Jedes war gegen das andere giftig. Beutelte ihn, sofern er nur nach des Einen Willen gehandelt hatte. Das Unglück zu krönen, erwischte der Bauer den Armen, während er ein von der Sohnsfrau zugestecktes Stück Fleisch herunterwürgte. Geriet dermaßen in Wut, daß er ihm die Mistgabel in den Oberschenkel stieß. Erst als auch die Umwohnenden sich über die Mißhandlungen des Knaben beklagten, setzte ihn die Mutter kurzerhand auf dem Pfarramt seines Geburtsortes ab. Und machte sich davon. Alle Beschwerden fruchteten nichts. Es war noch Gnade, wenn ihn das Zwangserziehungsheim schließlich aufnahm.

Nach zweijähriger Geborgenheit betonte die »Vorgesetzte« ihr Recht, für ihn den Beruf des Seidenwebers bestimmen zu dürfen. Damit er an die Kosten des Haushaltes beitrage. Innert vierundzwanzig Stunden gab es Streit mit dem Stiefvater. 342 lief einem Bäcker ins Geschäft. Sah in seinem einzigen, nach außen gekehrten Anzug von früher her unglaubhaft schäbig und verkommen aus. Wurde Holz- und Kohlenträger. Pflästerer. Begegnete unverhofft einem Kameraden aus der Korrektionsanstalt und ließ sich auf Wanderschaft mitlocken.

»Hallo, was ein Leben! Ohne Arbeit. Frei von Banden. Keine Knechtschaft. Kein drückendes Joch. Zumal auf der »Bänne«. Am Tag von Brüdern zusammengefochten – am Abend wieder verkneipt. Wer nicht mithielt, galt nicht als Mann. War das Geld zerronnen, klapperten wir die Hütten ab. Wo kein Ortspolizist wohnte. Pfaffen wurden nicht verschont. Sintemalen sie zu den Liberalen zählten. Ihrer Freigebigkeit wegen berühmt waren. Trotzdem ging's auf der Weltreise nicht immer nach Wunsch. Bekamen vieles zu hören, das den Ohren nicht wohl klang. Und die vorgesetzten Speisen erregten nicht selten Gaumenkitzel. Mißvergnügt trotteten wir jeweilen von dannen. Klatschten dem ersten Kunden, den wir trafen. Gab uns als Entgelt seine Erfahrung zum besten. Fanden es, wenn einer vom Hochfliegen ohne Flügel berichtete, gar nicht spaßhaft. Vermieden die Route, die er gemacht hatte«. Die letzten Wochen spazierte 342 auf nackter Sohle. Zog, erbost über die hartherzigen Egoisten, die ihm keine »Tritte« aushändigen wollten, in die Großstadt ein. Holte aus einem Gasthof, wessen er bedurfte. Vortreffliche Dienste leistete er seinen wunden Füßen. Mußte aber ins Luzernische verduften. Eine Pause als Heuer machen. Dummerweise bekam er Sehnsucht nach der Kapitale. Und flog, als er dorten anlangte, der seinerzeit gestohlenen Bedürfnisbefriedigung wegen, nun selber hoch. Verbrachte seines Lebens erste Ferien hinter Schloß und Riegel.

Nachher landete er als Bohrjunge bei einem Bildhauer. In einem Wirtshaus als Kegelbursche. Berauscht, stellte er einen mit Kleidern gefüllten Waschkorb zur Seite, ohne sich seiner Beute freuen zu können. Während der Tat erwischt. Gäste hatten sich belustigt, ihn trunken zu sehen. Er erhielt ein Vierteljahr Muße zum Nachdenken.

Daß er nunmehr als Kupferschmiedgehülfe in einem einsamen Flecken Aufenthalt nahm, dafür sorgte ein Vetter. Doch vertrug 342 Beaufsichtigung nicht.

In wildem Durcheinander rollte sein Leben dahin. Vergehen, Sühne, Gefängnis und Freiheit. Zechprellerei, Handwerk; Diebstahl, Verschwendung; Betrug und Hereinfall. In betäubendem Wirbel, daß er selbst kaum die einzelnen Missetaten auseinanderschied.

Erhöhte Strafen sollten ihn bessern. Erziehen. Dann schrecken. Alle Ordnungsliebenden vor ihm beschützen. Wenige billige Franken genügten, daß er für Jahre im Dunkel verschwand. Firlefanz, den er einem Blumenmädchen umhing. Ihren Leib einige Nächte, bis er wiederum eingesperrt wurde, dagegen besitzen durfte.

Meist war es nackte Not, die ihn über den Haufen warf. Ein Dachdecker schrieb einen Gesellen aus. Er meldete sich. Kaum die Leiter angelegt, ergriff ihn die Furcht herunterzufallen. Ein Vergrößerungsinstitut für Photographien schickte ihn als Provisionsreisenden aus. Die eingezogenen Rechnungen verschwanden in seiner durchlöcherten Tasche. Weil er von früher her Heißhunger hatte. In der Haft lernte er Bücher einbinden. Entlassen, fand sich entweder keine Beschäftigung für ihn, oder nur aushülfsweise, sodaß er nach drei, vier Tagen wiederum brotlos auf der Gasse stand. Als Magaziner wurde er beim Einbrechen überrascht. Stach mit dem Taschenmesser um sich. Der Armengutsverwalter brachte ihn an einer Gasfabrik unter. Dem eben der Strafanstaltskost Entwöhnten schien die Arbeit zu schwer. Einmal winters in Freiheit gesetzt, lief er von Türe zu Türe. Keine ward aufgetan. Zwischen Zuchthaus und Straße pendelte der Enterbte. Und als er eben anständige Löhnung versprochen erhielt, belegte man ihn mit dem Stadtbann.

»Es war mir zu Mut, als würde mich die ganze Menschheit verfolgen. So daß ein galliger Ekel gegenüber allem und jeglichem ausbrach. Eine Verzweiflung packte mich an, daß ich keinen andern Ausweg suchte, als denjenigen des Rechtes, das Eigentum zu verpönen, zu rauben, worum mich mein Schicksal verkürzt und betrogen hatte.«

 
*
 

Ist er nicht einfach menschlich, dieser heute nur noch Numerierte, dieser Beschränkte, Überflüssige, überall lästig und gefährlich Empfundene, der in der Zelle nun gegen sein Lebensleid aufstöhnt und in seiner Niederschrift immer wieder darauf zurückkommt, daß man ihm hätte Liebe darbieten sollen?

Ihm zu helfen, würde Mühe und Selbstüberwindung gewesen sein. Nicht, weil er ein »geborener« Verbrecher war.

Infamer Makel, den man Euch anhängt!

Mich darf ich ausnehmen. Mich haben sie wohl den Gelegenheitssündern zugeteilt. Dächten sie folgerichtig, gälten wir als die moralisch bösartigeren. Denn, heißen sie ihn schon angeboren verbrecherisch, sollten sie ihn auch nicht für seine gesellschaftsfeindlichen Handlungen haftbar erklären. Treiben ihn aber mit ihrem Urteil, es komme von seinem schon im Mutterleibe geringwertigen Schädelinhalt, höchstens in die völlige Willenlosigkeit. Dann hat er doch dieses Recht, nicht anders zu können.

Das lag nicht allein am Gehirn des 342. Gewiß war er nicht herrlich begabt, war unter dem Mittel. Aber die geltenden Lügen von gut und böse hätte er handhaben gelernt, um sich der Weltordnung anzupassen.

Nur müßte solch Stiefkind auf Schritt und Tritt von gütigen, durch und durch geschulten Freunden und Beratern begleitet werden.

Ich weiß – es klingt unsinnig, wenn ich das Folgende niederschreibe. Gleichwohl fühle ich, daß irgendwie ein Kern daran ist: phantastische, ungeheure Völkerverbesserungsziele rufen sich die Staatsleiter gegenwärtiger Zeit in die Ohren. Um ihre unfaßlichen Gewalttaten damit zu verteidigen. Wissende, zu heiligen Aufgaben berufene Denker und Führer im Geiste vernichten sie blindwütig. Wundervoll gebaute Schiffe bohren sie einander in den Grund. Unermeßliche Schätze, Kunstwerke, Kathedralen zertrümmern sie sich. Besitztümer, die hundertmal genügen würden, Millionen der ärmsten, verworfensten unter den Armen zu heben und bessern, ihrer zu sorgen, sie zu behüten und sich und der Gemeinschaft zum eigensten Nutzen zu gestalten.

Es wäre denkbar. Ja doch, es wäre möglich. Betrügt Euch nicht, die ihr mittrottet, weil die Dinge nun einmal so laufen. Die Ihr gewohntem Gedankengang fröhnt und Euch lieber zerstückeln laßt, als Ziele ändert, schaffet, und, wenn Ihr schon opfert, den Blick auf das Wohl der Allmenschheit richtet! Kämpft für und gegen uns, die »geborenen« und »nichtgeborenen«, die entdeckten und nie entdeckten Verbrecher! Und vor allem für und gegen uns Weltkranke, des Haltes Bedürftige, auf Erden so Unsichere, auf falsche Wege Gewiesene.

Nicht die Schutzaufsicht, Ihr habt versagt. Hättet Ihr seiner gedacht, als er, durch das rote Tuch seiner Verstoßenheit und Verblendung von den Maßstäben der Wirklichkeit abgelenkt, gleich einem Verblödeten seine letzte Torheit vollführte? Bevor er seinen Mord beging und dringend, wie nie, der Unterstützung bedurfte? Der Hülfe würdig war. Trotzdem er kein Versprechen gehalten, kein geliehenes Geld zurückerstattet, keinen ihm gebotenen Arbeitsplatz richtig versehen hätte. Trotzdem er Euch für Eure Guttat selbst bestehlen konnte.

Ihr alle, die Ihr nicht teilnehmt am Schicksal irrender Leidgenossen! Wir alle, die wir versagen, wenn sie sich draußen im Kriege in nie vorstellbar gewesenen Hekatomben hinschlachten!

 
*
 

Als nach dreijähriger Haft 342 Kohlen schaufelte und bei seiner argen Disziplinlosigkeit die Müdigkeitsschmerzen nicht über den ersten Monat hinaus ertragen mochte, vagabundierte er. Bettelte für seinen Hunger. Stahl. Wußte sich neuerdings verfolgt. Schlich viele Tage und Nächte in den Wäldern herum.

Kraus und verworren hat er unter seiner niederen Stirn die Welt weitergehaßt. Immer wieder zerrte er in jenen Stunden entsetzliche Bilder aus der Kindheit vor seine Augen. Weil es ihm Linderung gewährte. Die Verantwortung auf sie abwälzte. Er fand keine Möglichkeit, sein Wesen zu ändern, den Weg zu verbessern, an den er hingestellt worden war.

Er bezeichnete seine früheren Verbrechen selbst als einfältig und ungeschickt. Habe kaum jemals etwas von ihnen gehabt. Das Gestohlene stets hergegeben. Unsinnig gebüßt. Strafen um Strafen erduldet, die für ihn keine mehr waren. Dennoch den furchtbaren Stempel aufbrannten, unter dem er sich bäumte. So wertlos er sonst auch sich ausnehmen mochte. Strafen, die höchstens ein willkürliches Zeitmaß der Freiheitsberaubung enthielten. Deren unterschiedliche Dauer lachhaft wenig bedeutete. Wochen, Monde, sogar Jahre mehr oder minder, – an alles gewöhnt sich das menschige Tier!

Weise Bitterkeiten quillen in seinen Aufzeichnungen empor: Über wehrlose Mündel, geizige, selbstgerechte Vormundschaftsbehörden, Trinkereltern und häßliches Beispiel zu gedunsenen Lastern. Dieser ärmer als geistig arme Verunglückte ahnte, daß mit Erklärung der Schuld durch ererbte, in die Vergangenheit verwiesene Anlagen nichts getan ist. Sondern Rücksichtslosigkeit und Unverstand nagten am zartesten Reis, beraubten die Kinder, die heiligen, der ganzen Erdbürgergemeinde zum Schutz empfohlenen, des Lichtes zum Wachstum.

Auch über Besessenheit und Fähigkeit der Selbstbestimmung plagte er sich herum. Mit bissigem Spott die oberen Zehntausend anstechend. Die, hätten sie gleich ihm gefehlt, als krankhaft Stehlsüchtige entschuldigt worden wären. »Namentlich, wenn es sich um eine Persönlichkeit besseren Standes der Exzeption handelt. Da die betreffenden Eminenzen der vorzüglichen Plutokratie angehören, verlangt man keine weitere Interpretation. Genug, daß die Legislative ihre Satisfaktion in einer gespickten Geldbörse findet.«

Mit dem Zuchthäuslerdasein haderte er vollends. Nicht leugnend, daß er selbst an der allgültigen Ordnung und Sicherheit zum Schädling geworden. Schrieb mit den verdrehtesten Fremdwörtern einen richtigen Sinn. Begann bei der Nummer, die man ihm angehängt hatte. Erkannte er seine Nichtigkeit etwa nicht? Wozu diese immerwährende, lebenslängliche, in den Leib hineinsiechende Beleidigung? Genügte es nicht, daß er um seiner eigenen Gewalttätigkeit willen, die er so wenig wie die Mitmenschen mehr zu fürchten brauchte, hinter sicheren Mauern steckte? War die Erniedrigung Sühne? Pfiff er nicht auf Vergeltung? War es ein Ausgleich, daß er nimmermehr mit Anderen reden durfte? Hörte er nicht innere Stimmen, soviel ihn danach dürstete? Wem diente die ausgeklügelte Folterei? Der strafferen, bequemer zu leitenden Disziplin? War den Volksführern das Gold so billig für Granaten und Stahlmantelgeschosse? So teuer, um seine und seinesgleichen als notwendig zugegebene Bewachung durch einige weitere Schergen gesellschaftswürdiger gestalten zu lassen? War die Welt in allen Teilen sonst so gerecht? Warum trugen die Kriegsmörder Tapferkeitsmedaillen zur Schau? Nein. Er hatte anders getötet. War anders belehrt worden. Hätte es anders wissen müssen. Und doch – ist töten nicht töten? Sühne! Kerker! Lächerliche Eitelkeit, auf Erden den Rächer zu posieren!

Ingrimm gegen die ewigen Züchtigungen, Haß gegen die abscheuliche Art, wie er in dieses Leben gesetzt worden war, Verzweiflung, daß er immer wieder gefehlt, sich Vorwürfe darüber zu machen hatte, gebar seinen entsetzlichen Plan. Er wußte genau, daß nicht einer es duldete, wenn er sich an seinen Broten und Kleidern, geschweige denn am Geldbeutel vergriff. Wußte sogar, daß er nicht zu arbeiten gelernt hatte. Nirgends auszuharren vermochte. Auch bevor man ihm, dem nunmehr Gezeichneten, überall, wo er hinkam, mißtraute. Es schien ihm nichts anderes möglich, als etwas zu tun, für das er dauernd versorgt, dauernd in Ruhe gelassen würde. Sonst hätten die Menschen ihn nicht beherbergt. Solchen Kreislaufes hetzte sich sein Denken tot. Daß er es nicht mehr unterbrechen, sich nicht mehr herausfinden konnte. Jeder hemmende Gedanke splitterte ab aus dem rasenden Ring.

 

Er stellte sich auf die Heerstraße.

Ließ sich vom Landjäger festnehmen.

Zog auf dem Posten einen verborgen gehaltenen Revolver.

Schoß blindlings auf den Polizeivorsteher, dessen Frau, die Herzueilenden, –

»um lebenslänglich Asyl zu finden,« wie er in den Verhören erklärte.

Unsägliches Leid brachte der planmäßig Wahnwitzige über die zufällig seinen Weg kreuzenden, mitten aus der Daseinsfreude Hingemordeten.

Seine Tat schreit nach Rache.

 

Beruhigt uns Auge um Auge, Zahn um Zahn? Ersetzt es die Getöteten, ewig Verlorenen? Läßt sich, wie wir auch richten, strafen, verdammen, verzeihen, das Mindeste ändern?

Erfüllt aber nicht Strafe, wenn wir schon auf die pharisäische, nimmer abzuwägende Gerechtigkeit verzichten, doch ein Gebot? Erziehen? Abschrecken? Den Gefährlichen selbst, wie jene, die's ihm gern genug gleichtun möchten?

Wie sind sie doch alle buntscheckig verschieden, die einander nachahmen. Wie wenig maßregelt ein und dasselbe Gefangensein die vielfältigen Fehlbaren. Nie wird sich 342's kleines, ameisiges, allzuirdisches Geschick wiederholen. Seine gewöhnliche, fast banale Verbrecherlaufbahn ist dennoch so einzig, wie jeder von uns Einzelnen Einziger bleibt.

Verhüten sollten wir! Nichts als verhüten! Andere sichern vor ihnen, die nicht rechtzeitig bewahrt wurden. Auch Selbstschutz läßt die Wahl: ob Gewalttat, ob Milde.

Gebt uns, die Ihr Völker für Euer Kriegsfeuerwerk auspreßt, ein Teilchen von Eurem Verschwendeten. Ein halbes Dutzend versenkter Schiffe. Ein paar Riesenkanonen. Um den geistig Enterbten Asyle zu bauen. Sie sind es, die sich weder in der Welt der großen, noch in jener der winzigsten, alltäglichen Verträge zurechtfinden können. Zu Verbrechern werden auch sie nur, wenn wir ihnen die Gelegenheit lassen. Es sind ihrer unter den skrupellos Sittlichen, die sich selber zu helfen vermögen, nicht viele. Für sie alle sind wir alle verantwortlich.

Um dieses letzte, um das unser zuchtgesegnetes Herdendasein kreist, dreht sich das Böse und Gute. Schuldig sind wir für diejenigen, denen es weniger gut faßlich ist, als uns. Von denen wir wissen, daß sie nicht zu belehren, sondern nur zu behüten sind.

Wäre wohl einer unter Euch gewesen, die Ihr meine Schrift lest, der einem dieser Numerierten nachgeschaut hätte?

 
*
 

Unterschlupf und Nahrung, dieses Geringste, das 342 aus Entbehrungen der Jugend so aufgebauscht wichtig geworden, besaß er im Zuchthaus. In einer vom übrigen Weltdenken abgewandten Weise hatte er es ertrotzt. Wie der Narr im Wahn, der Mönch im Kloster. Starrnackig, mit blutunterlaufenen Augen das eine, verkümmerte Ziel im Auge.

In der Zelle, abgetrennt von den Versuchungen und aufdringlichen Feindseligkeiten des geizigen Schicksals, wachte er langsam auf und erkannte, wo er sich befand. Tauchte der Rechnungsfehler in gigantischer Nacktheit empor. Sah er, wessen er sich versehen hatte. Brütete durch Tage und Nächte, in der nämlichen, lippenzernagenden Selbstqual, in der nämlichen Wut und Erbostheit, bis der tollgewordene Kreislauf ihn rückwärts hetzte, – zur Flucht, zur Freiheit.

Schneiderarbeit verschuf ihm das Werkzeug. Mit der Schere hackte verkrampfte Geduld Sägezacken ins Trennmesser. Waren sie scharf, gelang ihm jeweilen ein winziger Schnitt in die Gitterstäbe. Hoch mußte er sich zu ihnen emporziehen, an einer Schnur festbinden. Einmal erwischte ihn der Aufseher. »Der Himmel sei da oben näher«, beschwichtigte ihn 342.

Durch acht Monde feilte er sich das Loch in die Zukunft. Gedachte immerhin den Winter hinter schützenden Wänden geborgen zu bleiben. Erst bei wärmender Sonne sein Heil im Weiten zu suchen. Daß ihm ein Wärter berichtete, er müsse in den nächsten Tagen die Zelle wechseln, zwang ihn zum Ausbrechen. An den mit Flaschenscherben gespickten Umfassungsmauern zerriß er die Hände. Entdeckte ein Bahnwärterhäuschen. Plünderte. Auf einem Gehöft schlüpfte er in den gesellschaftsfähigen Rock eines behäbigen Grundbesitzers. Ein Taschenkalender enthielt zwanzig Franken in Noten. Kriegswirbel, Währungswandlungen und Schneetreiben kleinen Papiergeldes waren an den Strafanstaltsecken vorbeigetanzt. 342 ahnte nichts vom Bestehen niedriger Staatskassenzettel. Nahm es für Lotterielose. Wähnte sich von Barschaft entblößt. Trachtete durch Diebstahl und Bettel den Auftakt ins Leben zu schlagen. Des Weges unkundig, in beständiger Angst, entdeckt zu werden, marschierte er nachts. Hielt sich bei Lichte verborgen.

Hunger peinigte ihn. In reichem Dorfe sprach er bei Landleuten vor. Wurde nach Zeitungsberichten als der Entwichene vermutet. Treibjagd von Bauern und Polizisten. Abgemüdet bat er am folgenden Abend in entlegenem Weiler ums Nachtmahl. Der angegangene Hauswirt erkannte ihn. Hieß Teller und Atzung auftischen. Leistete ihm Gesellschaft. Ließ ihn am Kartenspiel festkleben. Dieweil die Männer, die der Gastgeber herzutrommeln befohlen hatte, sich draußen besammelten.

Mäusefallen sind Ausgeburten menschlichen Gemeinsinnes. Der Bauer tat seine Pflicht. Und doch ist man froh, daß man nicht den Speck herrichten mußte, um den eben Aufatmenden seiner unentrinnbaren Bestimmung zurückzufangen.

Als die Nachbarn mit Stricken und Knütteln an Ort waren, holte unser Fallensteller seine Doppelflinte und hielt sie dem Nichtsahnenden auf die Brust. Ihrer Viele halfen den Ohnmächtigen fesseln. Zahlreich aufgebotene, uniformierte Polizei empfing ihn mit sichtlicher Genugtuung.

Das gefährliche, wilde und zähmbare Tier!

Ist das der Ausgang, das Ende, die Lösung, das Mittel? Sollten wir nicht hinter ihm her gewesen sein? Eifrig. Geflissentlich. Gleichfalls unter Aufbietung ganzer Scharen. Lieb und freundlich. Von Jugend an. Keine Mühe scheuen. Beraten. Belehren.

Auch dieser Ausgestoßene hätte seine bescheidene, immer noch wenig wertvolle Geltung gewonnen. Einfältig, wie so viele Andere mehr.

 

Du menschlicher Wirrwarr: Das Große, das Kleine – Milliarden und Groschen – von Eisenhagel eingeebnete Städte, fehlende Dachziegel über den Kammern der Armen – befohlenes Massenvernichten von menschlichem Leben, Aufbieten von Kolonnen zur Rettung des Einzelnen, zum Schutz vor Gefährlichen –

Staatenumschirmender Zwang, Völker in Mordgier zu peitschen und totzuschlagen –

Disziplin, sich unter einander wohl zu tun!


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