Charlot Strasser
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Charlot Strasser

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Alwin Fohrer wechselte Wohnung und Kostort sehr oft. »Hauptanlaß«, wie er sich äußerte, »war die Flucht vor Geselligkeit«. Im blauen Fähnlein verzehrte er in letzter Zeit in dessen hinterster Ecke allabendlich zwei Schalen saurer Milch nebst einem Stück Brot. Bevor er jeweilen zu essen anfing, holte er aus einer Rocktasche einen kleinen, in Seidenpapier gehüllten Gegenstand. Strich an der Umwicklung sorgfältig die Falten glatt und betrachtete eingehend eine weiße Tablette, die er gelegentlich mit dem Finger pietätvoll abtastete.

Während er im Grunde höchstens dem Personal des Restaurants ein wenig auffiel, den Mitinsassen ein stiller, schlichter, alter Arbeiter zu sein schien, der nach seinem Tagewerk hier seine Mahlzeiten einnahm, durchlebte er in seinem Winkel wahre Erinnerungsstürme. Hielt, über sich selbst deswegen erbost, Rückschau in seine Vergangenheit und Zwiesprache mit dem vor ihm liegenden Täfelchen, das ihm die Möglichkeit freiwilligen Abtretens bedeutete.

Vor vier Wochen hatte er einen Arzt konsultiert, um sich zu vergewissern, daß er nicht mehr lange zu warten brauche. Geduldig ließ er sich ausfragen. Setzte seine Anschauung über die Nutzlosigkeit des Erdenwallens auseinander. Brach dann aber, nachdem er den Bescheid erhalten hatte, wie just seine Lebensweise die beste Garantie für noch mindestens ein gutes Jahrzehnt Frist hienieden gewähre, in so trostloses Weinen aus, daß sich der Doktor direkt erkundigte, ob er sich denn lieber aus eigenen Stücken davon machen möchte? Fohrer hatte darauf in seiner bedächtigen, wenn auch leidenschaftlichen Art erwidert, die Ärzte sollten ermächtigt sein, jedem Lebensmüden, der es verlangte, das nötige Quantum Gift zum schmerzlosen, zum wirklich schmerzlosen Hinscheid in die Hände zu spielen.

Der Arzt, übrigens kein Psychiater, hatte geglaubt, er dürfte den schlimmen Heiligen am ehesten durch einen Scherz von seinen Einfällen heilen. Überreichte ihm gewissermaßen feierlich ein Medikament. Versicherte, es werde den Kanzlisten von einem Augenblick zum anderen beglaubigt qualfrei ins Jenseits befördern.

Seither hatte Fohrer mit dem Aspirinscheibchen einen hingebenden Kult getrieben. Ursprünglich war er sehr mißtrauisch gewesen. Daß man ihm ohne weiteres ein so verhängnisvolles Mittel ausgeliefert hatte. Die damalige Bemerkung des Doktors, Fohrer wälze auf ihn, sofern er die Tablette schlucke, die ganze Verantwortung für seinen Selbstmord, ging ihm beständig durch den Kopf. Auch, daß der Arzt hinzugefügt hatte, er wolle immerhin die Probe machen, ob ein so sündengrauer Mann tatsächlich einen derart jugendlich-nihilistischen Grundsatz, wie »nach mir die Sündflut«, befolgen könne. Obschon Fohrer also sein Erlösungszeltchen vor sich liegen sah, war es zwischen ihm und dem »Gifte« nicht über eine vorsichtige Unterhaltung hinausgekommen. Einmal zweifelte er eben an dessen Wirksamkeit. Stellte sich vor, wie er dann furchtbar enttäuscht sein würde, wenn er sich vorbereitet und schließlich die Todesfurcht überwunden hätte und wieder erwachen müßte. Andrerseits beargwöhnte er die verheißene Schmerzlosigkeit, die unter allen Umständen seine Kardinalbedingung zum Rechte der Selbstenteignung blieb. Kurz, er brütete, indeß er seine saure Milch auslöffelte, über Todeswegen. Über das Ziehen der letzten Konsequenzen aus seiner Weltanschauung. Über den Wert seiner Leidensgeschichte. Über die Auswahl der anzuordnenden Bestattungsfeierlichkeiten. Er ertappte sich nicht einmal, daß er damit über den Abmarsch hinaus dachte.

Nachdem ihm jetzt auf der Bezirksanwaltschaft jenes Erlebnis, dem er als Wendepunkt seines Schicksals gerne die Schuld zuschob, viel zu stark aufgewirbelt worden war, entschloß er sich endgültig, die Pille zu verschlucken. Nur – mußte er doch noch bis zu Hause warten. Um in einer schriftlichen Erklärung anstandshalber den Arzt zu entlasten. Außerdem auch zu Nutzen der Nachwelt seinen Standpunkt klarzulegen.

Er wickelte denn die Tablette wieder sorgsam ein. Bezahlte die Milch. War nach fünf Minuten in seiner Dachkammer im vierten Stock. Ohne Vorfenster. Die er nie zu heizen pflegte. An einem Reißnagel hing ein halber Briefbogen mit den Worten:

»Möglichst einsam und einfach leben!
Allmähliche Unterdrückung
der Daseinsverzückung
erstreben!«

Nun fror ihn dermaßen erbärmlich, daß er sich in Kleidern und Mantel in die einzige Decke seines Schragens einhüllte und – durch Kälte und Müdigkeit sogar am Selbstmord verhindert – innert kürzester Zeit einschlief.

Kaum öffnete er am folgenden Morgen die Augen, ward ihm bewußt, daß er im Traume dreimal den Tod gesucht und nicht gefunden hatte. Eine Lokomotive war mit brüllendem Wasserdampf über ihn weggefahren. Hatte ihn gleich darauf mit eisernen Zangen in einen Kriegszeppelin gehoben, der von einem Schornsteinfunken der Maschine Feuer fing, explodierte und ihn unsanft neben den Bahndamm hinwarf. – Ein Lassoreiter hatte ihm die Schlinge um den Hals geschleudert, zugezogen, den Kopf weggerissen, der sich aber trotz dem fürchterlichsten Erstickungsanfall sofort wieder auf den zugespitzten Strunk stülpte. – Von der Halenbrücke war er in die Aare gesprungen. Auf dem Kies in der Tiefe zerschmettert. Eine ewige halbe Stunde hatte er die Todesangst ausgestanden. Bis er unten anlangte. Alle Knochen waren windelweich geschlagen. Dennoch mußte er über unzählige Treppenstufen am Flußufer in die Stadt zum Mittagessen klettern.

Nach solchen Nachtgesichten wurde ihm der Vorsatz zur eigensinnigen Pflicht, seinen Lebensfaden abzuschneiden. Nur war die Mansarde zu den letzten Anordnungen auch diesmal zu kalt.

Dumm. Dann ging man, wie allmorgendlich, in ein städtisches Lesezimmer. Übrigens täglich in ein anderes, um ja mit niemandem in Berührung zu treten.

Am Ziel eingetroffen schrieb er:

»Das Recht auf Morphium.
Vorgeschlagen und begründet von A. F.

Die Ärzte sind ermächtigt, in Notfällen schmerzlose Todesmittel zu verordnen. Dieses Recht sollte ausgedehnt werden. Auf Verlangen müßten die betreffenden Herren jedermann den passenden Erlösungstrank verabreichen. Ein solches Gesetz wird sich aufdrängen. Wie die geschlechtliche Aufklärung gekommen ist, die erlaubte Einleitung der Frühgeburt, die quallose Tötung der Tiere usw.

Nur in Notfällen? . . . . Genau betrachtet, ist jeglicher Daseinsverlauf nichts als ein einziger Notschrei, mit etwelchen leidfreien Pausen. Wir schweben von Geburt an beständig zwischen Gesundheit, Krankheit und Grab. Wir können wohl Nahrungsmittel sammeln, die Hygiene befolgen undsofort. Ungeachtet aller Arbeit und aller weiteren Tugenden ist der Tod Sieger. Wir haben nur die Wahl: selbstwillig wieder ins anorganische Chaos zurückzukehren, oder den Zeitpunkt der Rückkehr dem Zufall anheimzustellen. Und wir haben auch nicht die Wahl zwischen Kampf und Sterben. Der Lebenskampf ist ein äußerst vergeblicher. Ein in die Länge gezogener Sterbekrampf. Gänzlich aussichtslos von Anbeginn. Aus der Keimzelle sind wir Verwesungskandidaten. Ohne Ausnahme zum Hochgericht verurteilt. Wir vermögen die Galgenfrist einigermaßen hinauszuschieben. Begnadigung gibt's unter keinen Umständen. Noch ein klein wenig Sein oder sofort nicht mehr Sein, das ist die Wahl, die wir haben. Und in beiden Fällen müssen wir auf unsere gesamte Beute verzichten. Wird dadurch nicht jede Weltlust verbittert, jede Strebensfreude zerstört? Ist das nicht Notlage genug?«

 

Fohrer äugte zu jedem Satz von seinem Papier, das sich leicht unter seiner Handfläche verbergen ließ, argwöhnisch umher. Nahm, nachdem er wahrgenommen hatte, daß mehrere Lesesaalbesucher hinter ihm am Zeitungsständer hantierten, seinen Platz neben dem Fenster. Erst, als ihm niemand so nahe schien, daß er seine winzigen Buchstaben hätte entziffern können, schrieb er aufs Neue:

 

»Die Vernunft will ein bleibendes Schlußresultat sehen. Einen Endzweck des großartigen Lärmens. Eine entsprechende Kriegsentschädigung. Die Vernunft verlangt persönliche Ewigkeit, Aussicht auf Allwissenheit, Allmacht, Gottähnlichkeit . . . . Die Gerechtigkeit fordert Existenzsicherheit, Fröhlichkeit, allseitige geistige Befriedigung, mindestens aber schmerzloses Abgehen . . . . Statt dessen gibt es nichts als beständige Ungewißheit, fortwährende Veränderung, blindes Zeugen und Vernichten, ziellosen Kreislauf . . . .

Wer verfeinerte Ansprüche vorbringt, kann seines Odems nicht froh werden und jedenfalls für seine Erhaltung und Verlängerung keine großen Anstrengungen machen. Man mag die bessere Einsicht verdrängen mit optimistischer Philosophie, mit utopistischer Politik, mit leiblichen und spirituellen Unterhaltungen, mit Theologie und Fortpflanzung . . . . aber alle derartigen Heiterkeitsmittel sind nur Selbstbetrug, höherer Alkoholismus, physiologischer Leichtsinn, absichtliche oder unbewußte Betäubung, Flucht vor der nackten Wahrheit, vor den letzten Konsequenzen der Selbsterkenntnis.

Und aus dieser Not soll man sich nur durch Erhängen, Verhungern, Erschießen und ähnliches erlösen dürfen?

Haben wir anläßlich unserer Geburt und Erzeugung nichts zu bestimmen, so wird es uns hoffentlich gestattet sein, etwas zu unserem Abkratzen zu bemerken. Es erübrigen sich auch dann unfreiwillige Todesfälle in Masse. Die meisten Menschen verenden ja schon im ersten Altersjahre.

Übermitteln wir uns der Gnade und Ungnade des mechanischen Weltganges, wird unsere Sterbestunde höchst unpassend schlagen. Ruhiges Entschlafen zur passenden Zeit, an passendem Ort, ohne vorherige Krankheit, ist außerordentlich selten.«

 

Fohrer war unzählige Male gestört worden. Schon seit zwanzig Minuten schaute ein Mann im Schlosserkittel, die Hand in der Binde tragend, durchs Fenster auf die Straße. Feindselig empfand ihn der schriftstellernde Kanzlist als Nichtstuer. Wechselte abermals seinen Platz. Ein kunstvoller Aufbau aus herumliegenden Tagblättern und dem Adreßbuch gewährte ihm das Gefühl der Sicherheit, weiterzukritzeln:

 

»Die Erleichterung des selbstverfügten Hinschiedes wäre zudem ein Vorteil für die Optimisten. Sie würden viel eher entlastet von den unbrauchbaren, ungemütlichen Mitreisenden. Zwingt man sie zur Fortsetzung der Fahrt, ist man verpflichtet, ihnen die nötige Wegzehrung, die Eisenbahnspesen zu liefern.

Grundlos wird niemand in den Sarg verlangen. Ob der Grund schwer genug wiegt, wird der Patient vermutlich deutlicher empfinden als der Arzt. Man gönne also den Kampfmüden einen schmerzlosen Abschied. Wie man dem erschöpften Wanderer einen guten Schlaf gönnt.

Das allgemeine Recht zur Abkürzung des Lebens bedarf keiner spezielleren Verteidigung. Über dieses Thema ist wahrscheinlich in jeder Hinsicht gesagt worden, was zu sagen ist.«

Den ganzen Morgen hatte Fohrer mit Abfertigung seines Schreibens vertrödelt. Er legte es, zusammen mit der in Seidenpapier gewickelten Tablette, in einen Umschlag, trug beides zur Wohnung des Arztes und übergab es mit einer tiefen Verbeugung dem öffnenden Dienstmädchen.

Dann nahm er im Vegetarierheim das Mittagsmahl.


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