Otto Stoessl
Morgenrot
Otto Stoessl

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XVI.

Jetzt war das »H« aus dem Liebesalphabet verschwunden und das M beherrschte alle Seiten der » Ama«.

Die blonde Mizzi hatte in aller Sanftmut die ferne Rivalin besiegt, aber es hielt schwere dem störrischen Toni das Leben rechtzumachen, denn er war im Grund ein mißtrauischer, trotziger, junger Mensch, welcher mit sich selbst unzufrieden, im Selbstvertrauen früh verletzt, von allen Menschen mehr Uebles als Schönes gewärtigte. Hatte er doch in einem sauren Gestrüpp von Mangel, Kummer und Neid seine Kindheit verlebt, und als er zum erstenmal geliebt, eine Seelenwunde erhalten, welche nie mehr heilen sollte. So lag täglich, ja stündlich seine aufbegehrende Jugend mit seinem vorzeitig nörgelnden Alter im Kampf.

Die Jugend wollte ihr Zutrauen und ihr heiteres Glück und neigte sich dürstend zur Quelle der Liebe, das Alter aber riß ihn zurück, es erinnerte ihn an die versagte Hedwig, an seine bösen Gedanken, an sein reizbares Mißtrauen. Da er sich selber nichts recht machte, konnte ihm das Mädchen auch nur schwer etwas nach seinem Sinne tun. Da er an seiner Liebe zweifelte, wollte er die ihrige nicht glauben. Wie sollte sie einen halben Krüppel lieben können? Die Mizzi war mild, sanft, gleichmütig, darum verdroß es ihn, daß sie nicht wild, launenhaft und leidenschaftlich sein konnte. Ihn reizte der wolkenlose Tag, drum beschwor er selber Sturm herauf. In der eigentümlichen Schamhaftigkeit, welche dem weiblichen Geschlecht als vertrauenswürdiger Schutz verliehen ist, wahrte Mizzi bei aller Zärtlichkeit eine gewisse sanfte Zurückhaltung. Er stand in Flammen, während sie kühl schien. Ihre Wangen erröteten, aber es war nur der Wiederschein seiner Leidenschaft, nicht ihre eigene. So glaubte er wenigstens, so klagte er sie an.

Sie sei spröd, abweisend, ja sie zöge ihre Liebe zurück, nachdem sie die seine hervorgelockt. Und wenn er zürnte, mußte sie weinen, als seien Tränen eine Rechtfertigung. Dann weinte sie nächtelang, weil sie ihn doch lieben müsse. Aber wenn sie ihn wirklich liebte, könnte sie nicht kalt gegen ihn sein. Dann gab es Feste der Versöhnung, man aß in Konditoreien Gefrorenes und hielt nach irgendeiner Kirchenandacht etwa im Dominikanerkeller ein kleines Biergelage. Die Mizzi konnte nicht vergessen, daß sie blond war, und daß der Toni eine Schwarze vor ihr geliebt hatte. Damit neckte er sie auch. So kaufte sie ihm Schokoladenbackwerk, damit sie ihm doch etwas Schwarzes biete. Und als er einmal eine Privatstunde bekommen sollte, welche er zur Aufbesserung seiner mageren Finanzen dringend benötigte, traf es sich, daß die Lektion in einem Hietzinger Landhause ausgeschrieben war, welches »Villa Hedwig« hieß. Zum Unglück scheiterte die Sache und Mizzi freute sich, als habe der liebe Gott ihr noch einmal die Nebenbuhlerin besiegen geholfen.

Im Frühling wanderten sie, von der geduldigen und verständnisvollen Mutter begleitet, täglich in den Prater. Und abends, wenn es dunkelte, gingen sie über annehmliche Seitenwege, weit hinter der braven Mama Hilsch, und durften einander nach Herzenslust küssen.

Mizzi sah nichts als Schönes an ihrem Gesellen und schien gar nicht zu wissen, daß er einäugig war. Da hielt er es für seine Pflicht, ihr sein Gebrechen zu entdecken. Das geschah im Prater, als sie an seinem Halse hing und sprach: »Du schaust so lieb.« »Mit einem Aug' zu dir, mit dem andern in mein Elend,« gab er zurück. »Gewiß, das mußt du, denn ich bin dir nicht schön genug und lange nicht recht für dich, mein Liebster, drum hast du wohl Kummer?« »Nein, das mein' ich anders, ich sehe nur mit einem Aug', das andere ist von Glas und eingesetzt. Das sollst du nur wissen.« Da erschrak sie, ließ die Arme von seinen Schultern sinken und brach in ein tiefes, herzbrechendes Schluchzen aus.

»Ich hab's ja gewußt, daß du mich nicht mehr lieben kannst, wenn du das erfährst, denn ich bin ein armseliger Krüppel, wie darf ich mich deiner vermessen, die du ganz und gesund und schön auf der Welt hergehst.« »Nein, nein,« wehrte sie und schlang die Arme wieder um ihn, drückte ihn eng an ihre Brust und verbarg den Kopf an seiner Schulter.

»Du kannst mich nicht anschauen,« sagte er und löste sich von ihr.

Und als sie tränenüberströmt ihn nun voll anblickte, meinte er trotzig: »Ja jetzt, weil du Mitleid hast mit mir. Es ist aus. Ich hab' es gewußt. Es ist aus. Alles ist aus.«

»Mein armer, was bildest du dir ein.«

Er sprach aber kein Wort mehr, und so oft sie ihn zu trösten begann, wiederholte er nur: »Es muß aus sein.« Erst am nächsten Tage begann er ihr zu glauben, daß sie ihn darum nur noch besser liebe und treuer, je mehr sie ihm zu verzeihen hatte, desto glücklicher war sie.

Von Furcht und Zorn bis zum Haß, dann zur Eifersucht, zur Zärtlichkeit, zu Stolz und Uebermut wandelte sich der Regenbogen, der über dem blassen Felde dieser Seelen glänzte durch alle Farben der Liebe. Heute erschien ihm sein Mädchen recht mittelmäßig und ohne sonderlichen Reiz, am andern Tage sah er sie erblüht und holdselig, wie einen Rosenstrauch. Wenn sie häßlich erschien, war es seine Schuld, und sein Verdienst war es, wenn sie schön einherging, wenn ihre Augen leuchteten, wenn sie seinen Scherz entzückt erwiderte, und sein Witz, aus ihrem Geist widerspiegelnd, blitzende Sonnenbilder strahlen ließ. Er erschuf sein Geschöpf und hieß es glücklich oder elend sein, und wenn ihr Gang schwebte, ihr junger Busen sich in der stolzen Haltung der freien Glieder straffte, dünkte es ihm, auch ihren Leib habe er gebildet, daß er seinem Wunsch Antwort gebe.

Nur ihre Frömmigkeit war ihr angestammtes Eigentum, hierin duldete sie keinen Widerspruch, darum eiferte er gerade dagegen, als gegen ein Wesen, das er nicht bestimmt. Er glaubte an nichts, darum sollte sie an ihn glauben. Sie aber meinte, nur der Glaube fehle ihm, damit er ein ganzer, zufriedener, klarer Mensch werde. Deshalb zog sie ihn zu allen Pfingstandachten und er folgte mit seinem Spott und sah sich an einem offenen Altar unter blühenden Kastanien mitten in einer belebten Straße knieen.

»Was machst du für einen verdrossenen Gottesknecht aus mir.«

»Sei still. Heute hab' ich für deine arme, so früh verstorbene Mutter gebetet. Tu's mir zu liebe und bete auch für sie, nur ein Vaterunser.«

Da schwieg er gerührt. Welche schönen Vorwände weiß ein treuer Glaube. Er hatte bisher kaum jemals der Frau gedacht, die ihn geboren, und die er gar nicht gekannt hatte.

Die » Ama« war erfüllt von all diesen kleinen, großen Angelegenheiten eines betrübten und wieder erhellten Gemütes, dessen Leidenschaften sich dem Freunde in ihrer Qual und ihrem Genuß einfältig darstellten, denn nur einen Menschen hatte der Toni Scharrer, welchem er vertraute, der ihn aus eigenem Wissen und Gemüt verstand, der nicht als Echo, sondern als tapfere Gegenstimme antwortete.

Der Verbannte aus der Polackei führte allerdings jetzt eine wunderliche Sprache. Er erzählte jedesmal von einem anderen Frauenzimmer, denn mit dem Toni war von nichts anderm zu reden, und darum probierte der trotzige Junggeselle, welcher sich zu solchem Gefühl unbeschaffen glaubte, allerhand willkürliche Unternehmungen der Liebe. Es gab mancherlei Mädchen in Hruschau und Ostrau, ganz hübsche darunter. Er versuchte, sich mit ihnen abzugeben und litt es ganz gerne, wenn sie um seinetwillen allerhand Schleifen aufsteckten, die Hälse drehten, lächelten und zierlich taten. Aber er hielt es bei keiner lange aus, denn sie waren keine Gräfinnen oder Baronessen, oder abenteuernde Kammerjungfern, nicht einmal feingebildete Bürgerinnen, sondern steife Provinzfräulein. Und wenn sie noch so hochdeutsch redeten und gebildet taten, kam unversehens eine Dummheit wie ein Mäuslein hervorgeschossen, dann schienen sie puterrot und roh. Darum phantasierte er in seinem Journal jedesmal von einer neuen Liebesgeschichte, einmal von einer Elisabeth, eine Woche drauf von einer Theresia. Und wenn die nächste Nummer der » Ama« erschien, die wegen Dieters endlich offenkundiger Liebe und weil er gezähmt und bezwungen sei, purpurrote Fahnen des Triumphes aushing, war der Verbannte schon wieder auf einem anderen Wege, als ein Don Juan im Kommerz. Aber diese Abenteuer erdichtete er nur, weil er sich schämte, so ungesellig dazustehen. Was er erlebte, war mißliebig, langweilig und jedes Wortes unwert. Dann tat er wieder seine ganze Verachtung auf und wenn der Toni das Pfauenrad seines Glückes aufschlug, berichtete Dieter höchst sachlich von einem echten, türkischen Tschibuk, den er erstanden hatte und mit duftendem Zigarettentabak füllte. Das bernsteinerne Mundstück dieses erlesenen Rauchwerkzeuges sei köstlich wie der Busen einer Jungfrau.

Der Toni baute das Luftschloß seiner künftigen Ehe, er würde draußen wo auf dem Land als Lehrer leben, sein Gärtlein bauen und arm zwar, doch glücklich hausen, wenn einmal die mageren Jahre um wären.

Dieter gab diese Maxime zurück: »Die Ehe ist die kostspieligste, schlechteste, unersprießlichste und ungenügendste Form der Liebe.«

Als der Sommer kam, wuchs mit den heißeren Tagen zuweilen die Erinnerung an das Innviertel und an den Buchstaben H unversehens empor und in der » Ama« gab es wiederum ein zaghaftes Kalendarium: »Heute vor einem Jahr habe ich dir auf dem Schiffe bei einem Glase Bier und der Zigarre von dem freundlichen Leutnant einen traurigen Brief geschrieben, zwischen Linz und Engelhartszell.«

Mit einemmal begann dem Toni das Journal gleichgültig zu werden, indem er von dem täglichen Geschehen, oder vielmehr von dem gleichmäßigen Einerlei seines Glückes zu berichten zögerte, zumal der Freund mit allen seinen vorgeblichen Abenteuern und Liebeshändeln ihn zum besten hielt und sich recht als hartgesottener Weiberfeind erwies. Deshalb erschien zu Hruschau eines Tages eine Nummer der » Ama«, welche mit anderer, sorgfältiger, weiblicher Kommerzschrift ausgefertigt, von der Mizzi verfaßt war. Die bemühte sich freilich, genau im Stil ihres Liebsten zu berichten. In das schöne Freundschaftsverhältnis eingeweiht, wollte sie selbst im Bunde die Dritte sein, erzählte von ihrem Toni und von sich, wie dieser berichtet haben würde und zwang sich zu einer Offenherzigkeit, deren sie sich doch wieder ein wenig schämte, was ihrem Journal eine zimperliche Kühnheit verlieh, als bemühte sich ein Frauenzimmer, starken Tabak zu rauchen, in Mannshosen die Beine übereinanderzuschlagen und burschikose Reden zu führen, um sich vor all dieser Keckheit doch bitterlich zu fürchten. Aber sie schrieb darum gleichwohl tapfer jede Woche ihre Zeitung, denn sie vertrat, wie es die Tagschreiber sonst oft nur vorgeben, eine eigene Politik und ihre weibliche Liebessache, für die sie auf diese Art zu wirken hoffte. Sollte doch der Freund ihren Herzliebsten aufmuntern und bei Laune erhalten, von seinen Zweifeln heilen, in seinem wahren Gefühl bestärken und durch sein Zeugnis den Schwankenden stützen. Andererseits konnte sie nicht umhin, die Rolle zu spielen, welche allen Weibern die liebste bleibt, nämlich die einer Ratgeberin und Erzieherin, welche die ungebärdigen Sitten und Ausdrücke der trotzigen Gesellen abschleift, sanftmütig und edelsinnig macht. Wollen doch die Menschen nun einmal sich der Mühe nicht verdrießen lassen, einander zu bekehren und gleichzumachen, während sie just aus der gegenseitigen Verschiedenheit allen Nutzen und Genuß ziehen.

Von der Frömmigkeit wagte sie freilich nicht zu sprechen, denn die innerste Gesinnung eines Menschen ist wie ein zartestes, leibliches Organ so tief in ihn verschlossen, daß er zögert, es auch nur dem Angriff eines Blickes auszusetzen. Es gibt eine Scham der Seele, welche zurückbleibt, wenn sogar die des Leibes sich abgetan und verraten hätte. Aber eben diese Scham ihres starken Glaubens trieb sie zur Ueberwindung mancher andern weiblichen Scheu, indem sie hoffte, ihren Geliebten mit Hilfe des Freundes sacht auf die Seite des Bekennens hinüberzuziehen, wenn sie nur sonst ihm alles zuliebe tat.

Aber die Mizzi war in diesem Kampf als werbende Bekehrerin, die ihr Gefühl einer fremden Vernunft beweisen mußte und auch als Frauenzimmer von Natur zur Duldung und Bestimmbarkeit angewiesen, gegenüber den zwei gleichgültigen Gesellen arg im Nachteil, die sich ihrer unbekümmerten Gesinnung, als ihrer wahren Freiheit erwehrten. Mag das Gotteshaus des Weibes eine schöne, ausstaffierte Kirche sein, in welcher Musik, Messe und Kunstwerk aller Art einen wohlgeordneten Gang des Daseins verherrlichen, so bleibt der Tempel des Mannes doch am liebsten das weite Ganze der Welt, wo selbst die Chöre der Engel und die Wunder des Herrn vom unbegrenzten Himmel zur offenen Seele dringen, ohne Vertretung von Dienern, ohne Einschränkung in Mauern und Zeremonien. Mag das Weib zum Leib des Herrn beten, der Mann betet zum Geist. Und so mancher kräftige Zweifel stammt aus einer stärkern fordernden und freien Frömmigkeit des Gemütes, als das Weib empfinden kann, welches allen Gewalten der Natur gehorcht und glaubt. Die männliche Scham des Unglaubens und der Verneinung ist die Scham der Freiheit, die sich selbst Gottes erwehrt, die weibliche der innigsten Bejahung und Versenkung in eine schützende Kirche und Ordnung ist die Scham des Gehorsams, welcher sein Unterliegen heiligen muß, um es sich zu verzeihen.

Dieter hatte nun seinen Spaß daran, sich vor dem sanften Geschöpf um so stachliger zu gebärden, je zarter es ihm predigte. Stellte er sich dem Toni als heiterer Weiberfeind dar, so spielte er sich der Mizzi gegenüber gar als gleichgültiger, ruchloser Don Juan auf, der die Weiber nicht eben zur Kirche führte. Zu Ostrau gab es einige reichere und ärmere Jüdinnen, welche an den Unterhaltungen der Gesellschaft, halb geduldet, halb verachtet, teilnahmen. Da er ohnedies in Zwilchhose, schwarzem Rock und rotem Fez, einen Ziegenhainer in der Hand, einen Tschibuk im Mund, als » member of the theosophical society of India« durch die Beamtenöde einherstolzierte, legte er besonderen Wert darauf, auch dem verhaßten Volk Israels gegenüber sich anders zu gebärden, als der Haufe, welcher halb mit Scheu und Furcht, halb mit Haß und vorsichtiger Duldung neben den Fremdlingen hergeht, als seien sie insgesamt böse Meerwunder. Auch hatte seine ruhige und unbekümmerte Beobachtung, von vorgefaßten Meinungen nie beirrt, ihn darauf verwiesen, das Gegebene in seinem Widerspruch und Nebeneinander eben zu nehmen, wie es da war, im Leben das Brauchbare zu ergreifen, das Ungemäße abzulehnen und selbst das Widersprechende weniger mit Haß, als mit unwillkürlich genauer Einschätzung in den natürlichen Abstand zu setzen.

Da nun in Hruschau und Ostrau diese Judenmädchen selbst in der Gesellschaft der übrigen auf den Verkehr mit ihren Stammesbrüdern verwiesen blieben und von den Christen gemieden, in einen unsichtbaren Kreis gebannt waren, in welchem sie sich nur gezwungen bewegten, weil sie einmal auch die andern kennen zu lernen und sich gerade mit ihren Verächtern zu messen wünschten, beschloß er, es mit ihnen zu wagen, sich ihrer anzunehmen.

Er wollte doch sehen, wie diese, zum Teil ganz anmutigen Frauenzimmer mit ihren mandelförmigen, schwarzstrahlenden Augen, dem gekrausten reichen Haar, den geschwungenen, doch nicht unedeln Nasen, den roten Lippen, dem lebhaften Spiel der vollen Körper eigentlich beschaffen waren, ob sie sprachen, lebten, gar liebten, wie andere Wesen ihres Geschlechtes. So überschritt er den unsichtbaren Kreis und unterhielt sich mit einer Rosa und Ida und wurde mit jenem hellen Entzücken aufgenommen, das den Unterworfenen eigen ist, wenn sie ihre Herren duldsam sehen.

Freilich waren die jungen Jüdinnen im Lande auch nicht anderes, als die Christenmädchen: Provinzlerinnen und Spießbürgerinnen, nur mit mehr vorgeblichen Bildungsinteressen, hochgeistigeren Gesprächen und gewandterer Redelust, aber auch ihnen fuhr das Mäuslein der Ostrauer Einfalt aus dem Munde.

Darum hätte er sich leichthin auch diesem Umgang, wie dem bisherigen entzogen, wenn die Schönen ihn nicht als eine seltene Beute leidenschaftlicher umringt, die christlichen Jünglinge aber ihn wegen dieses schnöden Verrats seiner angestammten Vorrechte nicht gröblich angefeindet hätten. Dadurch wurde er genötigt, um sich zu schlagen, und die Gekränkten ritterlich zu verteidigen. Wohl oder übel mußte er die Gastfreundschaft dieses jüdischen Branntweinverkäufers, jenes Kurzwarenhändlers und an sorgfältig gedeckten Jausentischen inmitten zahlreicher, beleibter, älterer und schmachtender jüngerer Damen bei süßem Kaffee gebildete Gespräche über sich ergehen lassen. Eines Tages stellte ihn ein verkrachter, ehemaliger Student darob zur Rede, der hier in einem Schreiberposten eine dürftige Zuflucht gefunden hatte, deren er sich an einem schwarzrotgoldenen Uhrband mit Bismarcks Bild auf einer Blechmünze, an manchen Frühschoppen mit Studentenliedergebrüll und schlecht nachgeahmten Kommerssitten getröstete. Wie könne sich ein deutscher Mann an solches Gezücht von Jüdinnen halten, welches einen Jüngling schon durch die Blicke besudle, es sei Dieters Pflicht, in diesem bedrohten Lande die treue Sitte der Väter zu wahren, die lieblichen Mädchen der deutschen Bürger zu ehren und was dergleichen Redensarten mehr waren.

Dieses Gespräch fand an einem einsamen Wiesenwege statt, auf welchem Dieter eben aus einer mißlichen Judenjause beschämt nach Hause zurückwanderte. Gerade weil ihn die Gesellschaft der Verachteten arg enttäuscht und verdrossen hatte, erregte die ungebetene Verwarnung seinen Zorn. Er wandte sich dem versoffenen Schreiber voll zu, sah ihn erstaunt an und fand das öde Gesicht dieses deutschen Mannes so widerwärtig. daß er keine andere Antwort geben konnte, als indem er mit einer abwehrenden Gebärde, die ihn nachher selbst erstaunte, zu weit, just in die breite Fratze hineinschlug, die ihm entgegengehalten wurde. Der Betroffene, ebenso fassungslos wie Dieter, taumelte zurück und anstatt sich zu wehren, verzog er sich fluchend und drohend und verschwieg die widerfahrene Unbill. Dieter fand nicht, wie er gewärtigte, einen Ehrenhandel, sondern nur mehr die vollständige, stille Verachtung der übrigen. Man ließ ihn zwar mit drohenden Seitenblicken, doch ungeschoren, seinen Narrenweg wandeln.

Dieses Abenteuer berichtete er in seinem Antwortjournal höchst einläßlich und, obgleich längst entschlossen, Juden und Christen als unabänderliche, verdrießliche Naturerscheinungen bloß aus der Ferne zu betrachten, tat er, um des Scherzes und Spottes willen so, als sei er ernstlich in diese schwarze Jüdin Rosa verbrannt; schwärme um ihr mosaisches Feuer, interessiere sich höchlich für ihren Glauben und ihre Sitten und verstieg sich zu einer merkwürdigen Bestellung. Der Toni sollte ihm ein jüdisches Lesebuch besorgen, da er die Schrift und Sprache des Volkes seiner Angebeteten zu lernen gedenke.

Damit hatte er das tiefste Gefühl der Mizzi beleidigt, welche eine völlige Brandrede, in der nächsten » Ama« gegen ihn losließ. Sie, die Schreiberin dieses Journals, habe hohe Stücke auf den Freund ihres Toni gehalten, darum könne ihr sein Heil nicht gleichgültig bleiben, sie dürfe nicht zuschauen, wie er sich in seiner Torheit von dem verhaßten Judenvolk umgarnen und verkuppeln lasse, das wie weiland nach dem Leib, nun nach der Seele von Christenmenschen lechze. Er möge mit Frauenzimmern spielen, wenn er durchaus nicht anders könne, Herzen verführen, die es verdienten und litten, aber nicht sein eigenes Gemüt verraten und verkaufen. Sie sei eine Deutsche und könne es nicht ruhig ansehen, wie ihres Toni einziger Gefährte sich so verderbe.

Diesmal mischte sich auch der Toni drein und schloß die Kapuzinerpredigt seiner Braut mit folgenden, dürreren Worten: »Was deine neue Narrheit will, versteh' ich nicht recht. Wenn du durchaus deine jüdische Rosa magst, sollst du von mir aus selig werden, denn ich wünsche dir, so oder so, eine echte, rechte Liebe. Täusche dich nur nicht. In Gottes Namen denn: viel Glück und ein schönes Wetter!

Ich weiß, die Wege der Liebe sind dunkel, warum sollten sie nicht auch zu einer schönen Jüdin führen. Aber deine Bestellung eines jüdischen Lesebuches werde ich nicht ausführen. Daß du dein Geld auf solche Dummheiten hinauswirfst, leid' ich nicht, will dir wenigstens dazu nicht noch helfen. Die jüdische Schrift brauchst du doch nicht, um eine Jüdin zu verstehen. Magst du durchaus eine solche Mosesfibel erwerben, so laß sie dir durch einen Buchhändler besorgen. Ich weigere mich, wenn ich dir raten soll, kauf' dir einen anständigen Tabak oder was du sonst brauchst, um deine paar Kreuzer, und wenn du schon jüdisch lernen willst, laß dir's von der bewußten Rosa vorbuchstabieren. Fertig.«

Da Toni mit Stolz am Arme seines Mädchens und eine Zigarette im Munde durch die belebtesten Gassen spazierte, konnte es nicht fehlen, daß er auch von seinen Lehrern gesehen wurde. Ist in ihren Augen schon das Rauchen und Kaffeehaussitzen dem Studium zuwider, so muß ein Mädchen am Arm die Hand ganz und gar vom Aufgabenschreiben, den Kopf vom Lernen abhalten. Bekanntlich führt die Liebe auch zu Gedanken, Worten und Dingen, die aber, zur Unzeit betrieben, höchst unsittlich, gefährlich und verrucht sind; mag auch von ihnen der Fortbestand der Menschen und mithin auch der Lehrer und Schüler abhängen. Nicht nur die Schule, sondern alle Einrichtungen der Gesellschaft beruhen auf einem willkürlichen Kalendarium der Rechte und Pflichten, nach welchem ein Jüngling erst mit dem Abgangszeugnis in der Tasche nach Liebe ausschauen darf. Was gemäß dem Kalender erfolgt, ist sittlich, was gegen ihn verübt wird, schamlos.

Der Direktor der Lehrerbildungsanstalt zitierte den Steueramtsadjunkten Scharrer in seine Kanzlei und eröffnete ihm den der Schulordnung arg widersprechenden paarweisen Lebenswandel Tonis. Der Toni würde in dieser Anstalt zum künftigen Bildner der Jugend erzogen, sozusagen geweiht. Wie sollte ein einstiger Lehrer sich so arg vergessen dürfen, ein Liebesverhältnis anzufangen, welches Beispiel sei von einem so früh verderbten Charakter seinerzeit für die ihm anvertraute reine Kinderschar zu befürchten, wie sollte der Zucht und Strenge halten, welcher selber sich in Unehren behagte? Wenn dem besorgten Vater das Schicksal seines Sohnes lieb sei, möchte er ihn vom Abgrund retten, in welchen der offenbar verführte, sonst ganz begabte und hoffnungsvolle Kandidat zu versinken drohe. Noch sei es Zeit, der Toni stünde im letzten Jahr seiner Präparandie, vor der Reifeprüfung, ehe es zu spät sei, müsse Wandel geschaffen werden.

Man kann sich leicht vorstellen, mit welchen Empfindungen der Vater in seinem Einerlei der Beamtensklaverei von dem unerlaubten Frühling seines mißratenen Sohnes erfuhr. Zorn, Scham, Angst und eine demütige Verwirrung machten den niedrigen Menschen noch kleiner, als er ohnehin war. Wie so mancher Alte vergaß er, daß er zu seiner Zeit etwas Aehnliches unternommen oder gewünscht, und selbst wenn er sich die Gerechtigkeit des Triebes eingestanden hätte, bedrohten ihn dessen Folgen. Er sah nur das Unheil, das den Jungen ereilen mußte, die Schande, aus dem Beruf gejagt zu werden. So lange hatte er den Buben erhalten, sich alles abgespart, um ihn lernen zu lassen, der jetzt, einen Schritt vom Ziel, zu fallen drohte. Was sollte dann aus dem jungen Menschen werden?

Er hatte mit Toni eine strenge Auseinandersetzung. Der leugnete gar nichts, nahm die Sache aber nicht ernst, er studiere ordentlich, bestehe bei allen Prüfungen, weiter gehe diese Schulfüchse nichts an. Er liebe sein Mädchen und damit Schluß. Der Vater findet sich dem Sohn gegenüber zum ersten Male wehrlos. Sein Schelten wie sein Bitten versagt und er muß sich gestehen, daß mit einem gewissen Alter die väterliche Gewalt von der höheren Macht der Natur beendet, ja verhöhnt wird.

Er ergriff das letzte Mittel und schrieb an Frau Hilsch, stellte ihr die Gefahr dringend vor Augen, welche bei den jungen Leuten aus diesem aussichtslosen Verhältnis drohte und bat sie, ihre Macht aufzubieten, um wenigstens die Tochter zur Besinnung zu bringen.

Nur ein armer Weltfremdling, wie er, konnte glauben, ein Weib würde eine Liebe unterdrücken wollen, an welcher es sich erfreut, selbst wenn sie nur der Tochter gehört. In ihrer mütterlichen Einfalt verstand Mama Hilsch von der ganzen Affäre nur das eine, daß man etwa an der bürgerlichen Fragwürdigkeit des Verhältnisses Anstoß nahm, trotzdem sie doch stets als Anstandsperson und Tugendwächterin neben dem Paare herging. Sie glaubte daher allen Einwänden begegnen zu können, wenn sie vor der Welt das Verlöbnis der beiden Leutchen als ehrbares Versprechen künftiger ehelicher Gemeinschaft dartat. So entschloß sie sich endlich, ihren Gatten von der Sache zu unterrichten und seine Zustimmung einzuholen. Toni sollte als feierlicher Brautwerber auftreten.

Der alte Hilsch war für solche Erörterungen recht unzugänglich. Durch manchen Kummer und eine von Grund aus einsame Gemütsart war er in seiner Ehe zu einer merkwürdigen Führung gebracht worden. Er ließ seine Frau wirtschaften, wie sie mochte, kümmerte sich um den Hausstand nicht mehr, als die Geldfrage gebot, kam zu den Mahlzeiten heim, ließ die Gattin erzählen, ohne sie dazu aufzufordern, antwortete nichts oder höchstens ein Hum Hum und ging abends um sechs Uhr, wo sein Feierabend begann, seinem bescheidenen Privatleben nach. Abends um sechs oder noch früher wanderten auch Mutter und Tochter ihres Weges, da sie den Vater wohl versorgt wußten. Der begab sich tagtäglich um diese Zeit zur Wilhelmine, einer alten, einsamen Person, die er von früher Jugend her kannte. Ob ihn mit ihr ein aus mißglückter Liebe zur treuen Freundschaft gewandeltes Verhältnis, die gemeinsame Erinnerung an verschwiegene einstige Erlebnisse oder verwandte geistige Anlagen verbanden, blieb ein Geheimnis. Er hatte seine Frau zu einer Zeit erst geheiratet, wo ein verschlossenes Gemüt sich nicht mehr eröffnen läßt und seine letzten Dinge fast gewaltsam und selbst gegen die Liebe wahrt. Schon am ersten Tage seiner Ehe war er ebenso wie heute nach sechs Uhr zur Wilhelmine gegangen, um abends zum Nachtmahl ruhig heimzukehren. Was es mit dieser Freundin für eine Bewandtnis hatte, sagte er nicht, und die Frau fügte sich drein, weil er ihr in allem andern Freiheit ließ und gegen ihre sonstigen Anordnungen keinen Widerspruch erhob. Man wußte nur so viel, daß er bei der Wilhelmine eine oder zwei Schachpartieen spielte, dazwischen etwa dies und jenes besprach, sich Rats erholte oder der Zustimmung der Freundin zu seinen Ansichten versicherte. Daheim war er nur selten zu bewegen, auf Fragen, Wünsche, behaglichen Schwatz seiner Frau irgend etwas Ernstliches zu erwidern, vielmehr nahm er sie und ihre Rede nur ruhig zur Kenntnis. Vielleicht war er auch einer jener stillen, steifen Gottesleugner aus hartem Holz, der seinen Unglauben vor der Frömmigkeit der Gattin schützte, aber gerecht genug auch deren Gottseligkeitsgeschäfte nicht stören mochte. Jedenfalls ging er nie in eine Kirche, und verschloß sein Seelenheil vor der Frau besser, als seine Geldlade. Es war schwer an ihn heranzukommen. Schließlich entdeckte ihm die Frau doch das Verhältnis der Tochter, das mißliebige Zwischentreten von Tonis Vater und Schule, legte ihre Fürsprache für die beiden Leutchen ein und bat um seine Zustimmung, daß der junge Mensch bei ihm feierlich um die Hand der Mizzi anhalte. Der Alte hörte still zu wie sonst, antwortete weder ja noch nein, nahm dann seinen Stock und Hut und verfügte sich wie sonst zur Wilhelmine. Erst nach dem Nachtmahl sagte er beiläufig, sie wollten am kommenden Sonntag eine Landpartie machen, da könne der junge Mensch vielleicht am besten auftauchen und sich vorstellen. Die ganze Sache sei freilich nicht gerade angenehm oder wünschbar, aber wie es scheine, so ausgemacht, daß er nichts dagegen, noch dafür tun könne. Man werde ja sehen. Der Ausflug verlief für Toni nicht gerade erbaulich, denn er hielt dem harthörigen alten Manne so manche Reden über seine Absichten und Pläne, ohne Antwort zu bekommen. Der Vater Hilsch sah ruhig vor sich hin oder eigentümlich unbeteiligt dem Redenden ins Gesicht, daß dieser erbebte. Endlich stellte der Alte mit grausamer Härte fest, daß weder Toni, noch Mizzi Geld und Gut hätten, aufeinander viele Jahre warten müßten, um endlich mit einem Hungergehalt sich zusammen zu tun, was denn ein bitterliches Glück sein müsse. »Ein Jahr des Militärdienstes ersparen Sie sich freilich, wenn das in Geld veranschlagt werden soll,« schloß der alte Mann, »hingegen erkaufen Sie dieses Jahr teuer genug durch Ihr Gebrechen.«

Nachdem er dergestalt mit einer bis ins Herz dringenden Kälte und Ruhe die beiderseitige Verhältnisse auseinandergesetzt und das junge Paar aufs tiefste betrübt hatte, verstummte er und überließ es seiner Frau, heiter und versöhnlich zu schwatzen. So sah das aus, was als seine Zustimmung gelten mußte. Er hatte gesagt, wie er über die Sache dachte, mehr war seines Amtes nicht, wie er fühlte, verschwieg er, als ein steinerner Gast in seinem eigenen Leben und Hause.

Fortan wanderten die beiden Liebenden denn doppelt unbekümmert, als rechtens und vor aller Welt Verlobte, so lange, bis Tonis Prüfung kam. Der Direktor hatte seit seiner ersten Warnung nichts Feindliches weiter getan, nur vor den letzten Schultagen ließ er verlauten, er würde schon dafür sorgen, daß der Toni Scharrer durchfalle und zeige er sich in allen Gegenständen besser beschlagen, als die Lehrer selbst. Der Toni verachtete diese Drohung, denn er war seines Wissens sicher und vertraute der irdischen und himmlischen Gerechtigkeit, als bedürfe er der Gnade nicht. Er bestand auch in allem ohne Wank, bis man ihn in der Religion bei irgendeiner Gedächtnislücke aus der Kirchengeschichte fing und warf. Denn so war es ausgemacht, daß ein Sünder durch die Glaubenslehre gestraft werden sollte, gegen die er durch seinen Lebenswandel verstoßen. Noch niemals seit Schülergedenken war einer in der Religion durchgefallen, dem Toni blieb es vorbehalten. So glaubte sich wie immer die Schule berechtigt, einen Menschen vom Menschlichen mit Gewalt fernzuhalten und auszuschließen. Eines der vielen Opfer der Schule, der Ordnung, der bürgerlichen Heuchelei, welche jeden armseligen Machthaber in seinem Bereich einen blutdürstigen Nero spielen läßt, schlich der Toni Scharrer als durchgefallener Kandidat, des Lehramts unwürdig befunden, aus seiner Zuchtanstalt hinaus.

Die Mizzi, welche ihn voll Furcht erwartete, mußte eine arge Probe ihres Glaubens bestehen, indem sie erlebte, daß ihrem Geliebten gerade von der Religion der Strick um den Hals geworfen worden war.

»Mußt fleißig beten,« sagte der Toni.

Der alte Scharrer wollte von seinem mißratenen Buben nichts mehr wissen; er hatte es satt, ihn zu erhalten, zu verköstigen und zu beherbergen, da nun keine Aussicht mehr bestand, daß der Toni zu Brote komme. So sollte er denn sehen, wie er von der Liebe lebe. Der Toni drückte sein Hütel trotzig in die Stirn, packte seine Siebensachen zusammen und mietete sich als sein eigener Herr in einem Kabinett ein. Noch hatte er ein paar Lektionen, das übrige wollte er sich als Schreiber oder sonstwie verdienen; er kroch nicht zu Kreuze.

Im Herbste kam der Verbannte aus der Polackei zurück, er war bei der Stellung zum Militär gehalten worden und dachte, bei einem Wiener Infanterieregimente sein Einjährigenjahr abzudienen. In Hruschau hatte er sich ohne viel Respekt abgemeldet und fuhr selig in die Stadt.

Daheim in der alten Aula kam es ihm merkwürdig eng vor bei seinem lieben Vater, der ja doch nur ein armer dienender Mann war. Er selbst hatte sich draußen als wohlbestallter Junggeselle gefühlt, der nach allen Schätzen greifen darf. Hier dünkte er sich beschämt, das Leben stand ihm offen, er konnte ebensogut die Welt regieren, wie als Taugenichts sie durchstrabanzen, als Feldherr oder Unternehmer, Volksführer oder Haderlump sich betätigen, während der gealterte, treue Mann in seinem bescheidenen Amt heute, wie vor Jahr und Tag fleißig und gefaßt einherging, als sei dies die einzige, mögliche und gerechte Ordnung der Dinge. Dieter schämte sich des eigenen Hochmuts und freute sich dessen zugleich. Aber kaum hatte er das alte, hohe Bibliothekzimmer mit respektvollen Verbeugungen begrüßt und über die Lederrücken der wohlbekannten Folianten mit zärtlicher Hand gestrichen, dabei die Brunnen unten leise wie sonst rauschen gehört, den Vater bei guter Gesundheit still vor sich gesehen und also erfahren, daß hier alles beim Alten geblieben war, so machte er sich zur Landstraße auf, den Toni zu finden.

Er kratzte wie immer an der Tür, aber kein Toni kam hervor. Da malte er auf das Holz ein Trudenkreuz mit weißer Kreide, welches sonst als Zeichen seiner Wiederkehr verabredet war.

Aber auch dies rief den Freund nicht herbei. Da besann sich Dieter erst, daß er seit Wochen keine » Ama« erhalten hatte. In den nächsten Tagen kleidete er sich als Militarist ein und hatte mit dem Beginn des Kasernentreibens, Dienstes und Uebens so viel zu schaffen, daß eine oder zwei Wochen vergingen, bis er endlich die Wohnung der Familie Hilsch aufsuchte, um über den Toni Näheres zu erfahren. Da traf er ihn. Sie fielen einander um den Hals und der Toni begann herzbrechend zu schluchzen. Dann aber machte Dieter einen Witz, stellte sich den Damen vor und bot all seine weltmännische Uebung auf, als munterer und annehmlicher Gesell die wachsende Betrübtheit zu zerstreuen. Mizzi war glücklich, daß der Toni seinen Freund wieder hatte, die Mama Hilsch, daß ihre Tochter glücklich war. Dieter freute sich mit Toni; dieser achtete nun allen Kummer für nichts und nach einer Weile ratlosen Durcheinanderredens rief der Toni: »Gehn wir,« schob seinen Arm unter den des Freundes, nickte der Mizzi »Servus« zu und machte sich mit seinem Gesellen davon.

In den nächsten Tagen trafen sie sich wie ehedem nach Dieters Dienst im Kaffee Faltisek und dann spazierten sie durch ihr altes Reich der alten Gassen. Sie hatten einander viel zu erzählen. Der Toni wußte besonders manches zu fragen, was sich brieflich nicht hatte fragen lassen. Seine Liebe und sein Unglück hatten ihn tief getroffen; er mißtraute mehr als je seinem Gefühl und seinem Schicksal. Die Mizzi war ja doch nur ein Frauenzimmer. Gefiel sie ihm, weil sie hübsch war, so verdroß es ihn, daß sie am allerliebsten von Kleidern, Hüten und allen den Aeffereien sprach, mit welchen sich ein Mädchen ziert. Eine neue Bluse oder ein neuer Spitzenkragen konnte sie wochenlang beschäftigen. Indem sie sich für ihn hübsch machte, vergaß sie seiner. Und wenn sie in der eigenen Anmut sich spiegelnd, ihren Putz rühmend mit Worten vor ihm auslegte, schwieg er, dann glaubte sie, er verweigere ihr die Anerkennung und schmollte darüber, so veruneinigten sie sich jeden Tag und versöhnten sich wieder. Was sollte aus ihnen werden? Er brauchte einen Freund, die Geliebte konnte den Dieter nicht ersetzen, aber sie wollte das nicht einsehen. Er vernachlässigte sie. Er widmete ihr nur mehr den Abend, wenn der Einjährige schon wieder in die Kaserne zurückgekehrt war, und dann wußte der Toni erst recht nichts zu reden, sondern träumte vor sich hin. Sie konnte dies und das fragen, er antwortete nicht oder Verkehrtes. Lachte sie, so verletzte ihn ihr Lachen, blieb sie ruhig, so schien sie ihm zu trotzen, erzählte er vom Dieter, so glaubte er einen verhehlten, bösen Zug um ihren Mund zu ahnen und wenn er sie streng anließ, umarmte sie ihn statt einer Antwort. Da stieß er sie von sich und versank in stumpfes Hinbrüten. Dann dampfte er ihr die Stube voll, bis er von einem bösen Husten geschüttelt wurde. Und wenn sie ihn bat, das Rauchen zu lassen, das ihm schade, schalt er sie zimperlich, die Weiber täten nichts, als einem Mannsbild mit lauter Aengsten das bißchen Leben verleiden. Die Mizzi warb demütig um Dieters Freundschaft und bat, zu den Spaziergängen der beiden Gesellen mitgenommen zu werden. Da zottelte schließlich auch die Mama Hilsch hintendrein und die Wanderung wurde langweilig. Dieter wußte nichts zu reden; Toni zwang sich zu einer leutseligen Freundlichkeit; Mizzi ging an seinem Arm und der Freund an seiner Linken verstummte. Dann ließ Toni seine Braut wieder zu Hause, und strich mit dem Gesellen allein durch die Straßen und beide schwiegen einträchtig. Aber es war die alte Zeit nicht mehr und nicht das alte Schweigen. Zwischen ihnen stand, schuldig und unschuldig Tonis Geliebte. Der bat den Dieter oft und oft, er solle sich doch seiner erbarmen und das Mädchen gelten lassen. Dieter lachte ihn aus, er habe ja nichts gegen die Mizzi. Aber Dieter wußte eben doch mit der langen, lieben, fremden Person nichts anzufangen. Die Braut seines Freundes war sie nun einmal. Schön und gut, aber was hatte er dabei zu suchen? Wenn die beiden einander verliebt ansahen, schämte er sich und konnte um keinen Preis der Welt dazu etwas Annehmbares bemerken; wenn die beiden stritten, sollte er den Schiedsrichter machen. Und wenn er sich dazu hergab, war es beiden nicht recht, so daß sie rasch versöhnt, einträchtig gegen ihn loszogen. Er hatte der Mizzi nichts zu sagen, der Freund mochte sie als Gottes allerbestes Wunder anschauen; ihm war sie ein Frauenzimmer wie jedes andere. Aber das verdroß den Toni. Gingen die beiden jungen Männer allein, so trieb ein geheimer Anreiz den Toni just dazu, von der daheimgelassenen Braut zu reden, also von dem uninteressantesten Gegenstand und was Dieter antwortete, wurmte den Toni. Mochte der Kriegsmann noch so gutmütig und geduldig die Zweifel des andern anhören, widerlegen, oder abschwächen, so glaubte dieser sich doppelt scharfsichtig und erkannte abschätzig, daß das arme Mädchen eben doch nur ein Frauenzimmer war. Er fühlte sich gefesselt neben seinem ungebundenen Kameraden. Bei der Mizzi ging es ihm nicht anders. Die kämpfte um ihre Liebe und mußte sich am Ende gegen den Eindringling wenden, der ihr das Herz ihres Liebsten raubte. Von so widerstrebenden Gefühlen hin- und hergezerrt, verlor der Toni jede Ruhe des Gemütes. Die Freundschaft wie die Liebe versagten und beide machten ihn nur elend. Er selbst rief eine Entscheidung herbei, um mit sich eins zu werden. Den Freund konnte er nicht verwerfen, denn der war solange sein Herzensbruder gewesen, als er überhaupt zu denken und zu fühlen verstand, nur die Liebe glaubte er opfern zu können. Aber Dieter hätte ihm solche Wahl ersparen sollen. Der konnte freilich nichts anderes tun, als sich sachte zurückziehen und schweigen. Toni bat, er solle doch lieb zur Mizzi sein, der andere versuchte es und wurde dabei nur spöttisch, süßsauerlich und gleichgültig. Da traf Toni den Dieter einmal und sah ihn mit einem langen Blick an: »So geht's nicht weiter, wenn's nicht anders sein kann, so bleib' ich bei dir.« Zwei Tage gingen sie still und schmerzbewegt, aber einig durch die Gassen, von den Dächern troff der Regen; der Toni hustete und fluchte über das hundsmiserable mörderische Frühwinterwetter, das vom bösen Herrgott eigens geschaffen worden sei, um ihm das bißchen Spazierengehen zu verleiden. Er hatte der Mizzi abgeschrieben und sich nicht mehr bei ihr blicken lassen. Am dritten Abend hatte Dieter den Freund eben vor sein Haus begleitet, sich von ihm verabschiedet und blickte ihm nach, wie Toni eigentümlich langsam und vornübergebeugt gleichsam durch sein Schicksal beschwert, über die Stiege hinaufschlich; da spürte er jemand hinter sich, wandte sich rasch um und sah die Mizzi tränenüberströmt. Sie ergriff seine beiden Hände, als wolle sie ihn an jeder Abwehr hindern und sagte: »Lassen Sie mir den Toni nur einmal, nur heute, nur diesen letzten Tag.«

Da senkte Dieter den Kopf: »Ich laß Ihnen ihn für immer, Fräulein,« und salutierte und rannte davon.

Dieter betrieb seinen militärischen Dienst, wie alles, was ihm begegnete, als heiteres Abenteuer, das man bis auf den Grund auskostet. Die mannigfachen Uebungen, welche den lang im Schreiberdienst eingeschränkten Körper befreiten und zum Bewußtsein seiner Kraft und Geschicklichkeit brachten; die Märsche über Land, das Kauern in Gräben und hinter Büschen, das Suchen nach dem Feind, das Laden und Schießen, der ganze Ernst im Spiel dünkte ihn vergnüglich, wie die Irokesen-Lustbarkeit von dazumal. Daß nun erwachsene Menschen ringsum mittaten und strenge Gebote, Strafen oder Schelte jede Unternehmung würzten, bot einen Reiz mehr. Auch der unterwürfige, formelhafte Gehorsam, der jede Haltung, Meldung, Stehen, Gehen, Sprechen, Gewehranschlagen, Grüße zu einer tadellosen Zeremonie straffte, schien nicht unlieb. Der Spaß, der hinter dem drohendsten Ernst lauerte, wurde dadurch erst recht genußvoll. Und doppelt vergnüglich war es, mit der ehrbarsten Genauigkeit alle Pflichten zu erfüllen, mit der unschuldigsten Miene den beflissensten Eifer darzustellen, doch hinterrücks einen Possen zu spielen, aber ihn zugleich so sicher abzumessen und zu berechnen, daß er die nötigen Grenzen nicht überschritt und gerade nur zur Erheiterung diente, ohne ernstlich zu schaden. Dazu die wunderlichen Sitten und Reden der vielen armen Burschen aller Völker und Gegenden des Reiches. Dieter fühlte sich zu ihnen als zu wahrhaften Kameraden hingezogen, zu den Bauern, wie zu den Handwerkerkindern verspürte er eine unverlorene Verwandtschaft, er verstand ihre Scherze, die wehmütigen Volkslieder, welche sie am Abend in den dunkeln Mannschaftszimmern sangen, während sie das Gewehr reinigten, die Kleider bürsteten, die Monturknöpfe glänzend machten.

So gehen Wochen hin. Morgens um fünf aus dem Bett, tagsüber Dienst, manchesmal in der Nacht Wache in verrufenen, einsamen Gegenden der Stadt, wo man gar leicht einen Messerstich empfangen oder einen scharfen Schuß auf einen Ueberfall abgeben kann. Ein tiefer Schlaf, in welchem man Gewehrgriffe, Kommandorufe, Niederwerfen auf die Erde, abteiligen Schritt, Habtachtstehen und das ganze wenig abwechslungsreiche Treiben der wachen Uebungen im Traum fortsetzt, um morgens, im winterlichen Dunkel und Frost zu beginnen, wo man gestern aufgehört hat. Es ist eine durch Strafen und Furcht gepfefferte fortgähnende Langweile. Die Gedanken haften willig oder zornig nur bei diesem strengen Einerlei und werden dabei so mürbe, daß sie zu anderen Menschen und Dingen nicht ausschweifen mögen.

Dieter hat dabei selbst den Toni schier vergessen. Freilich räumte er der Braut des Freundes das Feld. Aber darum glaubte er, den Genossen doch nicht verloren zu haben. Es wird schon ein Tag der Ruhe und Freiheit kommen, wo sie wieder still und heiter zusammen gehen, schweigen, oder schwatzen, je nach ihrer Laune. Einmal werden sie schon wieder gesellt sein. Nur Geduld, jetzt spielen wir Soldaten. Was wäre das für eine Freundschaft, die nicht mehr unter der Last von Geschäften, Mühen, Ablenkungen aller Art dennoch still wie unter einer Schneedecke das treue Gras fortwüchse und ihr Leben von einer tiefen inneren Wärme bezöge, die mit dem Tode erst, aber nicht durch eines Mädchens Laune, oder durch Verdruß, Zank, Mißverständnis und das Dazwischentreten der Zeit kalt und stumm würde!

Einmal im Winter ging Dieter durch das volle Schneetreiben. Die weißen, schweren Flocken verhüllten den grauen Tag, Menschen, Fuhrwerke, Häuser mit rasch anwachsenden weißen Lasten, Hauben saßen auf den Laternen, die Wagen glitten still über den Schnee, die Pferde arbeiteten sich dampfend durch den weichen weißen Widerstand, alle Geräusche schienen gedämpft und verheißungsvoll, als spiele sich das Leben plötzlich in einem Märchenlande ab. Mitten auf der Straße arbeitete ein Rudel von Taglöhnern und schaufelte den Weg frei. Das waren die armen Arbeitslosen, welche dem Himmel einen Gulden Lohn und glücklichen Verdienst dankten. Sie schafften in wunderlicher Tracht. Der eine trägt eine alte Lammfellmütze zu einem fadenscheinigen schwarzen Rock, der andere einen verknüllten steifen Hut und durchlöcherte Glacéhandschuhe, Fäustlinge der dritte, einen gestrickten Schal hat der, einen Wolljanker jener umgetan. Die Beine sind mit brauner Sackleinwand umwickelt. Aber es geht ganz lustig unter dieser Mannschaft des Elends zu, der Schnee macht diese Bettler fröhlich, wie Kinder, welche Ball werfen. Die Leute schaufeln wie zum Vergnügen, dann schlagen sie die Arme breit aus und an die Schultern, um sich zu wärmen, sie rauchen Pfeife und lassen sich die Arbeit nicht verdrießen, welche ihnen von oben zugefallen ist, und berechnen die Wetteraussichten von morgen und übermorgen. Ein Grad mehr oder weniger wirft sie ins Elend der Obdachlosigkeit zurück oder schenkt ihnen nochmals ein warmes Nachtlager und ein großes Essen. Dieter geht gedankenlos an den Schauflern vorüber, da ruft ihn einer an: »Dieter!« Der Toni ist's. Hat sein Hütel verwegen auf dem Kopf, Fäustlinge an den Händen, trägt einen dünnen Ueberzieher, dreht eine Zigarette im Mund und schwingt eine Schaufel, als stünde er zu seinem Spaße da.

Dieter weiß nicht, was er sagen soll. Der Toni lacht, man muß auch das probieren! Warum sollte man die Romantik nicht einmal auf diese Weise praktisch erleben. Er lacht, daß ihm die Tränen über die Backen laufen, weil der andere ein so dummes Gesicht macht, lacht, bis er zu husten anfängt und keucht und glüht. »Macht nichts, man wird warm dabei.«

Dieter fragt: »Wie kommst du denn daher?« Die Advokaten machen schlechte Geschäfte, da gibt's nichts zu schreiben, monatelang hat er keinen Erwerb gehabt, Lektionen kriegt er nicht mehr, da seine Lehrerschaft zum Teufel gegangen ist, pumpen läßt sich auch nichts. Alle Brunnen sind eingefroren. Die Kleider warten im Versatzamt auf die neue Mode. Man versucht, was man kann, zum Schneeschaufeln braucht man wenigstens kein Maturitätszeugnis und keine Protektion, es ist ohnehin das einzige freie Gewerbe, aber ein miserables. Doch wer nicht in der Wärme sitzen kann, der muß sich bei der Arbeit einheizen.

»Und die Mizzi?« fragt Dieter. Da wird Toni rot und legt den Finger an den Mund: Die darf nichts davon wissen. Soll ich mir denn von den Leuten was zahlen lassen? Am Abend geh ich hin, dann bin ich wieder ein freier Mensch, noch hab ich mein Kabinett, wenn's weiter schneit, kann ich vielleicht die Miete zahlen.« »Und dein Vater?«

»Ja, der ist in Pension gegangen und wohnt jetzt in Linz, der weiß nichts von mir und das ist auch gut. Möcht nur Kummer haben und ist doch ein alter Mann.«

»Jetzt schmeißt du aber den Besen hin, dummer Kerl, und gehst mit mir.« Der Toni ließ sich lange bitten, bis er aus seiner Reihe trat, er nahm von den übrigen Schauflern Abschied, reichte jedem die Hand, und alle sahen ihm halb erstaunt, halb neidisch oder gutmütig nach, wie er davonging. Und wußten, der gehörte nicht zu ihnen. Das war ein Beruf, der seine Leute nicht verband, wie die Flocken wurden sie zusammengeweht, teilten einen Tag lang ihr Schicksal, indem sie auf den Schnee warteten, und wurden wieder auseinandergeweht. Der Toni hängte sich in Dieters Arm und lachte und hustete dazwischen und hatte seinen Freund wieder. Allmählich begann er zu reden. Das Leben war kein Spaß für einen durchgefallenen Kandidaten. Und teuer war alles in diesem gottverlassenen Wiener Nest. Eine Schaufel Kohle nicht zu erschwingen. Da mußte man sich lieber im Schnee warm machen oder nachts im Bett unter der Decke. Heizen mochten die Barone. Wie lange hatte er schon kein reguläres Mittagbrot gehabt. Um fünf Kreuzer Cervelat oder ein Paar »brennheiße« Würstel mit einem Schusterleibel, wenn's gar zu kalt war, einen Slivowitz dazu, oder zur Abwechslung ein paar durchsichtige Schnitten Salami, der »Greißler« wiegt sie wie die himmlische Gerechtigkeit. Am Abend speiste er freilich gelegentlich wie ein Fürst bei den Hilsch oben, aber mit Anstand und Maß, damit es nicht ausschaut, als hungere er. Und nicht zu oft, um nicht lästig zu fallen. Die Mizzi hat ohnehin einen gewissen Verdacht und fragt ihn aus, warum er sie denn nicht bei Tag abholt und warum er sich so vernachlässigt und warum er keinen Winterrock trägt und warum seine Kleider so schäbig werden und warum er mit ihr auf keinen einzigen Ball geht. Wenn man die Weiber betrügen will, muß man zeitig aufstehen. Und zum Schneeschaufeln kommt man auch nur in aller Morgenfrühe, die Konkurrenz steht haufenweise vor den Bezirksämtern und bettelt um Zuteilung. Dieter schaut und schämt sich: »Aber um Gottes Christi willen, warum sagst du denn keinem Menschen, was mit dir geschieht, warum lügst du denn den einzigen Leuten, die sich deiner annehmen, einen solchen Dunst vor?«

Toni schaut ihn aus seinem blauen Aug' ängstlich an:

»Möchtest du deine Geliebte anbetteln? Oder deinen Freund?«

»Gewiß tät ich's.«

Da schwieg der andere. Solange man seine Not verschließen und seine Blöße unter einem fadenscheinigen Röcklein zuknöpfen kann, darf man stolz, einsam und zufrieden oder trotzig tun, aber weiß ein einziger um unsern Schaden, dann ist's aus mit dem Hochmut und man steht ärmer da, frierender und nackter. Der Toni hätte gar wohl ein Herz fassen und einen wildfremden Menschen um einen Kreuzer bitten können, ohne seinen Zustand sich verdrießen zu lassen, aber wenn man einem Freund sich entdeckt hat, ist man erst ganz zum Bettler geworden und auf Gnad und Ungnad ausgeliefert.

»Armut ist keine Schande, aber eine Ehre ist sie gerade auch nicht,« sagte der Toni.

Am Abend, nachdem Dieter den Freund mit Geld, warmen Kleidern und guten Worten getröstet, berichtete er seinem Vater die entsetzliche Lage, in welcher er den Toni getroffen.

Der Alte hörte ihn ruhig an. Er hatte gerade zu dem einzigen Freunde seines Sohnes niemals besondere Neigung gehabt, ohne freilich davon etwas verlauten zu lassen. Sowohl das Beamtenhungerleiderwesen des Steueramtsadjunkten, als die ein wenig dreiste und unbekümmerte Manier des Jungen behagten ihm nicht. Im stillen fürchtete er auch wohl einen nachteiligen Einfluß dieses Verkehrs auf den eigenen Sohn und war zufrieden, daß dieser trotzdem seine Schulen ohne allzu arge Fährnis bestanden hatte. Jetzt war freilich Tonis Mißgeschick schlimmer, als all seine Schuld.

»Da muß was geschehen. Man muß was tun, das geht ja nicht so weiter. Was soll man mit dem armen Kerl anfangen? Vielleicht bringst du ihn zu Mittag her, daß er wenigstens was Warmes kriegt.«

Dieter machte ihm begreiflich, daß der Toni dies nicht annehmen würde. Der Alte schüttelte den Kopf und ging traurig im Bibliothekzimmer auf und nieder und überlegte.

Dieter träumte in dieser Nacht nicht vom Soldatenspielen, sondern wachte auf seinem Bett in der Kaserne und sah zuweilen zum Fenster hinaus, in das Schneetreiben und dachte, daß ihm der einzige Freund hinschwinde wie der Schnee. Er glaubte ihn lachen und husten zu hören. Er weiß mit einemmal: der Toni wird sterben, ich habe doch nur einen einzigen lieben Freund und der geht mir zugrunde. Was soll ich dann mit mir? Und dachte an ihr gemeinsames Leben, an all die vergangenen Jahre.

Am nächsten Tage, als die militärischen Uebungen beendigt waren und der »Befehl« überstanden, so daß Dieter für den Abend frei ans dem Kasernentor trat, stand der Toni davor und schwenkte glückstrahlend einen gelben Zettel. Er war als Hilfsbeamter zur Dienstleistung beim Magistrat einberufen worden. In aller Geschwindigkeit hatte der Vater Dieter ihm dies Aemtlein verschafft. Dreißig Gulden »Adjutum«, sonst eine armselige Besoldung, bedeuteten hier völliges Lebensglück und Rettung. Der Toni jauchzte und fabelte von Zukunftsplänen, nun war er aus dem Wasser. Seine Wangen glühten, sein Hütel saß ihm frech auf dem zurückgeworfenen Kopf. So glücklich war er nur damals gewesen, als er ins Innviertel mit zwanzig Gulden reiste, um die Welt zu kaufen und dem Freunde schuldig zu bleiben.

Das Militärjahr nahm Dieter mit Beschlag; da er den Gesellen halbwegs geborgen wußte, glaubte er ihn wieder sich selbst überlassen zu dürfen.

Dieter wurde Gefreiter, dann Korporal, genoß selber die Würde des Befehlsrechtes und bescheidener strategischer Herrlichkeit. Er vergaß darüber den Freund nicht, aber dessen Leid, war er doch noch in den Jahren, wo man gern an die Heilbarkeit aller Wunden, an die Widerruflichkeit alles Unglücks glaubt.

Und wenn er den Toni traf, schäumte dieser über von Laune und Heiterkeit, freilich unter argen Anfällen seines Hustens, aber eine Zigarette um die andere rauchend.

Als »Reservekadettfeldwebel« ausgemustert, brauchte Dieter nicht mehr auf einen öden Kommerz in der Provinz zu warten, sein Vater verschaffte ihm eine Anstellung bei einer großen, österreichischen Privatbahn und der junge Mann mußte nun die Wüste des staubigen Aktenlebens, Rechnens und Amtsschreibens unter kümmerlichen gebückten, verschuldeten, gedemütigten oder geduckt aufbegehrenden, heimlichen Revolutionären geduldig durchschreiten. Er tat es. wie immer in einem heiteren Traumleben, als müsse er auch hier nur ein neugieriger Gast, dies Treiben wie so manches andere versuchen, denn einem König des Lebens gebührt es, alles Menschliche zu durchmessen. Daß er an solchen Pulten altern, in diesen Stuben ein Mann, gar ein Greis werden und sich zu den nichtigen Beamtenwürden hinaufdienen müßte, fiel ihm nicht ein einziges Mal bei. Darum lachte er über die schnöde Sklaverei und die entsetzliche Oedigkeit seiner Geschäfte. Er saß über seinem Rechnungsmaterial und kalkulierte die Frachtspesen für alle jene Waren, welche etwa aus der Polackei, oder von dem Ostrauer Kohlenbecken in die Welt hinausfuhren, über die Alpen via Simbach oder via Arlberg ins Rheintal oder nach Italien. Er blies dabei vergnüglich den Rauch aus seiner Pfeife und sah vor sich die sonnigen Landschaften, breit hinströmende Flüsse, schäumende Gebirgsbäche, durchackerte Ebenen, Rebengelände, schwarze Wasser, felsige Bergschluchten, der Lombardei fruchtstrotzendes Becken, Venedigs fernes Märchen, das blaue Meer, welches unablässig mit schmeichelndem Anschlag an die flache Küste lief und wieder zurückrollte. Einmal würde er seinen staubigen Bureaurock an den Haken hängen, die Pfeife ausklopfen, seine Schuhe säubern, die Hände in dem kleinen Waschbecken zum letztenmal waschen, den Hut aufsetzen und davongehen, als Taugenichts, der er war, irgendwohin durch den Wald in die Weite, nach Italien oder China, nach Deutschland oder Afrika. Das Amt war nur eine Zwischenstation, eine kurze Rast, ein notwendiges Mißvergnügen, bis die alte, neue Lust der aufgesparten Freiheit wieder anbrach.

So verschloß er seine Augen vor dem gegenwärtigen Mißgeschick und träumte den Traum seiner endenden Jugend weiter, als sei sie unsterblich, aber sie stand als eine unsichtbare, gnädige, wehmütige Herrin hinter ihm, nicht ohne Trauer ihr edles Haupt über ihn neigend: Bald muß ich dich verlassen und bald mußt du dran glauben, mein liebes Kind, mein törichter Rechnungsbeamter!

Dem Toni aber entzog sie sich unter heftigeren Qualen, denn dieses schwächere Leben durfte nach ihr niemand mehr angehören. Den Dieter trat die Jugend dem Mannesalter ab, indem sie ihm ihre holdeste Gabe eines freien Sinnes, eines spielerischen, launenlustigen Gemütes zurückließ, die einzige Mitgift, welche der Armut und dem Ernst des Lebens trotzt. Mit dem Toni aber meinte sie es anders. Dem war es gesagt, jung zu sein und all sein Schicksal in den kurzen Raum von zwanzig Jahren rasch und unordentlich zusammenraffen zu müssen. Die Jugend hatte ihn alles erleben lassen, was dem Menschen auferlegt ist, Wanderschaft mit einem lieben Gesellen, Träume der bewegten Einbildung, Sehnsucht einer unglücklichen, Zärtlichkeit einer befriedigten Liebe, alle Zweifel der Leidenschaft, allen Hohn eines ungesättigten, unstillbaren Gemütes, die Qual eines kümmerlichen, fluchwürdigen Familienlebens, die Gier nach einem letzten Erfassen des Versagten. Er mußte in den Tagen das Meer des ganzen Lebens ausschöpfen und sich selber drangeben, ohne sich zu gewinnen.

Seine Krankheit wuchs in diesen wenigen Monaten mit der Eile des Gewitters, dessen Gewölk so rasch aufzieht, daß zwischen der schwebenden Schwangerschaft der Finsternis und dem ersten Blitz und Donner nur die kurze Qual eines Angstgedankens flackert.

Er hustete so arg unter Blutauswurf und Sterbensmattigkeit, daß man ihn mitleidig aus dem Amt nach Hause schickte. Aber bald erhob er sich wieder, die eigene Krankheit geringschätzend, als müsse seine Tagesarbeit sie verscheuchen, und trat in den Dienst zurück, wo man ihn gar nicht wollte. Man schob ihn von einer Stube in die andere, denn die Amtsbrüder fürchteten die Ansteckung und wichen ihm aus, wie einem Gezeichneten. Man trieb ihn aus einem Quartier ins andere, denn alle Mietherren fürchteten seinen Husten, der einsam durch die Nacht gellte. Nirgends wurde er geduldet, man hetzte ihn mitleidig durch alle Verlassenheit seiner letzten Monate. Kaum war er in ein Kabinett eingezogen, so kündigte man ihm. Er hatte wahrlich kein Lager, sich zu betten, keine Stätte zu ruhen. Aber er wußte nichts um sein Schicksal. Jeden Nachmittag wanderte er mit seiner Braut, rauchte unverdrossen, hustete und scherzte darüber. Das Mädchen aber sah gar wohl, wie es mit ihm stand und weinte die endlosen Nächte fern von ihm, um zu lachen und ihn zu küssen, wenn er bei ihr war. Sie erlebte das Glück und Elend jenes Heldentums, das nur den Frauen auferlegt ist, um einen Geliebten oder um ein Kind mit dem Schicksal Brust an Brust zu ringen, des Unterliegens sicher, aber nicht ein einziges Mal über das eigene Verderben weinend, auch nur daran denkend, sondern aufrecht, gefaßt, ein Lächeln auf den Lippen.

Als aber über den todkranken Burschen jene stillschweigende, grausame Acht und Aberacht gesprochen war, daß ihn niemand bei Strafe des eigenen Lebens sollte hausen und hofen und herbergen dürfen, daß er nirgend mehr ein Obdach fand und ein Bett, da saßen die Mutter Hilsch und ihre Tochter in ihrer Wohnung und weinten zusammen und wußten sich keinen Rat.

Am Abend kehrte der alte Mann von der Wilhelmine zurück. Er hatte dieses Schicksal vor seinen Augen sich abspielen gesehen, wie wohl so manches andere und tränenlos, scheinbar ohne Teilnahme zugeschaut und kein Wort bisher gesprochen. Täglich sah er den abgezehrten, hustenden, lachenden und vor dem Tod noch scherzenden jungen Menschen an seinem Tische sitzen, sah die eigene Tochter gar schmerzensreich sich über diesen Geliebten neigen, lächeln, heimlich die Tränen von den Augen wegwischen, ehe sie sich dem Toni mit heiterm Gesichte wieder zuwandte, er sah dies alles und schwieg. Er sah, wie sein Kind im Elend zu einem Weibe wurde. Er sah, wie sie vor seinen Augen den Toni liebkoste, was sie ehedem nie gewagt hätte. Er sah, wie dessen Hände nach ihrem Busen griffen und wie sie sich gewährend an den Verlangenden schmiegte. Und zum erstenmal schaute sie mit einem jener herzzerreißenden Blicke, welche zugleich demütig genug flehen und sich voll Stolz bekennen, den Vater an, da sie sich dem Liebsten also zuneigte. Nicht anders mag die junge Mutter einen Fremdling anschauen, der sie überrascht, wie sie ihrem Kinde die Brust reicht.

Der Vater wandte sich ab und schwieg.

Heute sah er die beiden, seine Frau und seine Tochter im dunkeln Zimmer weinend sitzen. Als er eintrat, begann seine Frau zaghaft zu erzählen, daß der Toni nirgends mehr ein Quartier finde, was sollte sie nun beginnen.

Er wußte ja längst, daß dies kommen müsse.

»So nehmt ihn denn zu uns in Gottes Namen,« sagte er.

Seine Tochter stürzte zu ihm und umarmte ihn. Und er küßte sie auf die Stirne, was er nicht getan, seit er sie als kleines Mädchen auf seinen Knien geschaukelt hatte.

So hatte der Toni ein Bett im Hause seiner Braut. Aber auch hier war seines Bleibens nicht lange, denn nun machte sein Vater auf den Sterbenden sein Anrecht geltend, der bisher von dem ungeratenen Sohne nichts hatte wissen wollen. Er verlangte, den Toni bei sich zu haben, der sollte bei seiner Familie sterben, nicht bei fremden Leuten. Nicht ohne eine gewisse tückische Anklage, die niedriggesinnten Menschen gemäß ist, welche das eigene Verschulden auf Fremde ablenken und vor sich selber rechtfertigen wollen, schrieb er der Frau Hilsch, er wolle endlich seinen Sohn wieder haben, der aus Trotz und Torheit sich selber übel genug mitgespielt, und einem Verhältnis hingegeben habe, das ihn schließlich dahingebracht, wo er nun liege.

Dieter fand, als er nachmittags aus dem Bureau ging, eine schwarzverschleierte Dame auf der Straße, die ihn erwartete: die Mizzi. Schluchzend erzählte sie, wie man ihr nun selbst den Sterbenden mißgönne und fragte, was sie tun solle. Dieter ging weinend neben ihr her. Ihre Nebenbuhlerschaft und das törichte Mißverstehen von einst war ausgelöscht, sie fanden sich einig in ihrem Gefühl für den besten Menschen.

Dieter sagte endlich: »Liebes Fräulein, Sie haben genug für den Armen getan, mehr und besseres, als der Herrgott selbst, von mir ganz zu schweigen, der sein Freund war, als es ihm gut ging und der ihm fernblieb, als der Ernst begann. Ich war ein Narr meiner Eifersucht und habe mich selbst betrogen, indem ich mir vorlog: Der Toni hat ja die Mizzi, er braucht mich nicht. Jeder Mensch braucht alle, die ihn lieb haben, er kann keinen missen. Sie waren gut. Aber jetzt lassen Sie es genug sein. Da ihn der Vater verlangt, tun Sie ihm den Willen.«

So brachte die Mizzi selbst den Bräutigam nach Linz, aber sie blieb dort und verließ ihn nicht, sie hielt bei ihm aus unter den schweigenden, feindseligen Blicken der Familie.

An einem Sonntag fuhr Dieter hinaus, den Freund zu besuchen, dessen Zustand sich unter dem Einfluß der Luftveränderung und neuen Umgebung für kurze Zeit gebessert hatte. Auf den Arm der Braut und des Gesellen gestützt, konnte er sogar ausgehen, es war Sommerzeit, man wandelte ein paar Minuten im Stadtpark, dann setzten sich die drei auf eine Bank.

Der Toni schwatzte und scherzte voll Fröhlichkeit und sprach von seiner Gesundheit, dann würde er endlich heiraten, und rauchte eine Zigarette nach der andern. Man ließ ihn gewähren, hatte es doch keinen Sinn, ihm diese letzte Freude zu versagen, dann verfiel er in seinen furchtbaren Husten und noch keuchend spottete er seiner »Lumpenschwindsucht«. Der Arzt sagte, der junge Mensch leiste der schlimmen Notwendigkeit einen so wunderbaren Widerstand, daß niemand wissen könne, wie lange er es noch treiben werde.

Dieter fuhr in sein Amt zurück und hoffte, er würde am nächsten Sonntag noch einmal den Freund besuchen können.

Aber am Mittwoch, just als er vor seinem Stehpult Rechnungen eintrug, brachte der Postbote ein schwarzgerändertes Einlaufstück für ihn: »Herr und Frau Steueramtsadjunkt Scharrer geben, vom tiefsten Schmerze gebeugt, allen Freunden und Bekannten geziemend Nachricht von dem Hinscheiden ihres innigstgeliebten teuren Sohnes, Anton Raimund Franz Scharrer, welcher nach langem schweren Leiden am fünfundzwanzigsten Juli, nach Empfang der heiligen Sterbesakramente selig im Herrn entschlafen ist.«

Dieter sank ohnmächtig nieder. Obgleich gefaßt auf dieses Ende, traf es ihn doch mit der ungeminderten Wucht eines niederfallenden Beiles und erschlug seine Jugend, den Traum seiner schönen Jahre, die Hoffnung, Lust und Freundschaft seiner blühenden Zeit mit einem einzigen Schlage.

Er hatte mit dem Gesellen den einzigen Zeugen, die einzige Rechtfertigung seines Lebens verloren. Was nun kam, war der gleichgültige, kummervolle Lauf der Dinge. Als ein Schweigender mußte er nun allein seine Straße gehen, keinem zuliebe, nur sich zuleide. Er würde nie mehr einen Gesellen finden. Nur einmal gibt ihn das Schicksal und nimmt mit ihm das Beste hinweg, das dem Freunde zu Dank gewachsen ist, geblüht hat und nun verdarb. Dietern war zumut, als könne sein eigener Lebensbaum nie mehr grünen, als könne er keinen Traum mehr träumen, keine Lust mehr erfahren, als sei er nicht sich, sondern diesem Hingegangenen zuliebe durch die raschen Jahre ihrer Jugend wie in einem Strom gefahren. Auf einem buntbewimpelten Kahn war er neben Toni gestanden, den reißenden Fluß hinabtreibend, dessen plötzlicher Zorn den Freund vor seinen Augen aus dem Boot schlug. Was sollte all der Lärm des Lebens, nie mehr fand Dieter einen Reim auf die furchtbare Rede der Dinge ringsum, die seine Jugend verschlangen, wie sie alle Menschen nur schaffen, um sie aufzuzehren. Er mochte weiterleben, ein Weib nehmen, altern und Jahre auf der nackten Erde zubringen, er blieb doch ein Schiffbrüchiger. Ohne Freundschaft war er zu sich selbst verurteilt.

Einmal sah er die Mizzi wieder. Sie erzählte von Tonis letzten Stunden, wie er an diese Brust gelehnt, ihre Hände streichelte und phantasierte, sie berichtete tränenlos mit leiser Stimme, wie er sie geliebkost und dabei für die Hedwig gehalten habe, deren Namen er ausrief, als er den letzten Seufzer tat.

Dieter schaute der armen Person ins Gesicht und sagte: »Uns beiden ist der Toni gestorben, wir sind nun beide arm. Leben müssen ist schlimm genug. Möchten Sie es nicht gar zu schwer haben!« Damit bot er ihr die Hand, dann schieden sie, und nie mehr sah er das Mädchen wieder, noch wollte er sie wiedersehen.

Nach vielen Jahren fand Dieter zufällig ein wunderbares Buch, in welchem ein weltweiser Mann Erfahrung, Gefühl und das mannigfaltige Geheimnis des eigenen, des allen Menschen gemeinsamen inneren Daseins mit solcher Macht zusammenfaßte, daß sein Wort über die Grenzen der Sprache und Zeitlichkeit hinaus zu den fernsten Seelen drang, gleich dem tröstlichen Licht eines Sternes, der heut wie seit seinem Anfang die Geschicke der Welt bestrahlt. Es waren die »Versuche« des Michel Montaigne. Und Dieter fand den einen über die Freundschaft mit diesen Worten:

»Wir haben unsere Freundschaft, so lange es Gott gefiel, miteinander gepflogen, welche so innig, so vollkommen war, daß man gewiß von viel dergleichen nicht lesen wird, und unter den Menschen heutigen Tages findet sich davon keine Spur mehr. Um eine solche Freundschaft zu stiften, werden so viele Zufälligkeiten erfordert, daß es schon viel ist, wenn das Glück solche nur alle dreihundert Jahre einmal zusammentreffen läßt . . . . . Im übrigen ist das, was wir gewöhnlich Freundschaft nennen, wo Leute einander sehen, die Geschäfte miteinander haben und wodurch unsere Seelen sich miteinander unterhalten, eigentlich nur Bekanntschaft. In derjenigen Freundschaft, wovon ich rede, verwischen und schmelzen sie sich solchergestalt ineinander, daß ein so durchaus Zusammengesetztes daraus wird, daß auch die Spur der Naht davon verschwindet, welche aneinander geheftet hat. Wenn man in mich dringt, ich soll sagen, warum ich meinen Freund Boetius liebte, so fühle ich wohl, daß sich das nicht anders ausdrücken läßt, als wenn ich antworte: Weil er's war, weil ich's war. Es ist dabei etwas, das über meinen Verstand geht; und alles, was ich besonders davon sagen kann, ist: diese Vereinigung ward durch eine unbegreifliche, unwiderstehliche Macht vermittelt.

In Wahrheit, wenn ich das Uebrige meines Lebens, das ich zwar durch die Gnade Gottes ganz gemächlich und bequemlich und außer dem Verluste eines solchen Freundes frei von drückendem Kummer, mit ganz ruhigem Gemüte hingebracht habe, indem ich das, was mir der Himmel bescherte, mit Danksagung genoß und nicht mehr Ueberfluß begehrte; wenn ich es ganz durchgängig vergleiche, sage ich, mit den Jahren, da mir's so gut ward, des süßen Umgangs mit diesem Manne zu genießen: so ist's ein bloßer Rauch, nichts weiter als eine dunkle, freundenleere Nacht. Seit dem Tage, da ich ihn verlor: » Quem semper acerbum semper honoratum (sic Di voiuistis) habebo«, schleich ich hinwelkend umher, und die Freuden selbst, die sich mir darbieten, anstatt mich aufzuheitern, verdoppeln meinen Schmerz über seinen Verlust. Wir gingen beständig zur Hälfte: mich dünkt, ich raube ihm jetzt seinen Anteil.«


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