Otto Stoessl
Morgenrot
Otto Stoessl

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XI.

Vor dem Schulbeginn kratzte Dieter an der Tür vor Tonis Wohnung, welches Zeichen verabredet war, um den Eintritt zum Herrn Steueramtsadjunkten und dessen Fragen nach allen Warum, Woher, Wieso des Sommeraufenthalts zu ersparen. Dieses Hundescharren an der Tür aber genügte, daß Toni, der sehnsüchtig jeden Morgen die Rückkehr des Freundes erwartet hatte, den Hut vom Nagel riß und hinausstürzte. »Hättest auch früher kommen können, im Prater spielen die Deutschmeister,« so begrüßte er ihn. Dann sahen sie einander kurz an, ob jeder noch er selber geblieben sei, schlugen einander, wie sonst, nachlässig auf die Schulter und wischten über die Stiege hinab, selbander in die »Hauptallee«.

Das Griechische mit seinen überflüssigen Aoristen und unregelmäßigen Verben, mit Dual und Reduplikation, die Gleichungen mit allen Unbekannten wurden in der Quarta so ungeheuer, daß die beiden nachgerade jeden Versuch aufgaben, mit solchen Elementen den ungleichen Kampf zu kämpfen. Sie gingen viel spazieren. Während sie bisher vor sich hin oder zu Boden, auf die Passanten und Auslagen geschaut hatten, richteten sie nun den Blick in die Höhe, auf die Stockwerke der Häuser, auf die mannigfaltigen Dächer und die Begebenheiten am Himmel. In der Schule setzte sich das fragwürdige Tun und Treiben von Prüfen, Abschreiben, Schwindeln und Einsagen fort, nicht ohne daß Dieters Kenntnis-Schiff manches Leck bekam, immer tiefer ging und bald in den Grund zu gehen fürchten mußte. Ohne daß sein Vater viel fragte, merkte er doch die Gefahr und rumorte bekümmert in der Aula.

Da traf es sich, daß gerade um diese Zeit in der ethnographischen Gesellschaft ein angesehener, weitgereister Herr auftauchte, der Dieters Vater als alten Landsmann herzlich begrüßte und nach allen Verhältnissen teilnehmend ausfragte. Der Doktor Kern war, wie so viele, aus dem Ländchen früh weggetragen worden, hatte etwas Ordentliches gelernt, dann aber selbst das größere Vaterland Oesterreich als einen allzuengen Kerker empfunden, so daß er in die weite Welt flüchtete. In Japan blieb er hängen, fühlte sich unter den rührigen, verständigen, gelben und schlitzäugigen Leuten wohl und vertauschte dort sein Latein und Griechisch mit dem Englischen und mit der Allerweltssprache gangbarer Handelsartikel und sicherer Wechsel, betrieb einen rührigen Kommerz und wurde schließlich österreichischer Konsul in Tokio. Reich zurückgekehrt, tat er sich in Wien als japanischer Handelsvertreter auf. Als er von Dieter erfuhr, der habe einen anstelligen Burschen, welcher sich mehr Bewegung mache als das Gymnasium eben verlangte oder litt, ließ er sich den Sohn vorstellen, sah ihn scharf an und meinte, dessen Augen blickten allerdings nicht wie die eines Bücherheiligen. Dann erörterte er kurz, wer kein gelehrtes Sitzfleisch habe, dem liege die Bildung in den Beinen. Mit Latein und Griechisch käme man nicht einmal bis Ottakring und auch die gepriesene deutsche Mutter- und Weltsprache versage bereits nach Lundenburg oder Breslau. Dagegen trüge Englisch, Französisch, ja selbst Italienisch oder Spanisch Siebenmeilenstiefel und schalle einem in den Dschungeln Indiens aus dem Rohr zurück, wie aus dem Busch im Kapland oder aus den Felsen der Kordilleren. Dieter solle seine restliche Jünglingszeit statt mit den toten Altertümern mit den lebendig gangbaren Werten verbringen, seine schöne Schrift dazu verwenden, einen ordentlichen Wechsel auszufüllen, ein Kontokorrent getreu zu führen, doppelte Buchhaltung in die Fingerspitzen zu kriegen, Baumwolle von Seide unterscheiden, Kaffee, Tee, Indigo, Farbwaren, Eisen, Kohle nach Vorkommen und Verbrauchsgebieten kennen zu lernen, kurz die gemeinhin mit Unrecht vernachlässigte und geringgeschätzte kaufmännische Wissenschaft aus dem Grunde zu studieren. Dann aber sei dieses Studium erst recht gar nichts und das Probieren alles. Habe Dieter an der Handelsakademie hier in Wien, einer dem Vernehmen nach ganz ordentlichen Schule, seine drei Lehrjahre glücklich bestanden, so wolle er ihn nach Japan mitnehmen, wohin er um diese Zeit etwa zurückzukehren gedenke. Unter seiner Führung könnte sich der Bursch dort frei bewegen, auf dem offenen Felde sich rühren, wenn's drauf ankäme, sogar ein Vermögen machen und die lateinischen und griechischen Klassiker als verschollene Kuriosa aus brauchbaren Uebersetzungen würdigen, wie ein reisiger Englishman die Denkmäler nach dem Baedeker absolviert. Der Vater Dieter, einem so guten Rat zugänglich, nickte bedächtig ja, ja, statt durch vier Klassen Gymnasium, mit denen ohne Universität erst nichts anzufangen war, hätte er den Jungen nur mehr durch drei Klassen Akademie zu bringen, um ihn dann ohne böses Gewissen frei geben zu können. Und was meinte Dieter der Jüngere dazu? Der sah sich bereits auf dem blauen Meere im schönsten Handelsschiffe wohlzufrieden nach den Wunderküsten schaukeln. Sein Beschluß ließ nicht auf sich warten. Nächstes Jahr wurde er ein Akademikus. Einen Freiplatz in der gastlichen Schule wollte ihm der Doktor Kern schon verschaffen. Mit dieser Aussicht genoß Dieter die Quarta wie das Ende eines ersprießlichen Fegefeuers und alle seine verfügbaren Gedanken weilten bei den wunderbaren fremden Völkern, Sprachen, Sitten, denen er sich so rasch wie möglich anpassen wollte. Wie die alten Helden zur rechten Zeit immer einen Schicksalswink herbeizurufen verstanden, welcher ihren Wunsch mit äußeren Zeichen bekräftigte und weihte, erhielt auch Dieter ein solches Orakel, als er einmal mit Toni an einem wunderlichen frommen Laden vorüberging und viele Bibeln mit den verschiedensten Schriftarten aufgeschlagen sah, voran aber ein kleines Büchlein, handlichen Formats und zierlich ausgestattet, um zwanzig Kreuzer erhältlich mit dem Titel: »Ev. St. Joh. III, 16 usw. in den meisten der Sprachen und Dialekte, in welchen die britische und ausländische Bibelgesellschaft die heilige Schrift druckt und verbreitet.« Darunter das Motto »des Herrn Wort bleibet in Ewigkeit«. Diese gegenwärtige Ausgabe, welche Dieter an sich brachte, enthielt die Zeilen: »Also hat Gott die Welt geliebet, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben« in dreihundertundzwanzig Sprachproben. Da war der eine Satz gedruckt, wie die kraushaarigen Amharier, die Hebräer, die Araber, die indochinesischen Amaniten, die Rothäute von Bolivia, die geruhigen Inder des Ganges, die schlanken Bengalen, die Insulaner von Sumatra, die Parsen, die gelobten Japaner, die reitenden Tartaren und Kalmücken ihn lesen und schreiben, von rechts nach links oder umgekehrt, von unten nach oben mit ausschlagenden Krähenfüßen oder Bilderbuchstaben, mit zierlichen Schnörkeln wie eine Taubenschar oder mit verschlungenen Kreisen wie gekräuselte Wellen in einer Meerbucht. Und ein ernstes Studium ließ Dieter nicht ruhen, bis er die interessanten Schriften nachzeichnen konnte. Hierbei offenbarten ihm der eine Satz und die mit scharfem Auge beobachteten Figuren den größten Teil der fremden Alphabete, wie ein Buchstabe oft genug ein ganzes Wort bedeutete, durch ein kleines Hütlein oben oder einen Sporn unten wieder sich in einen zweiten verwandelte und fromm mit seinen Brüdern einherschritt, einen christlichen Inhalt wie eine goldene Monstranz vor sich haltend, die von den Sprachgenossen wahrgenommen werden konnte und Ehre heischte. Das schien dem Dieter eine gerechte und kluge geistliche Ware, die sich in die Sitten und Formen der fremdesten Völker kleidete, um sich ihrem Denken anzupassen und allmählich aus einem kuriosen Gegenstand ein Bedarf zu werden, der bereitwillig und wohlfeil erworben, geduldig in der Tungusenhütte, wie auf dem Sattel eines ungewaschenen Steppenjägers, unter den Palmen der heißen indischen Luft, wie vor den Pagoden der bezopften Chinesen so lange wartete, bis man sein dringliches Zureden etwa doch vernahm: »also hat Gott die Welt geliebet.« Und wenn einer auch nur diesen Satz so zu schreiben und zu sprechen wußte, wie die Aethiopier, Gwambaneger oder uzbekischen Türken, vermochte er grüßend in den Kreis dieser Unbekannten zu treten, als einer, der zwar ungefragt eine unbegehrte Sache verkündet, aber mit Anstand. Obgleich er kein Missionar, Seelenfischer und Tröster von unbekümmerten Herzen zu werden gedachte, schienen ihm diese Zeilen doch über die Kluft verschiedener Rassen, Sprachen und Sitten eine leichte Brücke zu bieten, die allenthalben mit einem Wurf geschlagen werden und einen behenden Mann wohl tragen konnte. Lag man im Sand der tibetanischen Wüste und sah sich plötzlich von den auf ihre Einsamkeit stolzen Dienern des Dalai Lama überrascht, bedroht, so schrieb man mit seinem Stock auf tibetanisch in den Sand »also hat Gott die Welt geliebet«, und da schauten die Drohenden ehrerbietig, achteten den Wundermann und brauchten ihn nicht etwa erst aufzuschneiden, um aus seinen Eingeweiden seine Gesinnungen zu lesen. Die griechischen Aoriste verschmähte er, indem er sich dem indischen Sprachdschungel als zutraulicher Gast näherte, die drohende Gefahr jeder Stunde ließ er lauern wie sie mochte, um die etwa möglichen Schrecken einer ungewissen Zukunft bei den Südseeinsulanern aufs sehnlichste zu beschwören.

Nur die Rücksicht auf seinen bevorstehenden Austritt zum Kommerz hielt die griechische Sprache davon zurück, ihm einen Denkzettel zu erteilen, welcher nicht von der Liebe Gottes, sondern von der Schlechtigkeit seiner Kenntnisse ein einziges gemeinverständliches Wort ausgesagt hätte. Sein Abgangszeugnis wies recht bittersüß seine Leistungen eben als genügend aus. Toni mußte fortan allein auf der dürren Weide der gymnasialen Erziehung grasen, Dieter aber bezog nach wohlverbrachten Ferien als Akademikus seine neue Bildungsstätte.

Die lag nun nicht in einer armen Vorstadt, sondern von der rechnenden, dabei hochmütigen Laune reicher Kaufherrn halb als Palast, halb als nutzbringendes Zweckwesen aufgerichtet, mitten in einem angesehenen Viertel, gegenüber dem niedrigen Künstlerhause mit seinen pathetischen Figuren von Maler- und Bildhauer-Größen. Und wie nur ein Millionär auf die brotlosen Künstler, so blickte dieses dreistöckige Haus auf das Ausstellungsgebäude herab. Natürlich verlangte es auch seine Schutzheiligen in Stein vor seiner Treppe, muß doch die Kunst immer dazu herhalten, das einträglichste Geschäftsleben zu schmücken und zu verherrlichen. Die Heiligen hießen hier: Christof Kolumbus und Adam Smith. Hatte der eine die neue Welt eigens für den Export von armen Auswanderern und sonstigen Handelsartikeln entdeckt, so hatte der andere die Freiheit des kommerziellen Betriebes in genialer Unschuld philosophisch begründet und für eine angenehme, im stillen geübte Praxis »laßt mich ungeschoren«, die ehrbare, sittliche und ökonomische Formel gefunden. Immerhin trugen diese Schutzheiligen, ob sie sich zu ihrer Zeit davon auch nichts träumen gelassen, zum Dasein der Handelsakademie und mittelbar zu Dieters kaufmännischer Entwicklung das Ihrige bei und wurden gleichsam mitverantwortlich für diese Schule, denn irgendwie muß sich jedes Unterfangen vor der Welt auf eine Größe berufen, um sich so recht als gottselig und auserwählt zu behaupten. Und diese Anstalt gebärdete sich gar als besondere, modernste Großartigkeit, wie Dieter schon bei der sogenannten Einschreibung erfuhr. Da nahm er zum erstenmal wahr, wie ärmlich er mitten unter diesen hochelegant gekleideten Jünglingen mit gestickten Westen, hohen, eng geschlossenen Halskragen, schimmernden, vielgemusterten Krawatten, schwarzen, schwänzelnden Röcken, karrierten Hosen dastand, unter Leuten mit nachlässig vornehmen Gesichtszügen, über welchen da und dort bereits der hochwillkommene Schatten eines angeflogenen Schnurr- oder Backenbartes flaumte. Dieters schäbiges Röcklein ließ die Hände bis weit über die Knöchel frei, da er keine Manschetten besaß, auf seinem reinen Umlegekragen war ein fertiges, kleines, schwarzes Mascherl angeknöpft und die Hosen präsentierten sich, vom vielen Wandern und Sitzen abgeschabt, an den Knieen durchgeweitet, die Stiefel grob. Er kam sich recht unstandesgemäß vor. Der Kommerz schien einen gewissen Adel des Aeußern zu verlangen.

Am ersten Schultag betrat er pünktlich den Saal, wo ein ungemein anmutendes, freies Leben herrschte, da und dort saßen Leutchen mit nachlässig übereinanderlegten Beinen auf den Bänken und rauchten Zigaretten, denn hier war dies als unter akademischen Halbbürgern geduldet, wenn auch nicht eigentlich erlaubt, andere lümmelten in den Bänken herum, gähnten, erledigten ihre Privatkorrespondenz oder lasen Romane. Nur die vordersten Reihen zeigten dichtbesetzt ein bildungshungriges, darum verdächtiges Publikum von ganz erwachsenen Menschen mit großen Bärten, reichem, schwarzen Haarwuchs und schmutzigem Aussehen. Das waren Angehörige der Balkanländer, Serben, Bulgaren, Rumänen und andere interessante Patrioten, welche von ihren verschiedenen Vaterländchen an diese damals erste und einzige Handelsfachschule entsendet worden waren, um für die heimischen Gebräuche der Uebervorteilung im Viehverkehr und sonstigen Geschäfte die vornehmen, europäischen Worte, Ziffern, Gebärden und Grundsätze sich anzueignen. Sie sprachen miteinander in ihren nationalen Idiomen, während sie vor eine deutsche Frage gestellt, große Augen, wie ein unschuldiges Kalb, auftaten und zu einer auswendig gebüffelten Schulgrammatikantwort den Mund weit öffneten, bis sie einen kleinen Satz herausbrachten, der erst nichts Rechtes besagte und sich alsogleich hinter ihrer allgemeinen Verlegenheit verschloff. Dieter wählte, wie immer, mit Bedacht einen Platz am Fenster, von wo er beobachten konnte, ohne selbst aufzufallen und ließ sich, von der Großartigkeit der neuen Umgebung einigermaßen verdutzt, bescheiden nieder. Vor ihm saß ein ganz erwachsener, junger Mann über einem dickleibigen Romane und ließ sich nicht einmal durch den Eintritt des ersten Lehrers in der wichtigen Lektüre stören, wie denn die vordersten, balkanischen Vertreter durch geräuschvolles und ehrerbietiges Sicherheben sowohl der schuldigen Höflichkeit genügten, als auch die hinteren verdeckten, die in aller Unschuld weiterschwatzten und -lümmelten. Seelenruhig statteten Bekannte einander Besuche ab, und auf Dieters Vordermann trat ein feiner Jüngling mit weltmännischem Gehaben zu, die beiden schüttelten einander die Hand. Dieter blickte bestürzt und bewundernd auf so viel Freiheit und verfehlte nicht, dadurch auch dem Unbekannten aufzufallen. Der verbeugte sich gleich auch unter einem vor Dieter, welcher automatisch aufstand und vernahm, wie der andere sich vorstellte:

»Mein Name ist Geringer.« Nun wußte Dieter, der Anstand verlange, daß auch er sich nenne und tat dies unter solennem Händeschütteln und Verbeugen und fühlte sich mit einem Male als Gentleman. Sowohl um sich in dieser vornehmen Sitte zu üben, als um sich einen leistungsfähigen Gönner für das jedenfalls wichtige Abschreiben und Einsagen zu sichern, wandte er sich mit gleicher Höflichkeit an seinen Nebenmann, einen ehemals wohl mit regelmäßig gefältelten, falschen Kanonenstiefeln ausgestatteten Jüngling, dem heute nur mehr die kennzeichnenden abstehenden Ohren geblieben waren. Sonst schien er durchaus korrekt und sachlich angezogen, aber ganz Fleiß, Aufmerksamkeit und Wohlverhalten, besaß bereits alle nötigen Hefte und Bücher und war in das kommerzielle Studium vertieft, noch ehe es in der Schule auch nur begonnen hatte. Der war sicherlich ein wertvoller Kollege und nahm Dieters Vorstellung mit ruhiger Freundlichkeit entgegen, erwiderte, er seinerseits heiße Isidor Tauber und freue sich. Darauf gingen die einzelnen Fachlehrer und ihre Stunden mit höflichen Vorstellungen der Professoren und Schüler und verschiedenem Lärm an Dietern vorüber. Jede Lektion und jeder, der sie hielt, zeigte ein eigenes, zugehöriges Wesen, die kaufmännische Arithmetik gebärdete sich mit Zwirnhandschuhen lebhaft und kopfrechnerisch und kam aus Hamburg, wo sie sich in der Praxis nicht bewährt und Konkurs gemacht hatte, aber nun in Wien die Theorie desto selbstbewußter an den Mann brachte. Die Warenkunde schleppte gleich allerhand Naturprodukte und Verarbeitungen herbei und ließ ihre Proben von Hand zu Hand wandern, was Gelegenheit zu manchen guten und schlechten Witzen bot, die Geographie, von einem verehrten und iuteressanten, einarmigen Herrn vorgetragen, zog die pittoresken Balkanvölker auf lustige Art in Mitleidenschaft, indem sie von der allgemeinen Zahlungsunfähigkeit dieser Gegenden anschauliche Beispiele unter Zuhilfenahme der Münzgeographie darbot. So wurde vorgetragen, zugehört, oder auch nicht, keiner kümmerte sich um den andern, die Professoren hielten ihr Kolleg, ohne sonderliche Beachtung der Sitten und Aufmerksamkeit ihrer Hörer, wer lernen mochte, tat es auf eigene Verantwortung und Gefahr, wie auch jeder, der anderes betrieb, seiner Privatbeschäftigung überlassen war. Dieter wußte sich vor Staunen gar nicht zu fassen, als zum Beispiel der junge Geringer, der ihn gelehrt hatte, wie man sich vorstellen müsse, auf ein lautes Kommando seiner Umgebung plötzlich unter die Bank tauchte und nach fünf Minuten, die mit der Uhr verfolgt wurden, eine Wette gewinnend, ganz bis auf Hemd, Unterhose und Krawatte ausgezogen, emporsprang. Der Professor auf dem Katheder war mit einem Modell beschäftigt und bemerkte ihn nicht. Geringer, der dieserhalb den Namen »Verwandlungskünstler« führte, verbeugte sich in seiner Blöße dreimal nach allen Himmelsgegenden, tauchte dann wieder unter und kam nach fünf Minuten wieder als tadellos angekleideter Gentleman zum Vorschein.

Diese und andere Begebenheiten beschäftigten Dieter aufs angelegentlichste. Allmählich enträtselte er die eigentümliche Art und Ordnung dieses freien Schulwesens. Die Anstalt war eine Schöpfung des selbstbewußten, reichen und zur Macht gediehenen Kaufmannsstandes, der im Lande seine Herrschaft durch eine Schule zu befestigen und so durch Gelehrsamkeit gleichsam zu weihen suchte. Hier sollten seine fügsamen künftigen Kommis erzogen, aber seine eigenen reichen, an Wohlleben gewöhnten Söhne darum nicht allzu hart angefaßt werden.

Wer kein Kapital besaß und darum dem fremden dienen mußte, der sollte sich hier redlich plagen und Kenntnisse sammeln, von denen er in ernsten Schlußprüfungen Rechnung abzulegen hatte. Aber die Söhne der ersten Handelsfirmen der Stadt, wie nur die Fürstenkinder an Wohlleben und freies Spiel ihrer Neigungen gewöhnt, zu den sonstigen Studien nur selten ernstlich geneigt, sollten hier jene Scheinbildung mühelos auf dem Präsentierbrette vorgetragen bekommen, mit welcher sie einst gebieten und die Erbschaft ihrer von selbst gehenden Geschäfte ohne Sorge antreten könnten. Aber auch vor dem Staate sollten diese Jünglinge hier eine gewisse äußerliche Rechtfertigung ihres höheren Standes erwerben. Freilich spricht man von allgemeiner Wehrpflicht, aber die oberen Tausende erhalten kraft ihres Wissens und Vermögens leichtere, begünstigtere, kürzere Waffenzeit. Wer statt dreier Jahre nur eines dienen und danach statt als gemeiner Mann, als Reserveoffizier in schöner Uniform und als Befehlender auftreten will, der muß sich sowohl mit dem standesgemäßen Lebensunterhalt, als auch mit sogenannter höherer Bildung durch Zeugnisse ausweisen. An Gymnasien und Realschulen werden die künftigen Einjährig-Freiwilligen ohne Schonung auf Herz und Nieren geprüft und müssen für ihren einstigen eigentlichen Beruf als Juristen, Philosophen, Mediziner oder als Techniker ernstliche Kenntnisse erwerben und bewähren. Verwöhnte und oft minder begabte Millionärsöhne weigern sich gerne solcher Zucht, wollen darum aber doch nicht drei Jahre und unter dem gemeinen armen Pöbel dienen. Die Kinder der Fürsten müssen auch ihre Schulen nicht so peinlich wahrnehmen, werden auch wohlfeiler und mit schönem Scheine geprüft und erhalten gleichfalls ohne den unmöglichen Geniebeweis, ja sogar oft schon in der Wiege etwa ein Regiment und eine Feldherrnschaft, und wenig später gar eine Landeshoheit, als geborene, von Gottes Gnaden auserwählte Herrlichkeiten des Menschengeschlechtes. Sie haben sie nicht weiter zu erweisen. Die Inhaber der machtbedeutenden Kohlenwerke, Eisenhütten, der papiertauschenden Banken, welche mit sachten Briefen und telegraphischen Ordres, ja durch ein Augenrunzeln und Kopfnicken Millionen von einer Seite auf die andere, immer aber aus dem zerstreuten Besitze in die großen, eigenen Säcke zu versammeln wissen, wo das Geld besser aufgehoben ist, fühlen sich hinter den alten Besitzern von Grund, Herrschaft und Vorfahren keineswegs sonderlich zurückstehend. Auch sie verlangen für ihre Geschlechter forterbende Macht, angenehmes unbehelligtes Gedeihen und ehrfürchtige Berücksichtigung vonseiten des armen Volkes. Wissenschaft und Kunst, die Arbeit der schwieligen Fäuste und der angestrengten Gehirne soll ihnen, wie den Gottbegnadeten als ihr Recht zufließen, damit sie darin nach Belieben baden können. Mag ihr Ursprung auch im Dunkel der Armut, Arbeit, ja der Schande liegen, sie haben sich, wie die ahnenreichen Großen durch eine kühne Tat, durch Handstreiche des kommerziellen Krieges Macht erworben, nun flutet diese einstige Bewegung in ruhigeren Wellen fort bis in ferne Geschlechter. Der Wechsel von Erhabenheit und Demut soll sich fortan möglichst langsam vollziehen, der gestaute Besitz dauerhaft verweilen, kluge Heiraten, wohlbedachte Verbindungen werden eingegangen, ihn zu mehren. Wer gestern durch einen Griff ein unerwartetes Geld erwarb, und sei es, indem er alle gegebenen Verhältnisse verwirrte und durcheinandermischte, der ist heute ein treuester Bewahrer der heiligen Ordnung und baut streng auf die ewigen Rechtsgüter. Das Kapital ist selbst ein Wappen und malt sich Stammbäume nach Herzenslust. Ja, es lacht sich über die altadeligen Machthaber krumm, wenn es sich unbemerkt glaubt, denn ihre Heere, Parlamente und Gesetze dienen seinem Geld und Willen, es befehligt ohne Feldherrnschaft ihr Militär als seine eigene Mannschaft und ist Kaiser über den Kaisern. Die Söhne dieser Gewalthaber brauchen nun wie die Erbprinzen eine wohlanständige Bildungsstätte, an welcher sie in aller Ruhe ohne Anstrengung ihr Zeugnis bekommen, ihre Prüfungen ohne Hindernisse bestehen können, um nachmals als flotte Kavalleristen unten den hochgeborenen Grafen Figur machen und mühelos die Vorrechte genießen zu können, welche das Vermögen allenthalben beansprucht. Der Nachweis der erforderlichen Bildung wird eine bloße Sache der Form und des Anstandes. Noch niemals ist ein Prinz als Prüfungstrottel davongejagt, noch niemals ein Millionärsohn als Müßiggänger zum Fleiß verurteilt worden.

Da aber diese Anstalt auch für viele auf ernste Arbeit und lernendes Wohlverhalten angewiesene künftige Kaufleute nötig war und ein hohes Schulgeld einzog, war sie auch recht erträgnisreich. Ihre Gründer, eben einige sichere Millionäre, traten vor der Oeffentlichkeit als gewissenhafte Pfleger der allgemeinen Interessen auf, indem sie eine so gemeinnützige Schule ins Leben riefen, insgeheim aber erfreuten sie sich auch dieser Aktienunternehmung, als einer Sache, welche ihren eigentlichen Zweck, das privilegierte Dasein ihrer Herren Söhne förderte, ohne Geld zu kosten, ja noch reichlichen Gewinn abwarf. Die alten Fürsten bringen für ihre Stellung Opfer, die neuen Gebieter des Kapitals lassen andere für sich Opfer bringen und gedeihen um so besser, je mehr die übrigen steuern. Das bewegliche Kapital springt wie das Rössel im Schach, dessen Könige sich nur mühselig und schrittweise rühren dürfen. Diese kaufmännischen Prinzen mit ihren nachlässigen eleganten Manieren und Kleidern galten als die unerreichbaren Vorbilder der ärmeren Akademiker und gaben den Ton an. Die ersten Wochen des großartigen neuen Lebens erfüllten Dieter so ganz, daß er nicht einmal mit Toni zusammenkam. Erst als er in dem neuen Treiben einigermaßen heimisch geworden, holte er den Freund wieder ab. Das erste war, daß er sich, wie er's gelernt hatte, feierlich vorstellte. »Mein Name ist Dieter, Akademikus«. »Sei nicht so blöd.« Dann gingen sie spazieren, Dieter erzählte, von Begeisterung glühend, die Erlebnisse der letzten Zeit, beschrieb die eleganten Kameraden, die hochgebildeten Lehrer, die freien Umgangsformen, die täglich wechselnden Unterhaltungen im Hintergrunde des Saales, die interessante Warenkunde, die Produktionen der kaufmännischen Arithmetik im Kopfrechnen, Geringers Verwandlungskünste, die ein neues Stück produziert hatten, indem der findige Jüngling zuerst ohne Kleider sich zeigte, dann unter die Bank tauchte und nach fünf Minuten sein ganzes Gewand von innen nach außen gekehrt, angezogen hatte, weil es auch so sehr schön war. Dieter erzählte von den schwarzen Bulgaren und Serben, von dem heitern Spott, dem sie durch den interessanten Geographieprofessor ausgesetzt wurden, wobei sie unwillig lachten, wie in einem feindseligen kalten Bade. Das alles kam Toni fremd und peinlich vor. Er schüttelte immer nur den Kopf und fand alles blöd, so daß Dieter selbst an dem Witz dieser Dinge zweifelte und sich gar verlassen dünkte, wie ein Fisch, der aus seinem gewohnten Wasser genommen, in der Luft nach Luft schnappt. Hinwiederum berichtete Toni von den alten Gymnasialangelegenheiten, vom Griechisch und vom Einsagen und von den bekannten »Teppen« der Klasse. Dies aber dünkte den Dieter seinerseits schal und armselig, was war das für ein spießbürgerliches, schülerhaftes Getu, ohne Schwung und Kraft, recht eine philologische Bettelsuppe neben einem überwürzten Freiheitsmahl. So redeten sie eine gute Weile nebeneinander vorbei und fröstelten, als seien sie fremd geworden, die doch so brüderlich gewesen. Als aber Toni zum Schlusse eines neuen gymnasialen Sternes erwähnte, eines Mitschülers, der einen Zylinder besaß und so großartig auftrat, wie ein Meister, und als er wohl aus Trotz diesen Burschen als seinen Freund bezeichnete, an den er sich in allen Stücken halten wolle, da fühlte Dieter einen stechenden Schmerz, wie wenn einer aus der lieben Heimat und von lauter Menschen, die er sich nah geglaubt, fortgemußt und nach vielen Gefahren endlich wieder zurückgekehrt, wahrnimmt, alle hätten sich leicht ohne ihn beholfen, ja ihn völlig vergessen und wollten nun nichts mehr von ihm wissen. Unwillkürlich entfuhr ihm das Wort: »Den Esel kannst du dir schon behalten.«

Toni rückte darauf scharf von ihm ab und antwortete:

»Und du Esel kannst mich gern haben.«

Verdutzt über diesen ersten Schimpf, den sie sich angetan, standen sie einander gegenüber, maßen sich mit fremden, feindseligen Blicken. Jeder wollte noch etwas sagen, sei es etwas schlimmeres, oder etwas lustiges, aber nichts fiel ihnen ein. Ihre Augen senkten sich. Endlich machte Toni Kehrt, lüftete mit höflichem Spott, der Dietern ins Herz schnitt, seinen Hut und sagte bloß den alten Gruß, den er auf jene verächtliche Weise aussprach, die nur ein Wiener Kind, das lustigste und grausamste Weltgeschöpf über die Lippen bringt: »Servus«. Dann drückte er sein altes, zerknittertes Jägerhütel trotzig schief in die Stirn und ging als ein Feind aufrecht davon. Dieter kam mit seinem Gegengruß nur mehr hinterdrein, sein »Servus« klang verstört, fast wie eine Klage und traf den Toni wohl gar nicht mehr. Dieter stand auf der Brücke, wo sie wie immer Abschied genommen hatten, und sah noch eine Weile dem Toni nach, der steif und doch nachlässig auf seine besondere Art davonstelzte und bald hinter der Menge verschwand.

Dieter begehrte in seinem Herzen auf wider diesen Freund und alten Waffengefährten, und da er so schnöde beleidigt worden war, beschloß er fortan sein neues Leben um so stolzer und selbstgerechter zu führen, er wolle es »dem da« schon zeigen, was ein Akademikus bedeute.

Nun schloß er sich in der Schule, als Spaziergänger und kundiger Wiener an diejenigen, welche seine Führung, seine Berichte und sein geistiges Ansehen wohl am besten achten mußten, an die interessanten Balkanvölker. Unter diesen nahm einer, ein braver, lernbegieriger und stockeinsamer Bulgare seine Freundschaft voll Begeisterung an. Ihn führte Dieter in der Stadt herum, wobei er alles mögliche, bald aber alles unmögliche erklärte und dem Fremdling einredete. Denn der war kein Kirchenlicht, verstand auch wenig von der deutschen Sprache, schätzte sich glücklich, auf billige Art eine Konversation zu bekommen, um, wie er eingestand, davon zu profitieren und nickte zu allen Ungeheuerlichkeiten, welche Dieter ihm aufband, gläubig »ja«. So wies ihm sein Führer zum Beispiel das Lanzengitter des Volksgartens, welches in der Tat aus wunderlich geformten und aneinandergeschlossenen halb vergoldeten Speeren besteht. Das seien lauter in den Türkenkriegen erbeutete Waffen, die man hier als Triumphgitter verwendet habe. Der Bulgare war entzückt. Zum Dank lud er Dietern einmal in seine Wohnung ein, in ein wehmütiges Kabinett, wo das verwahrloste Lager offen stand, während am Fenster in einem bunten und vielgebrauchten Schnupftuch der Zigarettentabak zum Trocknen ausgebreitet, von einem Stiefelzieher beschwert war, damit er nicht auseinander fliege. Der Bulgare bot Dieter aus der Westentasche ein zerknülltes Zigarettenpapier, damit er von diesem Vorrat sich eine »Papyros« drehe. Der Gast tat's mit Widerstreben. Aber seinen Bulgaren kannte er nun von Grund aus, und da er von solchem Freunde wahrlich keinen herzlichen Gewinn haben und sich selbst an den Lügen nicht mehr erfreuen konnte, die der Bulgare gar zu leicht glaubte und ehrfürchtig aufnahm, zog er sich von ihm zurück und ließ ihn lange verwundert schmachten, was den verehrten Gönner denn erzürnt habe und warum er sich von ihm abgewandt, da ihre schätzbare Kameradschaft doch so annehmlich begonnen. Dieter ließ ihn vergeblich betteln, tat höflich, aber unnahbar und begnügte sich damit, dem Bulgaren den fremden Wiener Volkscharakter als launenhaft, unbeständig und rätselhaft gezeigt zu haben. Fortan schloß er sich in seine eigene schützende Einsamkeit ein, beobachtete, lernte und wanderte allein, wie er von je das Treiben der Welt als eine Folge von Bildern an sich vorüberziehen zu lassen geliebt hatte, die eigens für den betrachtenden Dieter so gemalt und erfunden worden.

Im Treppenflur der Handelsakademie gab es eine Portierloge, welche Dieters Neugierde und Bewunderung von Anbeginn gereizt hatte. In ihrem Fenster waren nämlich nach akademischer Sitte Briefe ausgestellt, welche die Studenten hierher adressieren ließen und gegen Erlag eines Kreuzers für jede Sendung bezogen. Diese postalische Einrichtung diente hauptsächlich für den beginnenden Liebesflor der heranreifenden Jünglinge, und man sah denn auch vor allem weibliche Billette und Schriftzüge auf bunten, duftenden Kärtchen, aber auch rührige Buchhändler und Fabrikanten schickten ihre Anzeigen und preisenden Warenverzeichnisse an bekannte Kundschaften. Denn wer noch keine Geliebte hatte, wollte wenigstens als vielbegehrter Briefempfänger und ernster Korrespondent gelten. Auf diese Weise lernte Dieter, daß jedermann aus aller Herren Länder Probenummern, Kataloge und dergleichen unentgeltlich beziehen kann. Das lockte ihn denn sehr zur Probe und Steigerung seiner Welterfahrung. Einmal, ob auch er eine solche Korrespondenz einleiten und durchführen könne, zum andern aber, um zu erfahren, was für Erzeugnisse, Zeitungen, Bücher, Waren sich wohl einem Akademikus anbieten würden.

Nun entsandte er, seine ganzen Ersparnisse auf Korrespondenzkarten aufwendend, in alle Himmelsrichtungen Bestellbotschaften, indem er aus vielen Hilfsbüchern die namhaften Maschinenfabriken und sonstigen Geschäfte, in Erfahrung brachte und um ihre Preiskurante anging. In der Tat fand er jeden Tag eine hübsche Reihe derartiger Drucksachen bereitliegen und vertiefte sich lernbegierig in die Abbildungen verschiedenster Erzeugnisse der Technik. Was er als Schulaufgabe niemals hatte lernen wollen, studierte er in diesen Katalogen mit geduldigstem Fleiße und lernte das schwierige Gestänge eines Motors, das Geheimnis ineinandergreifender Triebwerke bei Dampfpflügen, Walzen, Dreschmaschinen, Mähvorrichtungen, Webstühlen, Turbinen, Automobilen, Zahnradbahnen und das Zubehör der Kesselschmiere, chemischer Düngemittel, kurz alles Durcheinander der modernen Erzeugnisse, welche die Arbeit kunstvoll steigern, indem sie sie scheinbar erleichtern, wie ein Märchen würdigen, in welchem alle Wunder sich selbst erklären und wiederum tausendfältig ineinander verstricken. So verursachten alle diese exakten Zeichnungen, Preisangaben und Erläuterungen um den begierigen Leser ein Brausen und unablässiges Lärmen, wie in einer Ausstellung, wo eine tolle Maschine neben der andern geht, surrt und zirpt, schießt, brummt, läuft und stockt und mit ihren Riemen, Funken, Gedränge, mit Stoß und Gegenstoß nach dem Beobachter zielt, als wolle sie ihn um jeden Preis in ihre Fänge ziehen, um ihn zu zermalmen und erst, sei es als brauchbaren Lederriemen, sei es als ansehnliche Leinwand oder Seide, sei es als Düngemittel oder als Erbswurst, als künstliches Nährpräparat oder als harten Nagel verarbeitet und umgestaltet wieder herauszulassen.

Daneben kamen auch die interessantesten Probenummern von Zeitschriften angesegelt, mit und ohne Illustrationen und rasselten mit ihrem Text, wie die Maschinen mit ihrem Treibwerk, um die Seelen von Lesern zu fangen, breitzutreten und als Gesinnungsstanze ihrer Partei und Geschmacksart hinauszugeben. So erwischte Dieter den sogenannten »Pelikan«, ein Blatt, dessen Titel ihn reizte, weshalb er bei einem sicheren Gewerbsmanne zu Regensburg, der sich mit Verlag und Vertrieb gedruckter Frömmigkeit befaßte, eine Probenummer erbat. Der »Pelikan« wollte nämlich mit seinem Titel an jenen edlen Vogel erinnern, der für seine Brut die schönsten Brustfedern sich ausreißt, deshalb aber von den Menschen schnöde mißbraucht wird, indem man diese seinen Daunen solange aus dem Nest nimmt, bis er keine mehr am Leibe hat und hilflos verblutet. Dieser »Pelikan« rupfte sich also auch für Dieter bereitwillig ein hoffnungsvolles Exemplar aus und erwies sich mit dieser Probenummer als eine streitbare und fromme Zeitschrift für die Interessen der Knechte und Mägde auf dem Lande. Alle seine Beiträge waren von Geistlichen, oder von sonstwie erleuchteten Seelen verfaßt und liefen darauf hinaus, daß Beten unbedingt gegen alle Not schützt und zu allem verhilft, was man wünscht und braucht. Beten muß man, wenn's hagelt, dann hört der Hagel auf, beten wenn's dürr ist, dann regnet's, beten, wenn man keine Kinder hat, dann gibt sie Gott, beten, wenn man ihrer zu viele besitzt, dann nimmt sie der Herr in Gnaden in sein himmlisches Reich. Viele Danksagungen bezeugten den Erfolg dieser treuen Ratschläge, zum Beispiel die eines Knechtes, welcher einen Schlüssel zu einer Truhe verloren und auf Anweisung des Redakteurs solange zum heiligen Josef gebetet hatte, bis er den Schlüssel richtig im Stalle fand. Dieter las dieses Blatt mit Staunen, dann mit Aerger, schließlich kreuzvergnügt, so war also die Welt, so war die Geistlichkeit. Diese letztere, die er als einen Verein geachtet hatte, dessen Mitgliedschaft sich ständig erneut und die ganze Christenheit mit Rat, Fürsorge und Hilfe überwacht, war das Letzte, was ihm von der Religion übrig geblieben. Trotzdem er den Glauben aufgegeben, hatte er eine gewisse Schätzung der willentlichen geistlichen Brüderschaft bewahrt und würdigte achtungsvoll deren weise Art zu herrschen und zu dienen und den ganzen Kurs des Christentums mit sicherer Hand zu halten. Nun schüttete er freilich das Kind mit dem Bade aus, als er den »Pelikan« las und daraus ersah, wie diese Herrschaft ausgeübt wurde. Daß Schafe von Schäfern mit Schafsgemurmel gezügelt wurden und daß ein tierisches Herleiern die allgemeine Dummheit besänftigte und gefügig machte, alle Krankheiten der Sehnsucht durch diese Allerweltssalbe geheilt werden sollten, daß die ganze bewunderte Macht nachgerade auf der Narrheit der Unterworfenen, wie auf einem Esel stolz daherritt und sich darauf noch was zugute tat, machte seiner Anerkennung vollends den Garaus. Fortan sollten ihn die Pfaffen in Ruhe lassen, er gönnte der Herde die Hirten, den Schäfern ihr Vieh. Aber der »Pelikan« wollte nicht umsonst die Brustfedern aus seinem treuen Leibe gerissen haben, stolz auf die Erbeutung eines Wiener Akademikus sandte der Herausgeber nicht nur alle Nummern seines frommen Blattes, sondern alle Verlagsartikel seiner Firma an diesen bedeutsamen Adressaten, so daß schier allwöchentlich neue heiligengeschmückte Drucksachen, buntbemalte Flugblätter beim Portier für Dieter eintrafen und auffielen. Dieter löste sie nur unwillig ein, warf sie ungelesen davon und dachte an nichts Arges, als immer neue Segnungen des klerikalen Füllhorns aus Regensburg sich über sein Haupt ergossen. Da wurde er eines Tages von seinem Vater in der Aula empfangen, der ihn mit bekümmertem Gesicht fragte: »Was hast du denn mit Regensburg angefangen, oder wie das Nest heißt?« Dieter sah ihn erstaunt an, denn er dachte längst nicht mehr an den »Pelikan«. Der Vater aber erzählte, der Direktor der Akademie habe ihn mittels eines Privatbriefes zu sich zitiert und gar drohend mit einem Pfeilblick empfangen: »Ihr Sohn treibt ja eine ausgedehnte klerikale Propaganda hier in unserer Anstalt, die von dem freisinnigen Bürgertum erhalten wird, und an welcher er einen Freiplatz genießt. Er paßt nicht zu unseren Leuten.« Dieter mußte unwillkürlich lächeln, als der Vater die hochtrabende Redeweise des Regierungsrates nachahmend, mit einem wehmütig tadelnden Seufzer wiederholte: »Er paßt nicht zu unseren Loiten.« Nun habe der Alte, wie er ängstlich versicherte, den Zürnenden mit Bitten beschwichtigt, er wisse nichts von politischen Unternehmungen seines Sohnes, es würden sicherlich nur Dummheiten, keine bösen Sachen sein.

»Nun, schicken Sie mir den Jungen morgen in die Kanzlei. Ich werde ihn mir persönlich vornehmen,« habe der Direktor geschlossen.

Dieter ging denn am andern Tage halb trotzig, halb angstvoll in die noble Kanzlei des Regierungsrates, kam er doch wahrlich wie der Pontius ins Credo zur klerikalen Propaganda und sollte, indem er seine Ehre als Akademikus wahrte, gar eine Dummheit rechtfertigen, die ihm selbst verächtlich vorkam. Wie oft ist die Gesinnung in dem Falle, gegen ihr besseres Wissen zu zeugen, weil sie ihre Freiheit behaupten muß, und sollte sie sich selbst dumm machen.

Der Direktor unterwarf den Dieter einem gedrängten Kreuzverhör, indem er ihm die Titel aller empfangenen frommen Drucksorten vorhielt. So stand es also mit der Brieffreiheit eines Akademikus, dachte Dieter, daß die verdächtigen Sendungen genau kontrolliert und verzeichnet wurden. Wiederum eine bittere Erfahrung mehr! Vielleicht besah man auch manche gefährlichere Liebeskorrespondenz und diente den Herren Vätern mit Auskünften, oder galt derlei als harmloseres Ungefähr des Studentenlebens, während fromme Druckschriften als satanische Gefahr ausgemalt wurden? »Warum lesen Sie solche Sachen?« fragte der Direktor mit gerunzelter Stirn.

»Weil sie mich interessieren,« antwortete Dieter.

»Und warum interessiert Sie das?«

»Weil mich alles interessiert, was es auf der Welt gibt,« versetzte der Akademikus.

»Nun, und wie steht's mit der politischen Arithmetik?« fragte er weiter, denn dies war das Lehrfach, welches er vortrug.

»Danke, recht gut,« antwortete Dieter und dachte, »jetzt kann ich mich auf eine feine Prüfung gefaßt machen.«

»Nun wir werden ja sehen, ob Sie sich auch für Ihre Schulgegenstände eben so interessieren, wie für diese Drecksachen.« Damit entließ er Dieter, nachdem er ihn strenge verwarnt, und geboten hatte, keinen solchen Verlagsartikel mehr zu beziehen. Die fromme Handlung hatte nämlich Tag um Tag auf eine Bestellung gewartet und schließlich an die Direktion geschrieben, ob wirklich ein gewisser Josef Dieter unter die Schüler der Anstalt zähle, da sie ohne weiteren Bescheid schon so viele Proben an seine Schuladresse geschickt hätte. Am Ende liege ein Betrug vor. Da unterließ der Herr Redakteur das Beten und hätte sich doch von Rechts wegen selber etliche Litaneien auferlegen müssen, um einen Abonnenten zu gewinnen, anstatt dessen war aber auf einmal die weltliche Autorität am Platze und eine Anzeige sollte das Gebet ersetzen. Nun, Dieter kannte jetzt die Klerisei und warf sich für eine Weile auf die politische Arithmetik, ließ sich von Isidor Tauber das allerverzwickteste Beispiel haarscharf erklären, denn ihm schwante, gerade dieses würde der gereizte Direktor von ihm verlangen. In der Tat fiel der Regierungsrat in diese Falle, Dieter schmiß das Exempel in einer geradezu großartigen Wut nachlässig auf die Tafel hin, als sei es ein Kinderspiel für seinen Genius. Der Lehrer staunte, schwieg, glättete dann seine Stirn, bot Dietern die Hand und versöhnte sich mit ihm, da er sich in der Tat für politische Arithmetik ebenso kräftig zu interessieren schien, wie für die Regensburger Propaganda, und damit war die klerikale Gefahr beseitigt.

Die Einsamkeit hatte Dieter also manche Enttäuschung und vielen Verdruß gebracht, sie schmeckte bitter, und er kam sich zum erstenmal recht verlassen und genarrt vor. Seine Spaziergänge freuten ihn nicht, da er allein schweigen und schauen mußte, einstmals war der Toni an seiner Seite gewandert, und wenn sie auch beide stundenlang kein Wort gewechselt, hatten sie einander in aller Stille so viel und immer Neues gesagt, als wüchse mit jedem Tag ein neues, frisch entfaltetes, grünes Blatt vor ihren Augen an den verschwisterten Bäumen ihrer Jugend.

Als nun gar der Frühling kam mit den strotzenden Kastanienblüten, mit den violetten und lilastarrenden Fliederbüschen vor dem Heldenplatz und im Volksgarten, mit allen den paarweis wandernden Leuten in der warmen Luft, mit seiner Müdigkeit und gliederstreckenden Sehnsucht, mit dem Himmel, der voll Bläue winkt, mit der Sonne, die selber wie ein Wanderheiliger dahinzieht, da dachte Dieter an den Prater, den er sich um keinen Preis als sein alleiniges Lustrevier, sondern immer nur als einen Besitz vorstellen mochte, der ihm und Toni gemeinsam gehörte, wie ein grünes Reich zweier Götter. Er dachte an den alten Baum da drunten, wo die stumme Aeolsharfe der Zigarettenhülsen vergeblich im Winde schlenkerte, an das Heustadelwasser, welches den Irokesenstaat von den Huronen schied. War er denn von all diesen Dingen ausgeschlossen und für ewig abgetrennt? Sollte er das vergessen müssen, was ihn allein hier freute, dann mochte der Teufel den Kommerz holen und die ganze akademische Würde ihm gestohlen bleiben. Er wußte gar nicht, wie es kam, daß er eines Tages, um die Zeit, wo er sonst den Toni zum Ausgehen erwartet hatte, wiederum vor dessen Hause stand. Wenn der Toni jetzt, wie damals, bei der Tür herauswischte, dann war alles wie sonst und die Sache in Ordnung. Wenn nicht, aber diese Möglichkeit brauchte gar nicht durchgedacht zu werden, denn schon stand der aus einem drängenden Herzen Herbeschworene vor Dieter, hatte sein Jägerhütel schief auf dem Kopfe, sie sahen einander mit einem kurzen Blicke an, tauschten den gewohnten Schulterschlag und gingen einträchtig, ohne über die böse Zwischenzeit ein Wort zu verlieren, ihren alten Weg. Daß sie in den Prater wollten, brauchten sie nicht abzureden. Und schon wandelten sie in der Hauptallee. Da waren sie vor dem Konstantinhügel und standen an dem schönen, künstlichen Teiche, dessen Kähne ihnen für eine wunderbare Schiffahrt bereitstanden. So oft sie vordem hier staunend verweilt, hatten sie sich mit dem Wunsch nach einer Ruderpartie begnügen müssen, denn das Riesenvermögen von vierzig Kreuzern welches für die Kahnmiete begehrt wurde, blieb ihnen unerschwinglich. Der Traum der Fahrt hatte immer für sie ausgereicht.

Heut' aber war Dieter ein reicher Mann, er besaß einen Gulden und war bereit, ihn in die Luft zu schlagen, man lebt nur einmal auf der Welt, und nur einmal findet man einen verlorenen Freund wieder.

»Wir fahren Schinakel,« lachte er, »ich zahl's.« Und schon sprangen sie in eines der funkelnagelneu lackierten Boote und stießen ab. Sie hatten noch niemals gerudert. Der Teich, dessen Wasser herbeigeleitet und künstlich gestaut war, mußte weit wie ein See sein, sie sahen keinen Grund und dünkten sich über einer mächtigen Tiefe schwebend. Sie handhabten die Ruder und zogen auf dem ruhigen Wasser dahin, was ihnen auch ohne Lenkung und Bewegung wohl gelungen wäre. So fuhren sie an das nahe Ende des Teichleins, in einen Bachabfluß, über welchen eine so niedere Brücke gebaut war, daß kein Boot darunter durchkommen konnte. Und just an dieser gefährlichen Stelle verloren sie die Ruder, die ihnen sacht davonzugleiten drohten. Ueber die Gefahr, an der Brücke zu kentern und die kostbaren gemieteten Werkzeuge einzubüßen und ersetzen zu müssen, schrieen sie zugleich auf, langten hilflos nach den Hölzern, die schier in Reichweite getrost auf der Wasserfläche und scheinheilig lagen, beugten sich über den Kahn, der immer näher zur Brücke glitt. Sie beugten sich immer heftiger nach den Rudern, bis das Fahrzeug umkippte und sie ins Wasser warf. Beide glaubten, jetzt sei ihr letztes Stündlein gekommen, denn keiner konnte schwimmen und die Tiefe verlangte sie. Da griff Toni unwillkürlich nach Dieters Hand und sagte, schon bis zum Hals im Wasser: »Jetzt bleibst du bei mir.« Und sie befahlen einander und dem Herrn der Dinge ihre armen Seelen.

So verging ein Augenblick des lauernden Todes und des lebenverlangenden Schicksals, und dann sahen die zwei Buben bis ans Kinn im Wasser, aber festen Boden unter den Füßen, jeder an die gegenüberliegende Kahnflanke geklammert, mit grinsenden Gesichtern einander an, und riefen wie aus einem Munde: »Du, jetzt rennen wir.« Sie schwangen sich mit aller Kraft auf die drohende, nun aber glücklichen Halt bietende Brücke, zogen sich, schwer durchnäßt, auf den festen Boden, schüttelten sich prustend, ließen Kahn und Ruder treiben, mochte der Eigentümer nach ihnen fischen, und rannten, unaufhörlich lachend, über einsame, wohlbekannte Wege nach der Stadt zurück bis vor Tonis Haus, wo dieser mit einem jauchzenden Gruß verschwand, während Dieter, bis auf die Haut naß, vor Kälte klappernd, aber zugleich bis ins innerste Herz heiß und vergnügt, den langen Weg zur Aula rannte und heimlich, um dem Vater nicht etwa zu begegnen, seine Bibliothek gewann.

Er hatte immer dies eine Wort des Toni im Ohr: »Jetzt bleibst du bei mir,« und daß zwischen Tod und Leben der wiedergewonnene, nie verlorene Freund an nichts, als an ihn gedacht und mit ihm gemeinsam das Sterben selbst gewünscht. Der Toni wußte wohl nicht, wie er sich verraten, denn bei klarer Besinnung und im gemeinen Leben hätte er sich eher die Zunge abgebissen, als ausgesprochen daß er den Dieter verlange und halten wolle, um mit ihm zu leben und zu sterben.

Als sie das nächste Mal zusammenkamen und lachend das Abenteuer sich vergegenwärtigten, prüfte Dieter leise und voll Vorsicht, ob und was Toni von seinem sogenannten letzten Augenblick etwa in Erinnerung behalten hatte. Der ahnte nichts von seinem Abschiedsruf, sondern versicherte nur einmal übers andere, er habe bestimmt geglaubt, sie müßten beide ersaufen. Und gleich darauf hätte er Dieters Gesicht grinsen gesehen, wie noch nie. Dieter aber wußte um das scheu und schamhaft wie die unsterbliche Seele entflohene Wort: »Jetzt bleibst du bei mir,« und wahrte es. Das blühte in ihm fort und fort, solange sein Kamerad neben ihm wandelte und um so strahlender, als der wirkliche Tod den Toni von seiner Seite weggenommen.


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