Otto Stoessl
Morgenrot
Otto Stoessl

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XIII.

Zur Feier seiner Genesung und des Wiedersehens mit Toni beschloß Dieter, sie seien nun beide erwachsen genug und schuldeten es ihrem Stande, auch ein Kaffeehaus als Stammgäste zu besuchen. Freilich mußte es mit Bedacht gewählt werden, denn Toni durfte sich als Gymnasiast in öffentlichen Lokalen nicht ohne Begleitung der Eltern »respektive Vormünder« sehen lassen, wie es in der Schulordnung hieß, und Dieter konnte sich doch nicht eigentlich als Anstandsperson und Hüter ausgeben. Ferner durfte es auch kein kostspieliges Lokal mit Sammetbänken, elektrischer Beleuchtung und befrackten Kellnern sein, denn derlei Einrichtungen pflegen die dargebotenen Erfrischungen zu verteuern, ohne sie zu verbessern. So verfielen sie auf ein höchst bescheidenes »Tschecherl«, welches ihnen bei ihrem täglichen Weg von der Landstraße in den Prater mit der Fenstertafel winkte: »Kaffee acht Kreuzer.« Hier einzutreten, entschlossen sie sich, und fanden, was sie brauchten. Ein schmales Zimmer diente zugleich als Küche, indem hinter einem Schanktisch auf einem eisernen Herd von der alten Kaffeewirtin die Getränke bereitet und gemischt wurden, während vor dem Schanktisch, der sogenannten »Pudel« ein Billard den Raum verstellte und nur zwei schmale Tischchen für die Zuschauer übrig ließ, an denen sich die Spieler bedächtig vorbeidrücken mußten, um bei ihren weitausholenden Stößen niemand zu verletzen. Neben dem Billard engte überdies noch ein hoher Ofen den Platz ein. Ein einziger großer Tisch stand am Fenster, so daß die beiden Studenten von da das ganze »Kaffeehaus« wie die Straße überschauen konnten.

Bei ihrem Besuche fanden sie das Billard mit einem Brett bedeckt und zu einem Tisch umgewandelt, an welchem ein »Finanzer« in Uniform mit dem Wirte, namens Faltisek und einem unbekannten Zivilisten Karten spielte. Im Hintergrunde lehnte ein recht zerlumptes altes Männlein am Ofen, als wollte er sich jetzt im Frühjahr den Rücken wärmen und beobachtete das Spiel, gab von Zeit zu Zeit mit hoher freundlich singender Stimme Glossen, Urteile, Ratschläge, wie es besser zu machen sei, ohne daß man ihn anhörte, oder auch nur einer Antwort würdigte. Dieter und Toni wurden von dem Inhaber des Lokals mit der ihrem Stande gebührenden Hochachtung begrüßt, bestellten je einen Slivowitz, welcher sich durch seine Billigkeit empfahl, das Gläschen kostete sechs Kreuzer, und widmeten sich der Lektüre der vorhandenen Blätter, der Beobachtung der Anwesenden und dem Genuß ihres Daseins im Kaffeehause. Der »Finanzer« wie der Zivilist rauchten sogenannte »kurze Zigarren«, das billigste und gottverlassenste Kraut der kaiserlich königlichen Tabakregie und schmissen die Stummel auf den Boden, der diesen Schmutz zum übrigen versammelte. So oft ein solcher Rest abfiel, sah Dieter den alten Zuschauer vorsichtig sich dem Platze nähern und den sogenannten »Tschik« aufheben, dabei vergewisserte er sich ängstlich, ob ihn niemand beobachtete, weshalb Dieter jedesmal rücksichtsvoll wegschaute. Dann steckte der Mann seine Beute rasch zu sich und kehrte zum Ofen zurück. Nach dieser seiner sinnfälligsten Eigenschaft nannten ihn die beiden neuen Gäste »Monsieur Tschik«.

In dem Kaffeehause verbrachten sie nun ihre schönste freie Zeit, und das rauchige, schmutzige Zimmer dünkte sie ein besserer Aufenthalt, als der ganze Prater. Hier vernahmen sie zum ersten Male auch die sogenannte öffentliche Meinung und das Gesalbader der Politik aus zwei wichtigen Quellen. Das antisemitische Hauptorgan war gerade um diese Zeit gegründet worden und betrieb die öffentliche Hinschlachtung des Judentums als gewinnbringende Schauunternehmung mit einem allerdings eintönigen Gebrüll. Weil sich die Errichtung von Scheiterhaufen für das auserwählte Volk leider nicht so geschwind bewirken ließ, welches auch zum Selbstmord um keinen Preis zu bewegen war, und das Uebel seines Daseins nach Menschenart sogar vermehrte, hatte das Blatt täglich neuen Stoff und lebte von seinem Lebenszweck. So verzinste sich das böse jüdische Großkapital auch für seine Feinde. Es begannen die Zeiten, wo Gut und Böse, Sein und Nichtsein, Regen oder Schönwetter im Lande ausschließlich und hinreichend mit Jud' oder Nichtjud' begründet wurden, das schrie man in Wählerversammlungen, schimpfte im Parlamente, zeterte auf allen Gassen, predigte es von den Kanzeln und die politischen Gewerbsleute fanden ein neues einträgliches und bekömmliches Geschäft, der sogenannte »Liberalismus«, vertreten durch ein paar behäbige Fabrikanten, reiche Industrieritter, und durch bequeme Advokaten, welche auf den einstigen Freiheitslorbeern von anno achtundvierzig ausruhten, verkroch sich allgemach, indem er der Tapferkeit bess'res Teil, die Vorsicht wählte, und wie er sagte »angewidert vom Bierbankton«, die Weite platonischer Verachtung und stillen vorteilhaften Bank- und Börsengewinnes aufsuchte. Binnen wenigen Jahren kamen die schreienden Bezirksgrößen zu Macht, taten sich als antisemitische Gründung auf, bildeten eine Reichspartei, wurden hoffähig, nahmen die Kurulischen Stühle ein, stimmten ihren Judenschlachtruf mit staatsmännischer Mäßigung an, so daß er auch feineren Ohren willkommen klang, steckten die öffentlichen Besoldungen verschiedener Aemter ebenso beflissen ein, wie sie es den einstigen »Liberalen« vorgeworfen und lenkten den Staat ebenso gut und ebenso schlecht wie er bisher bedient worden war. Das heißt, der Karren blieb nach wie vor stecken, und sie riefen hüh und hott und taten, als schöben sie ihn mit ihren höchst eigenen Schultern, was allemal hinreichende Bewegung schien. Die verhaßten Juden lernten sich auch in diese Manier ebenso zu schicken, wie ihre Feinde sich mit ihnen zu vertragen, denn beide bedurften einander, wie jedes Spiel seines Widerparts. Mit den großen Juden schloß man in aller Stille die schönsten Geschäfte ab, während man die kleinen anbellte, es ist nicht reinlicher geworden, und je größer die törichte Maschine des öffentlichen Lebens sich auftürmt, desto mehr Unrat fällt aus ihrem Getriebe, und die sogenannte Korruption spielt wieder die Rolle des Düngers, der allgemeine Schaden nährt die Schädiger und die Hände waschen einander im schmutzigen Wasser. Das ist der Lauf der Welt. Damals aber herrschte der hellste Jubel über die entdeckte Grundursache des gemeinen Uebels. Und weil zu dieser Zeit auch das Zweirad aufkam, dessen Sportwildlinge viel Unheil anrichteten, pflegte Dieter das ganze Elend der Welt in dem Spruch zusammenzufassen: die Juden und die Radfahrer sind an allem schuld.

Das zweite politische Organ aber war die »Arbeiterzeitung« und setzte einen roten Strich auf jeden schwarzen. Wenn die Kleinbürger den Juden anzeterten, tat sie es den Pfaffen, und während jene das mosaische Kapital schwarz machten, setzte diese einen roten Hahn auf alle beneideten Machtgüter der Welt.

Sollte schon das letzte Mordio angehen, so mochte es sich über die ganze verachtete Gesellschaft erstrecken und keinen Stein auf dem andern lassen.

Dieter und Toni waren zu jung, also nicht töricht genug, sich jenem Denkfehler der Verallgemeinerung zu überlassen, welcher zum Betrieb einer Politik und Partei notwendig gehört. Auch interessierten sie sich für das Warum weniger, als für das was und ließen sich deshalb die schwarzen, wie die roten Theorieen gleicherweise behagen, denn das Pathos, die großen Gebärden, die schwungvollen Ausrufe genügten vollkommen für ihre Unterhaltung, indem sie sie spaßig nachahmten und ins Lächerliche zogen. Der Bau der Welt und der gesellschaftlichen Ordnung, nach inneren, natürlichen Notwendigkeiten errichtet, überlebt seine zerstörenden Mächte, ja bedient sich ihrer, um nur allmähliche Veränderungen mit Ruhe zu bewirken, während die vielen Bausteine glauben, sie machten, was ein Meister für Jahrhunderte aus ihnen herstellt. Was weiß der Ziegelstein von der Säule, die er trägt, und was die Säule vom Gebälk, und selbst das überschauende Dach sieht wieder den Himmel über seinem Haupte, nicht die Quadern unter der Erde, welchen es Luft und Lust schuldet. Darum können freilich die Ziegelsteine, Säulen, Gesims und Dach das Philosophieren nicht lassen und treiben Politik auf eigene Faust, oder wie sie es eben verstehen, jedes um seiner selbst willen und mit seiner Anschauung von den andern allen. Nur die großen Baumeister der Geschichte wissen, wohin jedes Ding gehört und machen die verwirrte Ungleichheit aller einzelnen zur schönen Gerechtigkeit der Natur. Aber kein Ziegelstein hat jemals die Würde der Säule begriffen. Nur die Jugend ist glücklich genug, in diesem Bau des Lebens treppauf und -nieder zu wandeln und sich alle Kammern zu besehen, wie in einem märchenhaften Schloß. Noch liegt die Zeit fern, wo sie gezwungen wird, selbst irgendwie sich tragend und lastend zu ebener Erde oder im ersten Stock, als Quader oder Säule, Stütze oder Zierat unbeweglich einmauern zu lassen und dann als stummer Stein zu widerbellen: das hab' ich mir anders gedacht. So spazierten Dieter und Toni durch den Narrenturm der Politik ihres Vaterlandes und hatten ihren Spaß dabei.

Es dauerte nicht lange, da waren sie reif für die Arbeit und das Leben und sollten irgendwo eingestellt werden und bleiben.

Dieters Schulzeit näherte sich ihrem Ende. In der Akademie wurden vor den ernsten Schlußprüfungen allerhand pädagogische Nichtigkeiten gepflogen, von denen hier nicht weiter zu sprechen ist. Nur die sogenannten Redeübungen waren bemerkenswert, in welchen der deutsche Unterricht gipfelte. Sie bezweckten nämlich nach dem alten humanistischen Muster, die Jünglinge zu gewissen rhetorischen Leistungen zu befähigen, da ein angehender Kaufmann einer gewissen rednerischen Gewandtheit bedarf, um seine Geschäfte, die gebotene Ueberlistung des geschätzten Kommittenten, eine anständige Bevorteilung oder Beschwatzung mit Ehren durchzuführen. Kommt es doch im Leben so sehr darauf an, ob man den lieben Nächsten in die wohlfeile Wolle einschmeichelnder Beredsamkeit einwickelt oder vielmehr von ihm sich darein wickeln läßt. Dieters politisches Studium der lauten Parteiorgane im Café Faltisek befähigte ihn zu einer Leistung, die ihm einen denkwürdigen Abgang sicherte. Er hatte zum Gegenstand seiner Redeübung das interessante Volk von China gewählt und ließ sich zum Schlusse über das dortige Unterrichtswesen vernehmen. In der Akademie genossen nämlich, wie es der Absicht der mächtigen Gründer entsprach, die Angehörigen der reichen Handelshäuser und patrizischen Firmen das deutliche Wohlwollen und die geneigte Bevorzugung aller Lehrer.

Dieter brachte seine treffende Beobachtung dieser aristokratischen Sitte des kaufmännischen Schulstaates in folgende, zugespitzte Fassung: »Auch in China sind die Professoren der Meinung, daß die Söhne der hohen Würdenträger stets auch die besten Schüler sind«.

Der heiterste Beifall belohnte seine zarte Anspielung und der Professor selbst schmunzelte vergnügt.

Dieter erwarb ein vortreffliches Abgangszeugnis als höchst befähigter Jünger des Handels. Freilich erschien das Ziel dieses ganzen Studiums: die Reise in ferne Länder arg in Frage gestellt, denn der Gönner, der ihn nach Japan nehmen sollte, war leider gerade in diesem Jahre gestorben. So stand dem Jüngling eine ernste Suche nach einem passenden Posten bevor, aber jetzt wollte er sich nicht weiter darum kümmern. Sein Vater würde schon zur Zeit das Rechte besorgen und das Schicksal ihn schon früh genug wohin stellen. Er schwenkte seinen Hut als freier Mann und begrüßte den steinernen Kolumbus und Adam Smith mit einem stillen: »Ihr könnt mich gern haben«. Bevor er nach Hause ging, um dem Vater seinen Erfolg zu melden, traf er den Toni, der am selbigen Tage mit Schmerzen das Zeugnis über die siebente Klasse bekommen hatte. Der Arme ging ihm mit gesenktem Kopf entgegen: »Durchgefallen«. Fleißig, aber einsam, durch das häusliche Ungemach bedrückt, von keinem nahen Freund beschützt, hatte er sich der griechischen Sprache nicht länger erwehren können und fiel nach heldenhaften Kämpfen unter den Streichen der Aoriste. Der Homer brach ihm vollends das Genick, und so lag er im Felde der vielen gymnasialen Leichen, wie so mancher arme Held vor und nach ihm. Wenn er es recht bedachte, taugte er doch zu nichts anderem, als zum Studium. Dieter schätzte Tonis scharfsinnige Begabung und eindringliche gelehrte Fähigkeit, der war besser als er und mochte getrost als ernsterer geistiger Mensch vor aller Welt Ehre einlegen, während er sich doch nur als schlauer Taugenichts gelten ließ. Der Schwerere aber fiel durch, der Leichtere schwamm munter auf der Oberfläche. Toni hatte Tränen in den Augen und wagte sich nicht nach Hause. Was würde der Vater sagen, nie konnte ihm der das Fehlschlagen aller Pläne, das ganze verlorene Geld und Jahr verzeihen, noch weniger würde er ihm erlauben, das Schulglück im Gymnasium weiter zu versuchen, auch würde das Griechische bei der Wiederholung sicherlich nicht besser, ihm schlief der Homer gewiß nicht. Lange gingen sie, der eine seine Freude, der andere seinen Kummer zugleich dämpfend und umso tiefer hegend, auf der Landstraße auf und nieder. Dieter tröstete den Toni, aber er wußte gar wohl, daß gegen den Jammer kein Kraut gewachsen ist, als die Zeit. Und gerade die Zeit fürchtete der Toni wie den bösen Feind, ein Jahr des Lebens sollte er wiederholen, das hieß, ein Jahr länger in Qual und Knechtschaft ertragen, abhängig von Not und Verdruß im Hause, ein Opfer jenes fürchterlichsten Gegners der Armen: der Langeweile, die über ihn die mächtigen Flügel schlug und seine ganze Jugend schwarz verhüllte, daß er das grüne Leben ringsum nur durch einen dunklen Schleier doppelt unnahbar, doppelt ersehnt wahrnahm. Was sollte mit ihm geschehen? »Es wird nicht den Kopf kosten«, wiederholte Dieter. »Ach kostete es ihn doch. Am liebsten möcht' ich mich ohnehin aufhängen, bin zu nichts gut auf der Welt. Du kannst hinaus, ich sitz' im Käfig.« Endlich begrüßten sie einander stumm und mit traurigem Blick, salutierten und gingen jeder seines Weges, Toni langsam und gebückt, Dieter aufrecht und rasch, der eine in das schmutzige Nest des Elends, der andere in den hohen, alten Palast, ein Sklave der eine, wie ein Fürstenkind der andere. »Wir hätten beisammen bleiben sollen,« dachten beide.

Dieters Vater las zum ersten Male das Zeugnis seines Jungen vom Anfang bis zum letzten Wort, nickte befriedigt und zeigte eine gewisse Feierlichkeit, indem er seinem freigesprochenen Sohne die Hand entgegenstreckte und wie für eine Wohltat dankte, daß der Bursch nun nach vielen Jahren der Opfer und Mühen als erwachsener Mensch zu seinem eigenen Leben auf eigene Kosten und Gefahr für befähigt erklärt worden sei.

»Nun kannst du dir eine besondere Reise wählen, mir ist eine Freikarte für dich versprochen auf einem Donaudampfer. Willst du nach Sulina hinunter, oder nach Passau hinauf? Überleg dir's und sage morgen, wohin du magst.«

Die Fahrt nach Sulina war viel länger, als die nach Passau und lockte mit den Reizen der weiten, ebenen, unübersehbaren Landflächen, der Weg nach dem Osten verhieß die große geheimnisvolle Unendlichkeit der Erde. Budapest ist die letzte Stadt, welche sich im Wasser des gelben Stromes spiegelt, dann beginnt der Sand der Wüste, in welcher die Menschen leben, gleichviel, wer sie beherrscht und was für Namen sie tragen. Wo die Berge ragen, da gibt es Kampf, die Berge streiten mit, wer sie überwinden soll und wen sie begrenzen, sagt der Glaube diesseits ja, so murrt der jenseitige nein, und Adlerwünsche fliegen über die Alpen, die Gewissen ringen um Sprache, Sitten, um das waldige Land oder um das blauüberleuchtete des Südens, Päpste und Kaiser, Deutschland und Italien eifern, eins des andern ersehnter Blutfeind, im Osten aber wächst kein Fels, und keine Grenze scheidet Sand von Sand, einerlei, ob ein Beg im Turban herrscht, oder ein Obergespan mit verschnürtem Rock, die Sieger lösen einander mit höfischen Verbeugungen ab und die Völker, Körner Sandes im Sande, küssen die Stiefelabsätze, von denen sie getreten werden. Wer die Unendlichkeit der Welt sehen will, der muß ans Meer und in die Wüste gehen, die Berge wachsen ein Stück in die Höhe, scheiden ein schmales Tal vom nächsten und drängen sich im Engsten auf einen Haufen, die offenen Ebenen aber streichen in die weiteste Ewigkeit, Zeit und Raum wachsen auf dem Sande als eine verschwisterte, von Erd und Himmel umfaßte Einheit, in welche der kleine Mensch versinkt. Alles Tun zerrinnt wie ein Sandkorn und aller Traum erneut sich als das einzige Tun in der gewaltigen Unmeßbarkeit der Fläche, wie das Auftauchen schöner Luftgebilde. Möven fliegen mit dem Schiffe, wenn aber die Wüste beginnt, werden Geier kreisen, buntscheckige Bauern aus Rumänien werden den Dampfer vom Gelände her anstarren und ein hartes Geschöpf aus Eisen wird durch die schwere Welle pflügen, von Ebenen rechts und links in die Flanke gefaßt, von einer drohenden Unendlichkeit gepreßt, doch unbegreiflich, und Dieter wird am Kiel stehen, als Herr der Aussicht, die für ihn sich hinstreckt, wie ein ewiger Feind, der Osten liegt zu den Füßen des stählernen Europäers, der gelbe Dämon Asien sperrt seinen Wüstenrachen auf, und ein kleines Fahrzeug zieht ihm furchtlos durch die Zähne.

Aber gerade, weil er sich den Osten so schön erträumte, entschied er sich für den Westen, und auch weil Toni ein erstaunliches Glück im Unglück meldete, sein Vater sei so voll Zorn gegen ihn, daß er den durchgefallenen Studenten nicht mehr sehen wollte, er müsse ihm aus den Augen gehen. So habe man in der dümmsten Wut das Allerbeste beschlossen, ihn für den Sommer ins Innviertel, in die Heimat des Vaters zu schicken, dort müsse er sich mit dreißig Kreuzern für den Tag verköstigen und Quartier schaffen, mehr brauche er auch hier nicht. Toni hatte das Schulunglück über dieser Aussicht auf die erste Ferienreise bereits ganz vergessen und schwärmte von Bauernherrlichkeit, Schnadahüpfln und Landschaftsseligkeiten, er stelzte schon wie ein Sieger, warf sein Hütel in die Luft und versuchte einen Juchzer.

Dieter wollte deshalb nach Passau fahren und von dort einen Abstecher ins Innviertel machen, um Tonis Sommerglück zu besichtigen und für ein paar Tage etwa zu teilen.

Kurz nach Tonis Abfahrt bestieg Dieter den weißen Dampfer, der, gemessen das schäumende Wasser teilend, stromaufwärts fuhr. Im hügeligen Lande blickten freundliche Dörfer und kleine helle Weinstädtchen den Reisenden entgegen. Man zog an einem hohen Schlosse vorüber, das von einem waldigen Berge herab mit gelber Front und schimmernden Fenstern wie ein stolzer Herr über das lachende Land schaute. Da wußte Dieter: das ist das Eichendorffsche Schloß aus dem »Taugenichts«, und hätte er jetzt aussteigen und durch das schöne Portal eingehen können, so hätte er sicherlich den griesgrämigen Türhüter mit Bandelier und Stab und Zweispitz, die lustigen Jungfräulein und gar den Taugenichts selber angetroffen, sein leibhaftiges Ebenbild und seinen nichtsnutzigen Ahnherrn.

Das Wasser des Stromes aber schäumte unter dem Rade des Dampfers weiter, der sich fortarbeitete, so daß das Schloß bald hinter den benachbarten Bergketten versank. Zwei zierliche junge Damen standen auf dem Verdeck und fanden bei der Menge der Fahrgäste gar keinen Raum zum Sitzen, da beeilte sich Dieter, aus der Kajüte, wo er die bekannten Klappstühlchen nutzlos aufgeschichtet wußte – er hatte das Schiff gleich zu Beginn der Fahrt von unten bis oben untersucht –, drei solche hinaufzuholen. Er bot deren zwei ritterlich den Fräulein, welche gar freundlich »danke« sagten. Wie man aber diese angenehme Bekanntschaft weiter ausspinnen und unterhaltsam zu einem artigen Reiseabenteuer gestalten könne, wußte Dieter noch nicht. Er hielt es darum für angemessen, sich in einiger Entfernung von den Damen gleichfalls niederzulassen, sie freundlich zu beobachten und das Weitere von ihnen zu gewärtigen, indem sie sicherlich einen zarten Wink geben würden, wenn er ihnen als Kavalier zu Gesicht stünde. Nun ist freilich von den Jungfern nicht zu verlangen, daß sie den Ritter herbeirufen, der von rechtswegen aus eigenem eine Bekanntschaft anzuknüpfen hat. So konnten sie bei der nächsten Nachbarschaft nicht zueinander kommen. Und wie Dieter meinte, hätten sie es doch leicht gehabt, ihn heranzuziehen, denn sie ließen sich aus dem Schiffswirtshause Schinken und schönes Obst bringen und verzehrten es mit allem Behagen, ohne ihm auch nur ein Stückchen anzubieten. Vielmehr lachten sie und speisten unter Scherzen, deren jeden er als Spott auf sich bezog, weil er daran nicht teilnehmen durfte. So bestärkte er sich in seinem alten Ingrimm gegen das falsche Weibergeschlecht, bekam beim tatlosen Zuschauen selber Appetit, stieg entrüstet in die Kajüte hinab und bestellte ein ordentliches Essen, welches er trotzig genoß. Dann ging er den Damen für eine Weile aus dem Wege, beobachtete die andern Passagiere und Schiffsmerkwürdigkeiten, und als er schließlich die beiden hübschen Mädchen doch wieder finden wollte, waren sie verschwunden und wohl irgendwo in der Wachau gelandet. Einsam langte er in Passau an, besichtigte die Stadt, die an drei zusammenfließenden Strömen altertümlich und mit ruhiger Würde sich hinstreckt, übernachtete in einem Bauerngasthofe und machte sich Tags darauf nach dem Innviertel auf den Weg. Er wanderte in der Sommerhitze durch gelbe Felder, über Waldstraßen, bergauf und nieder, bis er zu einem Dorfe kam, das noch ungefähr vier Stunden von Tonis Ort entfernt war. Vor einer alten Kapelle, die an einem vielbewachsenen, von Brennesseln, Hollunder und blühendem Unkraut ausgefüllten Graben lag, machte er Halt, denn drei verschiedene Sträßlein zweigten nach drei Richtungen ab, und er überlegte, welche er einzuschlagen hatte. Schon entschied er sich für eine und begann dahin zu traben, als aus dem Busch ein Ruf kam: »Vor einer heiligen Kapelle könnt' einer schon gelobt sei Jesus Christus sagen.« Und damit sprang der Toni hervor und fiel ihm um den Hals. Nun wanderten sie miteinander in sein Dorf. Da lebte Toni in tausend Freuden. Im Wirtshause bekam er eine dünne Suppe, Geselchtes mit Kraut und einen sauern Wein jeden Tag und mußte auf der Holzbank schlafen, aber noch nie war's ihm im Leben so herrlich ergangen, mit den Mähern zog er ins Feld und arbeitete, band Gras und Stroh, fuhr abends auf den hohen Heuwagen zu Tal, sein Geigenspiel stand in Ansehen, und er mußte sich Sonntags in der Kirche neben der Orgel, abends in allen Wirtschaften der Umgegend zum Tanz hören lassen, wo es eine Hochzeit, Kindtaufe oder Begräbnis gab, erschien er als gefeierter städtischer Gast und aß und trank sich voll nach Herzenslust. Zum Beweis schleppte er Dietern sogleich zum Leichenschmause eines reichen Bauern. In der Stube, die von hungrigen Leidtragenden wimmelte, nahmen sie, ungebeten, doch willkommen an dem besetzten Tische Platz und wurden bedient, wie alle andern. Ja, als Toni noch Hunger, oder Lust hatte, dem Freund die Gastfreundschaft der Innviertler zu beweisen, holte er sich auf diesen beiden Tellern einen vollen Nachtrag von Eßherrlichkeiten. Und dann trat man, sehr gesättigt und dadurch schwermütig gestimmt, wie es die Sitte verlangt, vor die Witwe, verbeugte sich schweigend und brachte sein Beileid zugleich als Dank vor, wischte darauf zur Tür hinaus und in einiger Entfernung begann Toni zu singen: »So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage«, warf sich ins Gras, lachte, Dieter warf sich neben ihn und sie schliefen wohl eine Stunde in der Sonne.

Eine Nacht verlebte Dieter bei seinem Freunde, dann aber erklärte er, aufbrechen und heimkehren zu müssen. Warum er so unbeugsam darauf bestand, eben nach dem Wiedersehen auch schon davonzugehen, wußte er selbst nicht. Sein Vater hätte ihn gerade so gern hier auf Sommerfrische einen Monat oder zwei leben lassen, wie irgendwo anders, und er hätte den Toni einmal so recht ungestört neben sich haben dürfen, wie es für die Freundschaft paßt. Aber vielleicht eben deshalb trug er Scheu, ein Zusammensein zu versuchen. Ihre Freundschaft war nicht für alle Tage, sondern für das Abenteuer, für winterliche Zeiten und Schicksale, sein Sommer aber gehörte der Einsamkeit und seinen eigenen ungeteilten Erlebnissen. Ein dunkles Gefühl trieb ihn fort, sich zu wahren und sein eigenes Glück, weiß Gott wo in der Welt zu suchen, wie Toni das seine gewinnen mußte. Dieselbe Neigung, die einen Menschen zum andern führt, legt einem auch eine dunkle Ahnung von notwendigem Leid und gerechter Trennung auf, mit der Pflicht, sich selbst vor dem stärksten Gefühl zu schützen, das durch allzu heftige Gemeinschaft um seine Würde oder Scham käme. So wagte auch Toni gar nicht, Dieters Entschluß zu tadeln. Wie immer nahm er den Willen des Genossen als dessen Recht an, obgleich ihm der Abschied naheging. Er begleitete den Dieter bis nach Passau. Acht Stunden lang wanderten sie, schweigsam und bekümmert, über gelbe Felder, über Waldstraßen, bergauf und -nieder, an der Kapelle vorbei, an dem Brennesselgraben, sie sprachen kaum ein Wort, eine tiefe Beklommenheit lag ihnen auf der Brust, als winkte hinter jedem von ihnen ein unbekanntes Schicksal, zu welchem sie allein und ohne Freund rückkehren müßten, wenn sie einmal beim Schiffe Abschied genommen hätten. Dieser dumpfe Schmerz verhüllte ihnen die ganze weiße Sommerlust ringsum, in welcher sie doch als befreite und von rechtswegen muntere Gesellen wandelten, sie spürten in den Augen heiß aufkommende Tränen und ihre Kehlen waren trocken. Warum sich finden, um sich zu verlassen, warum zueinander gehören und sich scheiden? Und doch paßte beides zusammen und zu ihnen, nichts konnten sie tun, was ihnen nicht heimlich, aber wie notwendig gesagt war von einem Schicksal, das unsichtbar jeden Schritt bestimmte und sich vielleicht in Tat und Ausklang erfüllte, wenn das Schiff davonzudampfen begann, das den Dieter nach der alten Stadt zu tragen bestimmt war.

Unter lautem Weinen fiel Toni dem Dieter um den Hals, als sie auf der Landungsbrücke standen und Dieter weinte gleicherweise. Jetzt hätte Toni sagen sollen: »Bleib hier,« und wer weiß, der andere wäre geblieben, hätte den Hut geschwenkt und wäre lachend mit ihm auf demselbigen Wege umgekehrt.

Aber Toni sagte nichts, als sei der Abschied unabwendbar. So wurde er's, und lange winkte Dieters Taschentuch vom Schiffe dem Taschentuche Tonis am Ufer Grüße zu. Ohne sich viel um etwaige Damen zu kümmern, ließ Dieter bei der rascheren Talfahrt das Land an sich vorüberziehen und fand sich schnell genug am Praterkai und wieder in der Aula vor seinem Vater, der ihn nicht ohne Erstaunen nach so kurzem Fernbleiben willkommen hieß.

Dieter gedachte keineswegs den schönsten Sommer seiner so kurz abgemessenen Freiheit in der heißen Stadt totzuschlagen, er wollte vielmehr wie sonst irgendwohin auf Ferien gehen und betrachtete die kurze Reise nur als Extravergnügen, aber es war seine Sache nicht, dem Vater derlei nahezulegen, oder rundweg zu fragen: »Wohin jetzt mit mir?« Das mußte der Alte von selbst sagen und bestimmen, wie es sich gehört. Darum wanderte Dieter vorläufig in den Prater, um selber zu spüren, wie der Toni sonst den Sommer hier verbrachte. Mit unsagbarer Langweile ließ er sich von den Blechmusiken in den drei Kaffeehäusern ihre öden Stücke vorrasseln, trabte unter den armseligen Abendmüßiggängern umher und schlich bekümmert nach Hause, nicht ohne stets dem Vater einen traurigen Blick zuzuwerfen, aus welchem dieser etwa die Frage lesen sollte: »Wie lange noch?«

Drei Tage schien der Vater nichts zu verstehen; am vierten endlich fragte er: »Nun Buba, was wird's denn eigentlich mit dir?«

»Ich denke, ich soll aufs Land gehen.«

»Freilich, freilich und wohin denn, möchtest du vielleicht wieder einmal zu den Nemec nach Böhmen?«

»Warum nicht?« So wurde es beschlossen und erleichtert packte Dieter seine Siebensachen, er sollte ins schöne Schloß des Freiherrn, den Bubi wiederfinden und die Baronesse Tinka, welche jetzt wohl schon eine erwachsene, schöne Dame geworden war und die freundliche Josefine Wacha. Bei allen diesen Aussichten wurde es ihm warm ums Herz.

So fuhr er hin.

In aller Morgenfrühe kam er in der Station an, von welcher der Postwagen eine gute Weile nach dem Schlosse zu fahren hatte. Der ging aber erst in zwei Stunden. Daher ließ sich Dieter im Gasthause nieder, trank einen Kaffee und machte sich auf seine Wartezeit gefaßt. Die Wirtsleute mußten als Bauern zu Felde gehen, daher zahlte er seine Zeche und sie ließen ihn dann allein sitzen. In der dumpfen Stube gefiel es ihm nicht, er trat darum vors Haus, legte sein Bündel auf die Bank und spähte gerade nach allen Richtungen aus, von wo ihm der Abenteuerwind etwas Gutes oder Böses zuwehen wollte, als auch schon eine vornehme Reisekarosse, mit Koffern beladen, von einem strengen livrierten Kutscher gelenkt, in einer Staubwolke daherkam und just vor ihm hielt; die Pferde scharrten mit den Hufen und schnaubten, der Kutscher sprang herab, öffnete den Wagenschlag und beugte sich hinein, um einen Befehl entgegenzunehmen. Dann trat er mit nachlässiger Hoheit auf Dieter, als auf einen landeskundigen Wanderburschen zu und fragte von obenher: »Die Frau Gräfin wünscht ein Frühstück.« Dieter zuckte die Achseln und sagte, die Wirtsleute seien aufs Feld gegangen, das Haus leer. Schon winkte aber die Herrin des Wagens selbst, so daß Dieter unwillkürlich an den Schlag eilte, bescheiden die Mütze zog und in der Hand behielt. Drin saß recht mißmutig eine uralte, runzelige Dame in starrem schwarzen Seidenkleide, weißhaarig und stolz und sprach ihn an: »Ich möchte einen Schinken haben!« Dieter zuckte wiederum die Achseln. Da glaubte sie, er verstünde nicht deutsch und fragte: »Versteht Ihr mich?«

»Gewiß, Ihro Durchlaucht,« antwortete Dieter, denn er wußte, wie man reisende Gräfinnen zu behandeln hat.

»Also dann bring' Er mir einen Schinken und ein Glas Wasser.«

Wiederum erklärte Dieter, die Leute seien auf dem Felde, also dürfte das Gewünschte nicht leicht zu beschaffen sein, zumal er nicht wisse, wo die Wirte eigentlich arbeiteten. Die Dame schien aber mit dem Eigensinn ihres Alters und Hungers seine Rede gar nicht zu beachten, sondern wiederholte strenger und gebieterischer, als gebe es keinen Widerstand, wenn sie etwas befehle. »Ich will einen Schinken und ein Glas Wasser.« Da mußte Dieter folgen, dachte: »Vielleicht finde ich selber in der Stube das Verlangte,« ging ins Wirtshaus zurück, kramte in allen Laden und entdeckte richtig einen großen Schinken, von welchem er so viel herunterschnitt, als ihm für die Durchlaucht angemessen dünkte, wickelte die Scheiben in ein Stück sauberes Papier, hinterlegte dreißig Kreuzer als gebührende Zahlung auf den Schanktisch, dann nahm er ein reines Bierglas aus dem Schrank und ging zum Brunnen im Hofe. Er pumpte Wasser und verkostete es selber. Es schien ihm passabel, wenngleich nicht sehr frisch. Darum hauchte er das gefüllte Glas von außen an, so daß es sich mit dem schönsten Beschlage überzog, als enthalte es den kältesten Trunk einer Felsenquelle. Mit einer tiefen Verbeugung überreichte er die beiden gewünschten Dinge der wartenden Gräfin, welche besonders das frische Wasser rühmte. Sie gab ihm mit leichtem Dank das Glas zurück, das er in die Schankstube zurückbrachte, dann trat er wieder zum Wagen, neugierig, was nun weiter erfolgen werde, nicht ohne sein Bündel aufzunehmen und sich als reisefertiger Wandersmann darzustellen.

Die Durchlaucht konnte nicht umhin, seine Rüstung zu bemerken und fragte, wohin er gehe. Dieter nannte sein Ziel, da antwortete sie: »Ich fahre in derselben Richtung, Sie können mitkommen, wenn sie wollen.« Nun dachte sie gewiß, er würde sich auf den Bock zum Kutscher begeben, wohin seinesgleichen gehört, aber Dieter legte, nicht ohne Hochmut mit Dünkel zu vergelten, sein Bündel auf den Sitzplatz neben den Lenker. Das Rückbrett war mit Koffern der Gräfin vollbeladen, so blieb ihr nichts anderes übrig, als ihm im Innensitz Platz zu machen. Mit einem vernehmlichen Seufzer rückte sie ein wenig zur Seite, so daß er sich recht schmal machen mußte, um neben ihr kauern zu können. Doch tat er's mit aller Vorsicht und saß ganz am Rande der gut gepolsterten Lederbank, wie ein zum Abflug bereiter Vogel auf der Stange. Der Kutscher schwang die Peitsche, die Rappen griffen aus, der Wagen fuhr.

Eine gute Weile schwieg die Gräfin und schien in fromme Betrachtungen versunken, endlich fragte sie so recht von oben her, wer Dieter sei und was er hier im Lande suche. Darauf stellte sich der Jüngling als reisender Student vor, der seine Vakanz zu Belehrung und Unterhaltung bei Verwandten in dieser Gegend verbringen wolle.

Mehr aus Gewohnheit dem niederen Volke gegenüber, als vielleicht aus innerstem Bedürfnis fragte die Gräfin, ob Dieter auch recht fleißig zum lieben Gott bete.

Das war dem Schalk eine passende Gelegenheit, der vornehmen Frömmlerin eins anzuhängen: »Nein, Ihro Durchlaucht,« antwortete er mit dem unschuldigsten Augenaufschlage.

»Warum denn nicht, junger Mensch, so klein und schon so gottlos?« gab sie zurück.

»Weil ich vom lieben Gott nichts erlangen kann, als was ich schon habe. Fehlt mir was, so ist's leider zum Bitten meist zu spät und vorher ist's ja überflüssig und gilt gar als Versuchung.«

»O über diese ruchlose Weltstadt und die unsittliche Zeit, und daß das Volk noch recht hat mit solchen Gedanken,« murmelte die Alte mehr für sich, als für den frechen Gesellen.

Dann schwieg sie wieder, um nach einer Weile zu fragen, wohin und zu wem Dieter eigentlich fahre. Der nannte nun nicht etwa die Frau Nemec, seine Tante, sondern kurzweg das Schloß und den Baron. Darauf belebte sich das Antlitz der Gräfin und sie wollte näheres herausbringen, wie ihr Reisegefährte zu dem Schloßherrn eigentlich stehe. »Wir sind verwandt,« log Dieter dreist.

»Ach, Sie sind also ein Angehöriger des lieben Barons, davon hatte ich nicht die mindeste Ahnung, und Sie haben mich so freundlich mit Speise und Trank versehen, da schulde ich Ihnen ja noch Geld und tausend Dank, darf ich meine Zeche begleichen, mein Bester?« Damit händigte sie ihm einen Gulden ein und fragte wiederholt, ob der auch seine Auslagen wirklich decke. Weltmännisch beteuerte Dieter, dies sei nicht der Rede wert, und steckte mit sichtlichem Widerstreben die Ueberzahlung zu sich.

Nun zog er, von dem Abenteuer erfreut, sein Notizbuch hervor, entnahm ihm ein reinliches, weißes Blatt und präsentierte es der Gräfin mit einer wohlgesetzten Ansprache, sie möge diese unvergeßliche Stunde auf dem dargereichten Papier huldvoll durch eine Zeile der Erinnerung zu verewigen geruhen, welche er seinen kostbarsten Schätzen für seine ganze fernere Lebenszeit einzuverleiben gedenke. Da er ihr auch einen wohlgespitzten Bleistift reichte, konnte die Durchlaucht nicht umhin, seinen Wunsch zu erfüllen. Lange hielt sie sinnend das Blatt auf dem Schoße, den Bleistift zwischen den schmalen Fingern der alten, bereits zittrigen Hände und blickte verlegen auf die Landstraße hinaus, dann auf den ehrfurchtsvoll wartenden Dieter, bis sie mit den üblichen, großen Zügen der adeligen Handschrift diese Zeile zustande brachte: Zur Erinnerung an die Wagenfahrt vom – hier folgte das Datum und der Durchlauchtigste Name – Maria Lobkowitz.

Dieter las mit Staunen, schätzte seinen Streich doppelt ein, der ihn mit der Trägerin des höchsten böhmischen Adelsnamens verbunden, ergriff ihre Rechte, führte sie ehrerbietig an den Mund und versicherte nochmals seinen untertänigsten Dank.

Da man von weitem schon das Schloß hinter seiner Allee glänzen sah, erbat er sich zugleich Urlaub, um nicht länger den Wagen aufzuhalten, der ja vorbeifahren müsse, während er in den Laubgang zu Fuß einzubiegen habe.

»Nicht doch, mein Bester,« antwortete die Durchlaucht, »ich darf Sie nicht hier draußen im Stiche lassen, was dächten sonst Ihre lieben Verwandten, der gute Baron und seine reizenden Kinder von mir, ich bringe Sie selbst hin, wenn ich auch leider mich nicht im Schlosse aufhalten kann, so gern ich es täte, aber abliefern will ich doch den erwarteten Gast.«

»Da hast du was Schönes angefangen,« entsetzte sich Dieter im stillen, dem es erging, wie dem Knaben vor der Lügenbrücke. Jetzt hieß es, sich mit Anstand und ohne den Schein eines Verdachtes aus der Affäre zu ziehen. Kurz gefaßt, flehte Dieter, er danke der Durchlaucht tausendmal für dero huldreiche Absicht, aber bitte, davon gütigst Abstand zu nehmen, denn es handle sich um eine Ueberraschung des Barons, der Gast sollte nämlich ungesehen sich ins Schloß stehlen, vor seinem Auftreten noch ein Kostüm umtun und sich erst zur Mahlzeit in einer bereitliegenden Verkleidung präsentieren. Deshalb müsse er untertänigst sich hier vor der Allee beurlauben zu dürfen bitten. Die Fürstin lachte zu dem drolligen Plan der Komödie, wünschte das beste Gelingen, trug Dietern recht herzliche Grüße an den Freiherrn und insbesondere an die reizende Baronesse Tinka auf, dankte nochmals für seine Ritterdienste, empfahl sich der freundlichen Erinnerung und winkte sogar mit ihrem seidenen Taschentüchlein dem Abspringenden nach, der sich durch die Allee davon machte, nicht ohne zu denken: »Jetzt hat es mir aber geraten, ohne Gebet zum lieben Herrgott aus der Not zu kommen.« Er rannte durch die Allee wie ein Verfolgter und bevor er das Schloß betrat, vergewisserte er sich noch ängstlich, ob es der Kutsche nicht am Ende beifiele, umzukehren und den Baron doch noch zu besuchen, um die großartige Komödie mitzugenießen, bei welcher er angeblich seine Rolle spielte. Aber die Kutsche federte gutmütig ins Land hinaus und sein Streich war mithin gnädig abgelaufen.

Eben als er ins Tor trat, klang ein helles Lachen und eine unbekannte weibliche Gestalt schlüpfte vor ihm hinein, er konnte nur gerade noch verdrießlich ihre Umrisse bemerken.

Nachdenklich begrüßte er die Tante und den Onkel Stallmeister und hielt sich diesen Tag still in seiner Gaststube, um etwaigen Folgen der gefährlichen Posse zu entgehen.

Die Tante und der Oheim Nemec waren in den wenigen Jahren seit seinem ersten Besuch recht gealtert, aber dabei nach den Lebensumständen wohlgediehen. Oder bemerkte Dieter vielleicht erst jetzt, daß die rundliche Frau sich gar so neumodisch trug und zu den nächstwohnenden Honoratioren, dem Schloßarzt oder der Oberköchin auch nur über den Hof nicht ohne ein auffallendes Besuchskleid und eine schwere goldene Kette wandelte, daß sie in der Unterhaltung ihre vornehmen Beziehungen zu Prager politischen Kreisen betonte, und was dergleichen Anzeichen eines hohen gesellschaftlichen Bewußtseins mehr waren. Die Familie Nemec oder vielmehr die ehrgeizige Frau spielte in der Tat unter dem Kleinbürgertum, welches auch im Königreiche Böhmen damals zu politischen Ehren kam und als Stütze der nationalen tschechischen Parteien verwertet wurde, eine beträchtliche Rolle. So wie die Damen der adeligen Gesellschaft oder der reichen Industrie hielt auch die Nemec einen Salon, wo sich die scharfzüngigen Abgeordneten, Künstler, Zeitungsschreiber, Agitatoren, Zwischenträger und Phrasendreher versammelten und es nicht verschmähten, die gute Kochkunst der Frau Stallmeisterin zu würdigen und durch ihre Anwesenheit zu belohnen. Ist doch der Einfluß gerade solcher Kleinbürgerinnen auf ihre Umgebung, auf bescheidene Lieferanten, Lebensmittelhändler, Marktleute, Fuhrknechte, Handwerker nicht zu unterschätzen, fangen sie doch durch Geschwätz und indem sie einen Verdienst zuwenden oder entziehen können, Stimmen und Parteimänner geschickter, als die stolzeren und reicheren Damen der großen Welt. Und dann kommen ja die Herren Abgeordneten selbst zumeist aus dieser aufstrebenden Schichte der unteren Gesellschaft, so daß sie sich bei den Nemec wohler fühlten, als bei den strengen Sitten hochadeliger Häuser, wo sie zwar politisch umworben und ausgenutzt, aber im Grunde doch als fadenscheinige Plebejer scheel angesehen wurden. Derlei merkt ein Politiker gar wohl, welcher mit Gefühlen besser, als mit Begriffen hantiert, läßt sie sich um der Sache und um seiner werten Person willen zwar um die Nase streichen, aber er stellt seine angeborene Demokratie nur vorläufig zurück, um sie bei guter Gelegenheit aus der Ecke hervorzuholen und dem steifleinenen Grandseigneur zur rechten Stunde wie einen Schild der Medusa entgegenzuhalten. Der Frau Nemec durfte man jedoch allzeit sicheres Vertrauen schenken.

Dieter machte mit seiner Tante bei der Frau Oberköchin einen Antrittsbesuch in deren Amtslokal, der blitzblanken, schönen Schloßküche.

Dieses Frauenzimmer, eine Wienerin und überdies als Köchin kraft ihres Berufes schon ganz international und tolerant, war eine merkwürdige Figur der freiherrlichen Wirtschaft, von bedeutendem Leibesumfang. Man durfte aus diesem mit gutem Essen gefüllten Fasse getrost auf die Wohlbeschaffenheit der Vorräte schließen, die sie hier täglich bereitete oder vielmehr verarbeiten ließ, indem sie nur Anordnungen traf und eine Schar ausführender Mägde befehligte. Sie hatte denn auch eine rechte Kommandostimme wie ein alter Feldwebel und einen ansehnlichen schwarzen Schnurrbart auf der Oberlippe, strenge, scharfblickende Augen, die nur weich, zärtlich und töricht, ja in Tränen schimmerten, wenn die Rede auf ihre Tochter kam.

Die Oberköchin war schon seit fünfundzwanzig Jahren beim Baron bedienstet und konnte leben, wie sie mochte, wenn sie nur ihre bewährte, gesunde und treue Kunst der Familie erhielt, deren Wohlergehen von ihren Leistungen abhing. Die reichen Leute wissen gar wohl, wie sehr sie ihren Köchen zu Dank verpflichtet sind, daher dürfen sich diese mehr erlauben, als alle andern dienstbaren Geister. So hatte sich denn die geschätzte Person in ihren jungen Jahren, als sie noch schlanker und etwa verlockender war, einem unerläßlichen Liebesverhältnis ergeben und dies im schönen Süden, welcher solche Leidenschaften durch die natürliche Wärme des blauen Himmels, durch die Anregung des Salzbades im Meer, durch romantische Einflüsse der Landschaft über Gebühr begünstigt. Obgleich sie damals an der Riviera für die freiherrliche Familie ebensogut zu kochen hatte, wie hier, nützte sie eben ihre freie Zeit und ihr heißes Herz dazu aus, eine Liebe zu nähren, die nicht ohne Folgen blieb. Da jedoch die freie Auffassung in sittlichen Fragen bei den sonst gegen die Nebenmenschen gern unduldsamen Leuten dort beginnt, wo die strenge Anwendung der Moral das Gedeihen der Herrschaft selbst schädigen könnte, sah man über den Fehltritt hinweg, ja man war es sogar recht zufrieden, daß die Oberköchin nicht weggeheiratet wurde und erlaubte ihr großmütig, das Kind bei sich zu behalten und aufzuziehen, hielt man sie doch in dieser doppelten Abhängigkeit von ihrem Sprößling und von der Duldung der freiherrlichen Familie um so sicherer bei ihrem Herde.

Auf dieses Kind übertrug sie alle Zärtlichkeit ihres Herzens, alle Fürsorge ihrer mütterlichen Natur und alle Narrheit, die sie vordem im Liebeshandel bewährt hatte, indem sie es verwöhnte, wie eine Prinzessin, jeden Kreuzer ihres Lohnes auf Kleidung, Schmuck und sonstige äffische Zärtlichkeit an diesen einzigen Schatz verschwendete, während sie selbst in Arbeit und unablässiger Mühe bei ihrem Amt alterte. Das Kind aber, von Natur zu bequemer Leiblichkeit neigend, wie die Mutter, lungerte in heiterem Nichtstun, naschte sich von einer Mahlzeit zur andern, kletterte wie eine Katze auf den Bäumen herum oder lag in der Sonnen oder putzte sich vor dem Spiegel, oder bettelte der Mutter Geld ab für irgendeinen Tand oder Zuckerwerk.

Dieter wurde mit wohlschmeckendem Oberskaffee bewirtet und diesem Fräulein Tochter der Oberköchin vorgestellt, das mit ihm im schönsten Wiener Dialekt zu schwatzen begann, als sei es auf dem Alsergrund zu Hause. Das halbwüchsige Mädchen hatte nämlich bei einem Wiener Aufenthalt der freiherrlichen Familie die nachlässige Sprechweise des Stadtvolkes, die ihr ohnedies schon von der Mutter vererbt worden, zu allererst und so vollkommen sich angeeignet, daß sie zwar weder das eigentliche Deutsch verstand, noch schrieb, aber wienerisch parlieren, schimpfen, schmeicheln konnte gleich einer Eingeborenen. Als die Frau Nemec und die Oberköchin ein umständliches, förmliches Gespräch mit vielen Floskeln und höflichen Gegenwendungen begannen, das auf eine gute Stunde Aufenthalts angelegt war, winkte sie dem neuen Gaste mit einer drollig einladenden Gebärde und lief ihm voraus in den Park. Dieter folgte und draußen begann sie gleich: »Was haben Sie mit der alten Lobkowitz zu schaffen, wie kamen Sie denn in die Equipage der frommen Fuchtel?« Also stellte sich heraus, daß sie es war, die bei seiner Ankunft vor ihm mit solchem Gelächter durch das Tor geschlüpft war. Wie sie gestand, hatte sie gerade auf einem hohen Lindenbaum in ihrer Langweile Ausschau gehalten, als Dieter der Kutsche mit heiler Haut entsprang. Vorsichtig genug entdeckte ihr Dieter freilich nur die unverfängliche Seite seines Reiseabenteuers und verschwieg die fragwürdige. Aber sie wurden recht bald miteinander vertraut und strichen in Begleitung der unterdes auch zu einer allerdings sauren Jungfrau herangewachsenen Base Marischka, oder allein durch den Park und das anstoßende Revier und vergnügten sich als die Kinder, die sie waren, mit allerhand Unternehmungen. Nach Dieters Anordnung führten sie in dem Bach, welcher den Fischteich speiste, einen großen Damm auf, so daß mitten in der Ebene allmählich ein neuer selbständiger See entstand, auf welchem sie mehrere Küstenstädte, Hafenanlagen, Leuchttürme anlegten, Schiffe verkehren ließen und Meeresschlachten schlugen.

Während seine Kusine Marischka als wohlerzogenes und sprödes Hauskind vor dem Wasser eine höllische Scheu hatte und nur am Ufer verweilte, vergnügte sich die Tochter der Oberköchin, die ihren gleichen Namen auf wienerische Weise »Mariedl« aussprach, mitten im Schlamm und in der Nässe mit tausend Freuden, ebenso wie sie auf den nächsten Baum kletterte und sich nichts daraus machte, ihre dicken Waden, und was man ungefähr weiter noch sehen konnte, zu zeigen, oder wenn sie in den Bach stieg, Schuhe und Strümpfe auszuziehen, den Rock hoch aufzuschürzen und mit den nackten Beinen umherzusteigen. Dies alles geschah jedoch so unbefangen und selbstverständlich, in so gutem Seelenfrieden und Vertrauen, und wurde ebenso arglos aufgenommen, daß keiner daran etwas Böses hätte finden dürfen.

Mariedl war freilich schon ein ganzes Frauenzimmer und bei der üppigen Nahrung und faulen Lebensweise voll gediehen, ihr ungeschnürter Körper ließ bei den raschen Bewegungen seine Formen in aller Unschuld getrost vor Dieters Augen wogen, welcher bei gleichem kindlichen Gemüte doch auch schon in den Jahren war, derlei zu bemerken, zu würdigen und gelegentlich in aller Stille zu fragen, wie sich ein solches Auf und Nieder eines weiblichen Busens etwa zu ihm verhalte. Aber es kostete ihm hinwiederum gar keinen Kampf, solche Regungen abzuweisen, die weit wichtigere Spielangelegenheiten nur stören konnten. Schön war die Mariedl ohnehin nicht. Und nur wenn sie selbst von solchen verfänglichen Dingen etwa gesprochen hätte, wäre er pflichtgemäß darauf eingegangen, da es sich für einen Mann schickt, einem derartigen Anruf zu gehorchen. Solange sie aber nichts dergleichen tat, war es ihm offen gestanden lieber. Wenn man von ihm derlei Unternehmungen wollte, mußte man ihm das Erforderliche sozusagen auf einem Präsentierteller darbringen, damit er es etwa versuche, aber auch nur ein Wort, geschweige denn eine Tat daran zu wenden, solche unbekannte Näschereien zu gewinnen, gar zu rauben, schien ihm eines ernsten Jünglings durchaus unwürdig.

Uebrigens ließ auch eine neu aufgetauchte Figur Dietern die Mariedl leichtherzig vernachlässigen, nämlich der Maler Krispin, der eines Tages mit einem grünen Schattenspender, einem Klappstühlchen, Farbenkasten und Palette auftauchte, um in den Stallungen des Barons ein Porträt von dessen Leibwallachen »Attila« anzufertigen. Krispin war ein tschechischer Tiermaler, welcher sich seinen Unterhalt und kostenloses Sommervergnügen erwarb, indem er die Schlösser reicher Gönner bereiste und sich erbötig machte, allenthalben die hübschesten Veduten, Architekturen, Geflügelhöfe, Pferde, Rinder und wenn's sein mußte, auch Menschen naturgetreu gegen bescheidenes Honorar und ganze Verpflegung abzuschildern.

Diesmal war er freilich nicht der Gast des Barons, sondern der Frau Stallmeisterin, welche auch die vaterländischen Künstler zu bewirten für ihre ehrenvolle Pflicht hielt. Dieter, der sich für Malerei höchlich interessierte, näherte sich dem bedeutenden Manne, sah ihm das Farbenmischen ab und wie man die Wirkung eines entschiedenen Tones durch entgegengesetzte andere hebt, ein Grün durch nebenstehendes oder darübergelegtes Zinnober leuchtend macht, den schwarzen Schatten durch ein entschiedenes Blau oder Violett hervorhebt und durch den Gegensatz benachbarter Helligkeit darstellt, kurz wie man der Wahrheit der Natur durch findige Kniffe der Kunst nahe- oder fernekommt, je nachdem. Daß Krispin kein gar zu erhabener Meister sei, erkannte Dieter bald an der Hurtigkeit, mit welcher ein Gegenstand um den andern auf die Leinwand gehext wurde. Aber der höfliche Maler mit seinem roten Knebelbart und schwarzem Filzhut wußte ihn doch über verschiedene Fragen geduldig aufzuklären und ließ sich von Dieter wiederum allerhand interessante Motive zeigen, etwa einen Tümpel mit Gänsen, Enten und einem lahmen Eisenschimmel am Ufer, oder weiße Birken auf einem dunkeln Moorgrunde, von welchen verschiedenen Gegenständen der Herr Krispin zu späterer Ausführung eine Reihe von Skizzen aufnahm. Hinwiederum durfte Dieter selber die kostbaren Oelfarben des Meisters gebrauchen und auf flachen Steinen, die als Briefbeschwerer dienen sollten, etwa einen kleinen Gegenstand, einen Baum, eine Kirche, ein Gebirge, einen Vogel malen. Bei diesen Unterhaltungen zeigte sich Mariedl anfangs neugierig; bald aber, da es geduldig zuzuschauen und den Blick unverwandt auf ein und dasselbe Ding zu richten galt, mürrisch und verdrossen, und gar als sie sich auch nützlich machen wollte, die halbgebrauchten, zerknüllten Tuben wegwarf und die vollen dafür ordentlich nebeneinander schichtete und von der Palette die häßlichen Farbenflecke wegwischte, deren man gerade zur notwendigen Mischung des bevorstehenden Effekts bedurfte, komplimentierte man sie davon, was sie sich nicht zweimal sagen ließ. So hauste sie fortan wieder auf den Bäumen, lag, alle Viere von sich gestreckt, im Grase, knabberte an Süßigkeiten oder strich im Dorf umher und kümmerte sich um den Jüngling ebensowenig, wie er sich um sie, da sie einander schon genugsam kannten und nichts mehr zu sagen hatten.

Auch der Maler Krispin verschwand vorzeitig aus dem Vordergrunde des sommerlichen Schloßlebens. Er war eines Tages in die Nachbarschaft gezogen, um auch dort einen besonders schönen Hengst abzumalen, und vom Gutsherrn, einem trinkfesten Junggesellen, nach Vollendung des Porträts mit einem bier- und weinreichen Festschmaus bewirtet worden, von dem er bezecht und seines Ganges, wie Gesichts nicht völlig sicher, in die Gaststube der Frau Nemec zurückkehrte. Da sie ihn, wie er wußte, jeden Abend zum Nachtessen erwartete und heute sicherlich ihre guten Sachen in der Bratröhre für ihn warm gestellt hatte, schien es dem überaus höflichen Meister, der seinerseits jeden Gönner in seiner Herzkammer warm hielt, unbedingt nötig, die feinen Speisen wenigstens nachträglich zu genießen, wenn er auch wahrlich keinen Hunger mehr verspürte. Nur um der Pflicht der Höflichkeit zu genügen, beschloß er also, anstatt sich gleich ins Bett zu legen und weidlich auszuschlafen, vorerst von der Küche das Nachtmahl aus der Ofenröhre zu holen. Bei diesem Unternehmen warf er in dem finstern Raume, durch das Dunkel der Nacht, wie durch die Dämmerung der genossenen Spirituosen gleicherweise verwirrt, die Teller mit der wohlgebratenen Gans und der Mehlspeise, mit Salat und Gemüse zu Boden. Er hatte kein Licht mitgenommen, um ja nur niemand zu stören, und gerade diese zarte Rücksicht verursachte jetzt den höllischesten Lärm. Die Magd, welche in der anstoßenden Kammer schlief, glaubte Räuber im Hause und schrie aus Leibeskräften, Krispin redete vergeblich in sie hinein, da erschien gleich auch die Frau Nemec mit einer Kerze, gefolgt von ihrem Gemahl und dem neugierigen Dieter, um dem gefährlichen Holloh zu begegnen. In der Küche standen nun die Geweckten in ihren spaßigen Nachtkleidern, die Magd am ganzen Leibe zitternd, Krispin mit tausend Verbeugungen sich um die Erklärung des Handels bemühend, die Dame Nemec voll Zorn, denn sie glaubte, nach den offenkundigen Anzeichen eine unsittliche Absicht des Gastes auf ihren Dienstboten annehmen zu müssen. Es wurde höflich, mißtrauisch, feindselig, abwehrend, beschwörend, anklagend in tschechischer Sprache durcheinander gerufen, im Hofe schlugen die Hunde heulend an, an den Fenstern der benachbarten Wohnungen zeigten sich Lichter, und es wäre ohne Zweifel ein arger Skandal herausgekommen, wenn nicht plötzlich ein Steinwurf das Küchenfenster entzweigeschlagen hätte. Vor dieser Drohung von außen schraken die Streitenden zusammen, verstummten plötzlich und lauschten hinaus, um schließlich, als sich nichts mehr regte, beschämt dazustehen, dann die Sache mit einigen Worten zu vertagen und sich in die Zimmer zurückzuziehen.

Am nächsten Morgen erschien der Maler Krispin im feierlichen schwarzen Bratenrocke und behandschuht beim Frühstückstische der Frau Nemec, brachte unter den demütigsten Knixen seine Entschuldigungen vor, klärte nochmals seine reinsten Absichten auf, wurde, wie es die Sitte gebot, zwar mit dem Scheine guten Glaubens angehört und freigesprochen, aber insgeheim nach wie vor für schuldig gehalten. Dergestalt begegnete seine Absicht, wieder davonzugehen und anderswo im Lande seine Malkunst zu betätigen, keiner Einrede, und er zog, aufs höfischeste komplimentierend und bekomplimentiert von dannen.

Nach etlichen Wochen langte aus Prag eine wohlverwahrte, in Bretter und Packleinen gehüllte, mächtige Sendung an, aus welcher ein überlebensgroßes Bild geschält wurde, darstellend die Taufe Christi, Kopie eines berühmten tschechischen Gemäldes, vom Meister Krispin angefertigt und der Frau Nemec zum Dank für die edle Gastfreundschaft dieses Sommers zugeeignet. Sehr wild, schleuderhaft und mit den grellsten Farben in ein paar Stunden zusammengekleckst, wurde das Werk von der überraschten und beglückten Stallmeisterin hochgepriesen und als Votiv- und Sühndenkmal in dem ehemals von Krispin bewohnten Raume aufgehängt, um seinerzeit zu Prag, wo die Eheleute im Stadtpalaste des Barons gleichfalls eine große Dienstwohnung winterlang inne hatten, das Speisezimmer zu zieren.

Alle diese Vorfälle berichtete Dieter einläßlich in vielen Briefen dem Toni, der aus seinem Innviertel begeisterte Antworten sandte. Ueber den eigenen Aufenthalt verriet der Freund nur, daß merkwürdige Dinge mit ihm vorgingen, welche erst einen wahren Menschen aus ihm machten. Drei Glückseligkeiten seien den Irdischen gewährt, ein heiliges M, von zwei heiligen A eingeschlossen, wie er mit verzückter Symbolik schrieb: Amor, musica, amicitia. Er sei auf dem Wege, zu den beiden letzten Gütern das höchste erste hinzuzuerwerben und sehe mit Freuden, daß auch Dieter in seinen köstlichen Abenteuern dem Rosengarten dieser Seligkeit beflissen zustrebe, möchte er nur die herrliche Mariedl, dieses weibliche Urgeschöpf, richtig würdigen und von Herzen lieben, denn hier zeigte sich, obgleich von dem Freunde ungebührlich und mit Scherz verstellt, eine beginnende Leidenschaft. Der Art ging es im jedem Briefe viele Seiten lang, geschwätzig und wieder geheimnisvoll, andeutend und verschwiegen, so daß Dieter den Kopf schüttelte und verlegen war, Tonis Erlebnisse zu enträtseln, während er dessen Meinung über Mariedl als Gegenstand einer Anbetung herzlich belachte. Von einer Schwärmerei für diese handfeste, ganz und gar nicht liebreizende Person mochte er wahrlich am allerwenigsten wissen und beschloß, den Toni damit zum besten zu halten.

Die drei heiligen Buchstaben prangten an der Spitze der Briefe Tonis, jede Seite aber fing mit einem besonders schön als Initiale mit roter Tinte ausgemalten, vielfach verzierten, in einem Rankenwerk sinniger Schnörkel eingefaßten »H« an, und die Wendung, mit welcher diese Sätze begannen, war nicht ohne stilistische Gewalttat immer auf diesen verräterischen Buchstaben zugespitzt. Bald stand ein ungerechtfertigtes »Hiemit«, bald ein melancholisch angehauchtes »Hinwiederum«, oder ein unvorhergesehener Fluch »Himmelherrgottsakrament« obenan und Dieter müßte seinen Freund schlecht gekannt haben, um nicht zu ahnen, daß hinter diesem »H« eine feurig angebetete Herzenskönigin, von der Rankenglorie einer erhitzten Schwärmerei umringt, im Heiligtume des ersten Buchstabens Amor stünde.

Daher schrieb er in seinem nächsten Brief bloß diesen einen Satz: »Ha! Denk' ich mir,« und versah das bezeichnende Anfangswort ebenfalls mit den schönsten Schnörkeln seiner erprobten Schrift.

Nun war er dem von tausend neuen Gefühlen und Erlebnissen beseligten und bestürmten fernen Freunde gegenüber in der Stille seines Sommers doppelt einsam und mußte sich wohl oder übel nach neuen Abenteuern umsehen. Amor und Mariedl schienen ihm völlig unvereinbar und nur behufs Irreführung des Freundes in Briefen zu gesellen, musica gab es keine und amicitia ließ sich in solcher Trennung wohl schätzen, aber nicht genießen.

Ja, was war es denn mit seiner weiland Squaw, mit der Baronesse Tinka, mit dem Bubi, mit der herrschaftlichen Familie? Schon oft hatte er sich um dies alles erkundigt, aber nichts Zuverlässiges erfahren können. Der Bubi diente bereits als Husareneinjähriger und weilte jetzt auf Manövern, die übrigen brachten den Sommer diesmal in den Alpen zu und würden vielleicht nur auf ein paar Tage zu Besuch kommen, keineswegs zu längerem Aufenthalte.

Die nackte Dame aus Stein inmitten des buchsumhegten Rasenparterres ergötzte sich einsam an ihrem Bade, der Frühstückstisch mit den weißen Gartenbänken und Stühlen stand ungedeckt auf dem stillen Kiesplatze, und die Sandgrube draußen lag öde und verlassen da, kein Ofen rauchte, keine Buben spielten und zogen als Indianer in ungebundenem Lagerleben umher. Keine Baronesse kam verstohlen zum Erdäpfelbraten und zum Häuptling. Die Gänse wurden von einem andern Hirten geweidet, der von seinen Vorfahren nichts wußte, die längst als Knechte auf den Feldern schafften und Dietern ebensowenig wiedererkannt hätten, wie er sie.

Da beschloß er, wenigstens die Josefine Wacha zu besuchen, welche dem Vernehmen nach, in ihrer alten Stube hauste und nähte, wie damals.

Er pochte an ihrer Tür, trat ein und fand sie, nicht wie einst mit den schönen, braunen, reichen, offenen Haaren über dem weißen Morgengewand und mit freiem Halse, sondern in einem dunkeln Kleid, die Zöpfe zu einer strengen Frisur aufgesteckt, über eine Näharbeit gebeugt. Aber sie lächelte ihm freundlich entgegen und begrüßte ihn dankbar, daß er ihrer noch gedacht habe.

Damals eine Person im vollen Sommer, war sie nun so schnell, wie es ledigen Frauenzimmern in diesen Jahren meist ergeht, vom Herbst überrascht worden. Ihre Züge hatten einen scharfen, wenn auch nicht ungütigen, doch traurigen Ausdruck, um ihre braunen Augen spielten, wenn sie lächelte, viele Fältchen, die man an einer Mutter liebt, an einer Fremden als Zeichen des Alters ansieht, und ihr Haar war von manchem silbernen Faden durchzogen.

Dieter konnte sich einer gewissen Beklommenheit nicht erwehren, als sie ihm freundlich wieder zu ihren Füßen auf dem Schemel seinen Platz anwies und ihn auszufragen begann, wie es ihm in all diesen Jahren ergangen, was er getan und getrieben, gehofft, gewünscht, erreicht. Stockend erzählte Dieter und fühlte sich immer wieder gehemmt durch eine innere Frage: »Weshalb sage ich ihr dies alles?« Sie hörte still zu und ließ sich nun ihrerseits von ihm aushören, der von Baronesse Tinka und von Bubi nicht genug erfahren konnte. Was gab es da viel zu wissen: die beiden waren groß geworden und lebten unter den Erwachsenen. Ob sie damals den Brief bekommen hätte und den eingelegten an Baronesse Tinka weitergegeben?

Die Josefine Wacha nickte lächelnd. Wie traurig lächelte sie! Und was hatte denn die Baronesse damals zu dem Briefe gesagt? Ei, nichts weiter. Und warum hatte die Baronesse denn nicht geantwortet, sie waren doch bei ihren Spielen so gute Freunde gewesen?

»Es schickte sich doch wohl nicht, daß sie Ihnen zurückschrieb,« meinte die Kammerjungfer.

Das wollte Dieter nun ganz und gar nicht begreifen, aber die Baronesse hätte sich doch seiner manchmal erinnert, oder nicht?

Die Josefine Wacha nickte, um ihn zu beruhigen. Gewiß, das hätte sie, auch der Bubi hätte ihn lange nicht vergessen können. Und Dieter fragte weiter, wie die Kammerjungfer mit der jungen Baronesse stünde, ob sie ihr zuweilen schreibe. Freilich, das tat sie. Und sie bekam auch Briefe von Tinka, denn sie mußte ja mancherlei Aufträge ausführen, die Wäsche instand halten, dies und jenes nachsenden, oder besorgen, allwöchentlich erhielt sie Nachricht und beantwortete solche Karten. Da könne sie vielleicht gern einmal die Baronesse wissen lassen,. daß Dieter wiederum im Schlosse sei. Die Josefine sah den Jüngling zu ihren Füßen sitzen und sie mit den Knabenaugen wünschend, eine andere wünschend, anschauen und sie neigte das Haupt tiefer über ihre Näherei, indem sie leise sprach, sicherlich könne sie mit einer Zeile des Gastes Erwähnung tun. Vielleicht einen Gruß von ihm bestellen, nicht sehr wichtig oder auffällig, sondern nur so nebenher, ganz flüchtig, so daß man ihn vernehmen könne, wenn man dazu Lust habe, oder ihn übersehen, je nach Belieben? Einen Gruß, den einer aus der Ferne tut. Man erblickt auf der andern Seite der Straße einen Bekannten, ohne zu wissen, ob man auch von ihm gesehen wird. Aber aus Höflichkeit und für jeden Fall zieht man den Hut, nicht wahr? Gewiß, sie verstehe schon, wie er's meine, so werde sie bei Gelegenheit beiläufig auch von ihm einen Gruß ausrichten, aber die Baronesse Tinka sei jetzt eine gar stolze junge Dame geworden, reich und schön, er könne sich denken, wie viele noble Freier sie umwürben. Das Wort klang Dietern merkwürdig fremd ins Ohr. Seine Squaw bekam schon mit Freiern zu schaffen und er, ihr Häuptling, saß, als eben entlassener Schüler, auf einem Schemel zu Füßen ihrer Kammerjungfer. Er erhob sich mit einem Seufzer, die Josefine Wacha stand auf, dankte ihm für seinen lieben Besuch und bat ihn, sich doch recht bald wieder sehen zu lassen, begleitete ihn zur Türe, und als er die Klinke faßte, fragte sie lächelnd: »Haben Sie mein Kölnischwasser von damals brauchen können?« Dieter wies wortlos das volle Fläschchen, welches er aus seiner Brusttasche hervorzog. Das alte Mädchen fuhr mit der Hand über sein blondes Haar, nur einmal und ganz sachte, indem sie sprach: »Sie sind doch der gleiche geblieben, das freut mich.« Damit schob sie ihn rasch zur Tür hinaus und verschloß sie hinter ihm.

Im Dorfe gab es als einzigen Deutschen einen Schuster, welcher noch abends im Lichte seiner strahlenden Kugel auf dem Schemel saß und auf den Leisten hämmerte. Dieter besuchte den ärmlichen Handwerker oft, dem von seiner angestammten Art kaum mehr, als eine unordentliche Sprache geblieben war, schreiben konnte er nur mit vieler Not, darum galt Dieter als Wundermann und mußte als wohlfeiles Schauspiel des Feierabends eine Produktion im Schnellschreiben liefern, die vom Meister, dessen Frau und Gesellen gebührend angestaunt wurde. Dafür ließ sich der Gast wiederum weidlich eins verhämmern, denn es verlangt eine tüchtige Kraft, das bockige Leder auf dem Knie mit Schlägen zu geschmeidigen.

Wie viele solche Schläge tut wohl ein Schuster an einem Tag? In ihrer Folge vernimmt der Arbeitsmann einen ganzen mannigfachen und abgestuften Gesang seines Lebens: Mißmut und Sorge, Verdruß und Kümmernis, Zorn und Neid, Liebe und Fleiß singen mit den stärkeren oder stilleren Schlägen wie das leise Pochen des Herzens in der Brust. Die Schläge fallen auf die Sohle, auf die Nägel und wohl auch nebenbei, wo sie gerade nicht nötig sind, wie ja auch der Friseur seine Schere gelegentlich in der Luft klappern läßt um des Fingerspiels und Schalles willen. Aber vom Hämmern hat der Schuster einen starken rechten Arm, wie der Schmied, und so gutmütig er scheint, ist mit ihm nicht zu spaßen, zumal er außer dem Dreinschlagen sich auch heimlich rächen kann, durch ein tückisches Verengern des Vorderfußes oder Zerren des Oberleders, oder durch allgemeine Hinfälligkeit seiner Ware, was zu den erlaubten Sünden des Handwerks gehört. Da fertigte der Meister gerade seufzend für den Jahrmarkt im nächsten Städtchen grobe Wanderschuhe mit verlockenden, daumdicken Sohlen, welche eine unverwüstliche Dauerbarkeit vortäuschten. Aber die Schuster wollen auch leben, darum sind diese Sohlen mit dünnen Eichenfournieren, statt mit Leder eingelegt, wodurch sie stark werden und beim Gehen so lange knarren, bis das Holz innen zu Staub getreten ist. Oder wenn Absätze ausgebessert werden, schwindelt man aus dem Vorrat lauter kleine, gebrauchte, sonst unnütze Lederfetzchen hinein und dergleichen frommen Betrug mehr.

Aber dies alles nützte nicht viel, murrte der Meister, denn ringsum saßen tschechische Konkurrenten, welche das Oberleder, fertig zugerichtet, aus den Fabriken bezogen, während er's aus dem ganzen Stück mühselig zuschnitt. Abgesehen davon, daß sie es, weiß der Teufel wie, auf Kredit bekamen, vermochten sie die Ware schneller, also desto billiger herzustellen und verdrängten ihn nachgerade von seiner Kundschaft, der mit seinem geringen Gelde sein Leder gleich bar bezahlen und keinen Rohstoff im Vorrat anschaffen konnte. Das schien Dietern unbillig, der Meister verstand es wohl nicht, die betreffende Fabrik aufzusuchen, oder wagte es nicht, darum erbot er sich, ihn auf den Jahrmarkt zu begleiten und dort beim Verkauf behilflich zu sein, sowie das Kreditwesen zu erkunden.

In der Morgenfrühe um vier Uhr brachen der Meister, die Meisterin, ein Geselle und Dieter, den Vorrat in einem Karren schiebend, zum Markt in das Nachbarstädtchen auf, erbauten ihr Zelt, stellten das mannigfache Schuhwerk möglichst verlockend zur Schau und warteten der Käufer. Bald kamen die böhmischen Bauern, welche nur wenig Bedarf haben, weil sie meist auf ihrer Scholle bleiben, wo sich's auch in Holzschuhen stehen und gehen läßt, dagegen brauchen die Deutschen für ihre Wanderfüße ordentliche Stiefel, mit diesen marschieren sie aber gern davon und kommen oft nicht wieder, so daß die beste Kundschaft nur einmal bedient wird, um sich dann anderswo in der Ferne zu versorgen. Aber Dieter ließ als Ausrufer in deutscher und tschechischer Sprache sich den Vertrieb der anvertrauten Ware gar angelegen sein, galt es doch zum ersten Male seine Befähigung zum Kommerz zu erproben, darum lockte er mit Witzen, Versprechungen und Wunderworten die Käufer von allen Seiten her, mit den Mädchen schäkerte er, die Weiber bediente er voll Ernst, indem er für seine Schuhe mit hohen Eiden garantierte, den Kindern spendete er Zuckerwerk, das er mitgebracht hatte, und schlug die ganze Konkurrenz ringsum, welche keinen so maulfertigen Geschäftsmann aufzuweisen hatte. Und als gar eine deutsche Dame mit einem kleinen Mädchen an das Zelt trat, um rote Saffianhalbschuhe zu versuchen, wußte Dieter sie so treuherzig zu beschwatzen und zum Kauf aufzumuntern, daß sie den wunderlichen Handelsmann erstaunt betrachtete und fragte, wie er denn in diese Gegend verschlagen sei, und ob er wirklich von je ein Schuster gewesen. Nein, seufzte Dieter, er sei ein einstiger Student und blickte sie dabei schmerzvoll an.

Und da habe er sich wohl im Leichtsinn verscherzt und mußte ein böses Handwerk ergreifen, ergänzte sie wissend, denn unter den gebildeten Ständen ist ja die Drohung gang und gäbe, wenn einer das Latein nicht besteht, muß er Schuster werden. Da sah man nun in nächster Nähe ein mitleiderregendes Beispiel solcher zerstörten Existenz. Aus Bedauern kaufte sie die Saffianhalbschuhe und überzahlte sie ohne Widerspruch mit einem ganz ungebührlich hohen Preise, der Meister schwamm in Wonne.

Nach Schluß des Marktes begab sich Dieter ins Rathaus, erkundete die Namen der benachbarten Schuhoberteil-Fabriken, schrieb an diese Firmen Briefe, um die Kreditbedingungen zu erfragen. Bereitwillig gaben die Geschäfte bekannt, daß sie jedem kleinen Meister gegen halbjährige Zahlung im Nachhinein Vorräte von ansehnlicher Höhe lieferten. Damit wurde auch für seinen weltunkundigen Schuster die gute Quelle des Kredits erschlossen, nach ein paar Tagen trafen die gewünschten Waren in tunlich brauchbarer Beschaffenheit ein, so daß der Mann wie seine Konkurrenten auf Vorrat arbeiten konnte und sich ein für allemal auf dem rechten Wege fand. Er pries Dietern als seinen werktätigen Schutzgeist und Retter. So hatte der im Sommervergnügen auch etwas Ordentliches gewirkt, was sich als Gutschrift in dem Wanderbuche eines Taugenichts einmal anführen ließ, wenn die Sünden und die braven Taten gezählt, gewogen und geschätzt wurden und zugleich hatte er auch den ersten Beweis seiner kommerziellen Fähigkeit erbracht.

Im beginnenden Herbst kam die freiherrliche Familie für ein paar Tage in das Schloß, und Dieter sah die Baronesse Tinka auf ihrem Braunen stolz und schön vorbeireiten, er grüßte sie tief, aber sie nickte obenhin zum Dank und erkannte ihn nicht. Da war der Sommer für ihn zu Ende und er kehrte heim.


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