Otto Stoessl
Morgenrot
Otto Stoessl

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VIII.

In der dritten Gymnasialklasse ereignete sich ein für Dieters ganzes Leben entscheidender Umschwung: er wurde aus der »A«- in die »B«-Klasse versetzt. Vielbesuchte Schulen haben, wie man weiß, zumindest bis zur Oberstufe zwei parallele Jahrgänge. Meist kommen die Schüler, deren Namen mit den Anfangsbuchstaben der ersten Hälfte des Alphabets beginnen, in die A-Klasse, der Rest in die B-Klasse, aber auch andere Einteilungsgründe durchsetzen diese Ordnung, indem etwa die Juden hierhin, die Protestanten dorthin, die Turner und Sänger in die eine oder andere Abteilung eingereiht werden. Nun hat aber jeder Zufall sein geheimnisvolles inneres Gesetz und darum Schicksalsfolgen. Wer ein Schüler gewesen ist, weiß es: die A-Klasse hat einen anderen Charakter als die B-Klasse. Scheinbar sitzen dort Buben desselbigen Schlages wie hier, desselben Alters, Herkommens und Wissens, auch unter den Lehrern scheint die Verteilung von Licht und Schatten gleichmäßig. Kaum sind aber die zwei Klassen festgestellt, so beginnen zwei grundverschiedene Wesen zu leben. Ist das eine begabt und tugendhaft, so ist das andere töricht und schlimm, zeigt sich das eine gehorsam und langweilig, so geht's beim andern toll und lustig zu, hier sitzen brave Schulsklaven, dort freie junge Leute von abenteuerlichen Sitten. Ereignet sich hier nichts als ein ödes Ableiern von Schulaufgaben, so gibt es dort lauter Ueberraschungen. Wenn die langweiligen »Braven« das Lehrziel auf der anständigen gemeinen Heerstraße im Drill marschierend zur Zufriedenheit der Führer erreichen, so bleiben sie doch armselige Spießbürger, die schon jetzt alles, was das Leben erst wert macht, versäumen, und später als rechte Kleber ehrfürchtig und fade auf jedem Ast einer Brotstelle sitzen bleiben, so recht als staatserhaltende, an der gemeinsamen Dummheit mit einem großen angestammten Aktienbesitze beteiligte Elemente. Das ist die kompakte Majorität, das Stimmvieh, die geduldigen Rekruten, mit denen jeder geriebene Politiker und jeder unfähige Heerführer das spätere Lehrziel erreicht, ohne es Wort zu haben, daß dieser Erfolg mit solchen Schülern die Mühe wahrlich nicht lohne.

Hingegen gedeihen unter den Ungezogenen, Widerspenstigen und »unbegabten« Quälgeistern die munteren Umstürzler in ihrer teuflischen Unschuld, sie bewähren sich schon in der Schule als Draufgänger und Helden, schlagen hier, wie später im Leben über alle Stränge, lassen sich nicht leiten, weil sie selber führen müssen, kraft ihres Ueberschusses an Blut, Laune und Willen, brausen wie üppig laubender Wald und treiben zehn Aeste für einen, den der Gärtner gestutzt hat. Vielleicht tut die Verteilung von Licht und Schatten im Schulhaus ein übriges. Die eine Klasse liegt in der Sonne, die andere grämt sich im Dunkel, hier tanzen Lichter über Hefte und Köpfe und bringen alle Streiche zum Reifen, denn die Sonne ist die Mutter aller heiligen Zuchtlosigkeit, dort läßt sich im Schatten die Ruhe, Langeweile und Ordnung gähnend breittreten. Wir wollen hoffen, der Herr der Dinge liebe die Geflügelten, welche er zeit ihres Lebens freilich züchtigt, indes er die Erdenkriecher begünstigt, weil sie niemals in sein Reich kommen können.

Nun trat Dieter aus der erhellten, frohen und durchwärmten A-Klasse, welche Abenteurer, Helden und Gauner barg, von Streichen tobte und mit den Füßen scharrte, in die schattige, beliebte, musterhafte B-Klasse der Langweiligen, Gehorsamen und Stillen. War's ein Schicksal? Es galt die A-Klasse zu entlasten, die B-Klasse zu vermehren. Dabei spielte eine gewisse Heuchelei der Lehrer mit, indem die der A-Klasse einige Rädelsführer abzustoßen gedachten, die der B-Klasse aber ihre brave Gemeinschaft vor den räudigen Schafen wahren wollten.

So berieten die Professoren, wie weiland die olympischen Götter über die Helden vor Troja, die neue Verteilung und einigten sich auf einen billigen Ausgleich, wobei die gewitzten Meister der A-Klasse den weniger erfahrenen der B-Klasse etliche Duckmäuser als verläßliche Elemente der Ordnung aufschwatzten, von denen nichts zu besorgen sei, welche vielmehr auch in der neuen Umgebung sich als Zierden und Säulen bewähren würden. Doch waren diese Angepriesenen in Wahrheit nur eben vorsichtige Männlein, denen man nichts Uebles nachweisen konnte, so daß sie als ehrenwert passierten, während sie geschickt genug alle Streiche mitmachten, ja anführten, nur ließen sie sich nicht erwischen. Dies war Dieters Hauptbegabung und frühe Meisterschaft, er hatte ein frommes, liebes Gesicht und schaute treuherzig drein, so daß kein Argwohn gegen ihn aufkam. Er war auch beileibe nicht falsch, denn er meinte jedesmal auch, was er blickte; aber darum schlüpfte er, wenn ein unbewachter Moment eine Pforte auftat, doch aufs zierlichste ins Unerlaubte, um ebenso sacht wieder auf die Oede der Wohlanständigkeit zurückzukehren, wenn's an der Zeit war. In seinen Leistungen wußte er gleichfalls den ehrbaren Schein der Tugend, des Fleißes und der Strebsamkeit zu wahren, so daß er, geprüft, immerhin bestand. Aber diese äußern Erfolge erwarb er, und das war eben seine Kunst, nicht durch häusliche Mühen, sondern durch ein geschicktes Ausnützen der Konjunktur in der Schule selbst, sei es, indem er vom tüchtigen Vordermann abschrieb, oder das gedruckte Pensum irgendwie, vom Lehrer unbemerkt, sich vor Augen brachte, sei es, indem er genau berechnete, wann er gerufen werden konnte und nur dann seine Sache lernte, sei es, indem er das Glück auf andere Weise überlistete. So war ihm freilich nicht leicht beizukommen und man mußte ihn vor der Welt als braven Schüler gelten lassen, was durch seine Noten im Zeugnis stets schwarz auf weiß bekräftigt wurde. Aber die Lehrer sind in solchen Dingen nicht dümmer als ihre Schüler und merken schon, ob einer ein Spekulant ist, der den Augenblick benützt, oder ein verläßlicher Kapitalist, der sein Geld in der Kasse parat liegen hat und es zu jeder Stunde wechseln kann. Dieter hing sein Mäntelchen freilich nach jedem Wind und verbarg damit aufs wohlgefälligste seine Blöße. Aber die Professoren sahen doch ganz gut, daß es fadenscheinig und löcherig war, so traten sie ihn neben anderen schlimmen Elementen als ansehnliches Kompensationsobjekt ab und Dieter kam in die B-Klasse.

Hier gefiel es ihm gar nicht gut, er vermißte die Sonne, entbehrte vertraute Heldengesichter und fand lauter Streber, als eine Kohlpflanzung blonder, über die Aufgaben gebückter Schädel. Hier wurde nicht mit den Füßen gescharrt, Abschreiben und Einsagen schienen ganz unbekannte Dinge, selbst die Beleuchtung verwehrte derlei, man konnte keine wichtige Nachricht oder Meinung flüstern, keine Post war eingerichtet, kurz es fehlten alle Institutionen einer geregelten Zöglingsgesellschaft. Hier mußte er alles von Grund aus schaffen, wenn er halbwegs menschenwürdig leben wollte. Mit einem Seufzer suchte er wenigstens einen Platz, der sein Vorhaben nicht von Anbeginn unmöglich machte. Er wollte nahe beim Fenster sitzen, um selber Licht zu haben, aber wieder so, daß man ihn nicht gleich und immer sah. Er wollte »anständige«, das heißt bei den Lehrern beliebte, unverdächtige Nebenmänner, um vom Abglanz ihrer Tugend selber einen schönen Schein abzubekommen. Dagegen brauchte er einen Vordermann, dessen Rücken ihn deckte und der sowohl bereit als geeignet war, von seinen Heften abschreiben zu lassen.

Nun lag ein Fensterplatz in einer Nische, so, daß vor ihm die Wand mit den aufgehängten Mänteln einige Deckung bot; als Nebenmann saß einer jener Krausköpfe mit den exakten Stiefelfalten und Henkelöhrchen eifrig am Unterricht beteiligt: also ein Israelit, der sicherlich unverdächtig und wegen seines Eifers geschätzt war. Dagegen hatte der Vordermann ein treuherziges Gesicht mit blühenden roten Wangen, sorgsam gescheiteltes glattes blondes Haar, das aber gefallsam mit einem kecken Schnörkel in die Stirn gekämmt war, und im Blick etwas Suchendes und Unsicheres, was Dietern verriet, hier kenne sich einer bei aller Bravheit nicht recht aus. Der brauchte wohl Belehrung und Aneiferung durch einen kundigen Führer und konnte vielleicht andererseits für Schulzwecke sich nützlich machen. Auch hieß er Anton Raimund Franz Scharrer.

Der Platz war also halbwegs günstig und konnte etwa im Laufe der Zeit tunlich ausgestaltet werden, daher wählte ihn Dieter mit raschem Entschlusse.

Bevor er die neuen Kameraden erkundete und in das Dasein dieser Dunkelmänner einige Bewegung brachte, lebte er in einer Fensterecke ein paar Tage still für sich hin, mit der Errichtung einer Eisenbahn beschäftigt, welche ihn für das Einerlei der Unterrichtsstunden entschädigen sollte. Er ritzte mit seinem Taschenmesser zwei ansehnliche Rinnen ins Holz seiner Bank, ließ diese Rinnen sich zweimal kreuzen und wieder zusammentreffen, was den »Schienen-Wechsel« bedeutete. Am untern Ende des Pultes vereinigten sich die Bahnen und hier bohrte er als Schlußstation ein Loch. Diese Arbeit, in aller Stille und nur, wenn kein Lehrer hinsah oder verfängliche Fragen stellte, verübt, beanspruchte zwei volle Tage. Dann wurde über die Schienen Tinte laufen gelassen, damit die hellen Spuren im Holz nicht auffielen, sondern als verjährte Untaten eines längst entwichenen Verbrechens gelten konnten. Nun erst war die Eisenbahn zur Eröffnung bereit, und Dieter ließ den ersten Zug über die Schienen rollen, ein Schrotkügelchen, welches leise durch die Rinnen fuhr, um am Ende der Bahn durch das Loch in ein untergehaltenes Zündholzschächtelchen zu fallen. Nachdem er diese private Einrichtung getroffen hatte, wollte er sich auch mit einem seiner aus der A-Klasse hierherverschlagenen Kollegen geziemend verständigen. Dazu bedurfte er einer Post. In den Zwischenpausen hätte er freilich eine Unterhaltung leicht mündlich führen können, aber dieser gerade Weg war hier der schlimmste. Er wollte eine Post schaffen, dünkte es ihn doch ein Zeichen der schändlichen Unkultur dieser Klasse, daß sie damit auf ihn gewartet hatte. Er schrieb als erste Probe ein Briefchen: »Wie gefällt's dir in dieser Klasse, mir gefällt's gar nicht.« Diesen Zettel faltete er ganz klein zusammen und versah ihn mit folgender Adresse: Zweite Gasse, Haus Nr. 1, dritter Stock. Den Namen des Empfängers auf eine solche Botschaft zu setzen, wäre höchst unklug gewesen, da man sie doch hätte auffangen können. Als Gasse war ja für jeden Verständigen der freie Gang zwischen zwei Bankreihen gemeint; da es hier deren drei gab, lag mithin die zweite Gasse zwischen der zweiten und dritten Bankreihe, während die Hausnummer eins die erste Bank, das Stockwerk den als dritten Sitzenden bezeichnete, welcher also an der entgegengesetzten Zimmerwand, in der nördlichen Hemisphäre hauste, während Dieter sich des südlichen Klimas der Fenstergegend erfreute. Nun gab er den Brief auf, das heißt, er versetzte seinem Vordermann, dem Scharrer einen Puff in den Rücken. Dieser zuckte erschrocken zusammen, so daß Dieter schon fürchten mußte, der Lateiner oben auf dem Katheder würde es bemerken. Aber der Scharrer beugte sich nur noch tiefer über sein Buch und tat nichts dergleichen. Nach einer Weile des ingrimmigsten Wartens puffte Dieter den Ruchlosen stärker. Wiederum rückte dieser auf seiner Bank und schien unwillig; endlich stach ihn Dieter mit einer Nadel leise an eine empfindliche Partie und wollte es zum äußersten kommen lassen, wenn dieser Elende etwa schrie . . . Aber der Scharrer war doch halbwegs ein Ehrenmann, denn er drehte sich nur mit vorwurfsvollem Blick um und streckte endlich vorsichtig seine hohle Hand hinter sich. Dieter überlegte kurz, ob er ihm nicht zur Strafe für seinen Ungehorsam hineinspucken solle, aber er unterließ es im Interesse seines Briefes und steckte ihm das Papier zu. Was tat dieser Tropf? Er faltete die nicht für ihn bestimmte Nachricht unter der Bank auseinander und las sie. Dann warf er sie fort. Nur seiner Dummheit war zugute zu halten, was sonst als Verletzung des Briefgeheimnisses hätte geahndet werden müssen.

Bei der nächsten Schularbeit ergab sich gleich eine Gelegenheit, den Burschen zu erziehen. Der Scharrer saß voll Eifer über seinem Heft und hielt seine beiden Arme davor, als müsse er jeden Buchstaben hüten. Dieter gab ihm einen Stoß und flüsterte, denn das allgemeine Rücken der Hefte, Scharren der Aufregung, Blättern der Seiten und Knistern der Federn auf dem Papier gestatteten eine kurze Aussprache: »Laß mich abschreiben du Rindvieh oder wart' nach der Stund'.« Dies wirkte und Scharrer setzte sich so, daß Dieter das Entstehen der Komposition im Hefte seines Vordermannes mit aller wünschenswerten Deutlichkeit verfolgen konnte. Als sein eigenes Pensum dem Vorbilde nachgekommen, vermochte er den Scharrer, es in Tausch zu nehmen, damit einer die Fehler des andern in Muße verbesserte und etwaige verdächtige Aehnlichkeit dank der Fülle der lateinischen Sprache an verschiedenen Ausdrücken für dieselbe Sache oder an verzwickten Wortstellungen und anderen Ausflüchten verwische. Als es zwölf schlug und die Klasse jubelnd mit geschwungenen Schulpackeln und mit Freudenrufen sich auf die Straße ergoß und hierhin und dorthin eilte, in Rudeln oder paarweis die Abenteuer der Heimkehr suchend, trat Dieter an die Seite des einsam gehenden Scharrer. Der sah ihn an und wußte nichts zu sagen. Dieter hob mit einemmal sein Schulpackel und machte Miene, es seinem Kollegen um die Schultern zu schlagen. Dieser verstand die Bedeutung der Handlung nicht, da er keines Uebels bewußt, eine Strafe nicht gewärtigte. Der Scharrer sah also mit einem ängstlich fragenden Blick auf seinen Gegner. Dieter rief ihm zu: »So lauf' doch, Esel.« Da lief denn der Scharrer, was ihn die Füße tragen mochten, seinem Hause zu, Dieter ihm nach. Während dieser Jagd bemerkte der Verfolger, daß sein Vordermann nicht geübt war und sich mit einiger Unsicherheit flüchtete, darum mäßigte er sein eigenes Tempo und ließ dem Scharrer einen Vorsprung bis knapp vor dem Tor, doch ehe der Feind den schützenden Flur betrat, schleuderte er ihm das Packel so geschickt zwischen die Beine, daß der Bedrohte stolperte und beinahe hingefallen wäre. Er wandte sich um und sah Dietern halb lächelnd halb zornig entgegen. »So nimm doch dein Packel und hau' mich,« befahl der und wandte sich seinerseits zur Flucht. Der Scharrer gehorchte und eilte ihm nach. Dieter rannte den Weg nach der Stadt bis zur Brücke über den Donaukanal. Da sein Verfolger weit hinter ihm zurückblieb, wandte er sich ihm zu, stand auf der Brücke und erwartete ihn, der nun ganz außer Atem ankam. Als aber der Scharrer seinen Gegner so ruhig dastehen und warten sah, verließ ihn der Mut, das erhobene Schulpackel entsank ihm und er lachte Dietern bloß freundlich an. Darauf schlug ihm dieser auf die Schulter. Der Scharrer faßte sich ein Herz und schlug den Dieter gleichfalls auf die Schulter. Nun salutierte Dieter, Scharrer zog seinen Hut und jeder wanderte seinen entgegengesetzten Weg nach Hause. Damit war ihre Bekanntschaft geschlossen.

Fortan gingen sie miteinander. Ihr Heimweg führte jeden in entgegengesetzte Richtung, denn Dieter wanderte nach der innern Stadt zur Aula, Scharrer aber nach der oberen Landstraße, wo er in einem schäbigen Miethause einer öden Seitengasse wohnte. Nach der Schule begleiteten sie einander, das heißt, zuerst schloß Dieter sich dem Scharrer an bis zu dessen Quartier, dort kehrten sie wieder um, der Scharrer schloß sich Dietern an und ging mit ihm den ganzen Weg zurück bis zur Brücke. Hier schlugen sie einander mit einem stillen Blick auf die Schultern, salutierten und wanderten nun jeder allein nach Hause. Diese kurze Zeit genügte ihnen aber nicht, sie wollten miteinander ordentlich, nach Herzenslust umherstreifen; Dieter hatte Scharrer viel zu zeigen und zu lehren, dieser ihm viel zu erzählen. Es war ein ganzes Leben gemeinsam zu führen, eine Stunde des Schulweges reichte dazu wahrlich nicht aus. Dieter als freier Mann schlug vor, sie sollten fortan jeden Nachmittag miteinander spazierengehen. Scharrer lächelte wehmütig, das sei ganz unmöglich, er müsse zu Hause lernen, und dann sei er ins Turnen eingeschrieben, was auch etliche Nachmittagsstunden wegnahm; sein Vater würde nie und nimmer erlauben, daß er solange fortbleibe. Dieter beantragte, sie könnten ja vorgeben, zusammen in seiner Wohnung zu lernen, wo sie mehr Ruhe fänden. denn Scharrer hatte eine große Familie, die rings um ihn lärmte, wenn er beim Buche saß. Und vom Turnen könnte er sich dispensieren lassen, wenn er den Vater dazu bewegte, ein Gesuch an den Direktor zu richten. Dieters Zuversicht machte auch den Scharrer kühner und obgleich noch zweifelnd, stimmte er zu, daß Dieter selbst seinen Vater zu diesen Neuerungen überreden solle. Vorher würde er daheim von seinem Freunde sprechen und den Alten auf ihn vorbereiten.

Eines Nachmittags klopfte Dieter, nett angetan und mit seinem unschuldigsten Gesicht an der Tür von Scharrers Wohnung. Der Kollege öffnete ihm unter dem Geschrei von kleinen Kindern. Dieter roch den eigentümlichen Geruch einer winzigen Beamtenwohnung, welche aus der Küche den Dunst aufgewärmter Gemüse, aus den Zimmern den Atem zu vieler Leute und der Unredlichkeiten einer Kinderwirtschaft zusammenströmen läßt. Durch ein kleines Vorzimmer drehte sich Dieter vom verlegenen Freunde geführt, in den Wohnraum, wo gegessen, gesprochen gelernt, gelebt wurde.

Eine kleine Stube zeigte sich mit Hausrat unordentlich bestellt, mit Kleiderschränken, einem altdeutschen Büfett, dessen aufgeklebte Schnitzerei da und dort abgebrochen war, mit wackeligen, ebenfalls stilgemäßen Sesseln um den Eßtisch, deren Strohgeflecht, von eingefressenem Staub braun und grau, gelegentlich klaffte. Die enge Platte des Sekretärs am Fenster war mit Scharrers Büchern, Heften und dem Tintenzeug überhäuft. Die braunen, schwarzgemusterten Jutevorhänge mit Franzen mehrten als standesgemäßer Schmuck die traurige Düsterkeit des Raumes. Auf dem Tische lag eine Decke von der gleichen Beschaffenheit wie die Vorhänge, für die Fläche nicht ausreichend und daher querüber gebreitet, so daß ihre Ecken sich nicht mit den Tischecken deckten, sondern inmitten der Kanten gleichsam ins Bodenlose baumelten. Scharrers jüngstes Brüderlein saß auf einem Geschirr und hielt sich an einem dieser Fransenzipfel fest. Gerade als Dieter eintrat, schrie es ein Wort, das dem Besucher unvergeßlich im Ohre und nachmals zwischen den beiden Freunden sprichwörtlich blieb: »Fertig.« Aus der nebenliegenden Küche, deren Tür offen stand, eilte eine hochgewachsene, dürre Frau gerade herbei, da sie den Gast bemerkt hatte, fluchte ihr Jüngstes an und trug das zappelnde mitsamt dem Gefäß in die Küche, von wo ein langwieriges Heulen die ganze Dauer des Dieterschen Aufenthalts begleitete.

An der Fensterseite des Tisches saß der Herr Zollamtsadjunkt Scharrer zeitunglesend in einem grauen Schlafrock, welcher geöffnet ein schmutzig gelbliches Jägerhemd und unter dessen Lücken eine behaarte Brust sehen ließ. Dem eintretenden Dieter wandte er langsam seinen Blick unter den Brillengläsern zu und starrte ihn an. Er hatte ein Gesicht von unbeschreiblicher Mühseligkeit, es war gleichsam von allem Anbeginn schon alt und elend, nun durch Sorgen, Arbeit, Amtsverdruß und durch die Anstrengung der geröteten Augen doppelt verwirrt. Die gerunzelte Stirn zwang sich zu einer Strenge, die nur verdeckte Schwäche war, die grauen Augen verrieten jenes Mißtrauen der beschränkten Armut gegen alles und jedes, gegen amtliche Ereignisse, gegen sein Weib, das ihn wohl keifend beherrschte und mit seinem Gehalt nicht auskam; er war mißtrauisch gegen seine Kinder, die zuviel aßen und kosteten, mißtrauisch gegen die Zeitung, die er gleichwohl nicht um sein ganzes Frühstück drangegeben hätte, mißtrauisch gegen die Sonne, die ihn beschien, und gegen die Zeit, die ihn um ein Leben betrog, mit dem er doch nichts anzufangen wußte, mißtrauisch vor allem gegen diesen neuen Eindringling, den er unter seiner Brille musterte. Möglichst unbefangen ließ sich Dieter vorstellen. Darauf brummte der Alte: »Ihr wollt also zusammen lernen? Das wird was rechtes werden. Der Toni kann schon allein nichts. Was haben Sie für Noten gehabt?«

Nun erhöhte Dieter seine bescheidenen Leistungen, um sich als geeigneten Mitstrebenden darzustellen. Aber jeder höhere Grad, der ihn dem Scharrer überlegen zeigte, diente dem Alten dazu, dem Sohne eine besondere zeternde Mahnung zu erteilen, die immer mit »da siehst du« begann.

»Und vom Turnen soll ich den Toni dispensieren lassen. Warum nicht gar? Das Turnen ist doch gesund, in der Zeit kommt ein Lausbub wenigstens auf keine Schlechtigkeiten.«

Dieter sagte möglichst unbefangen, sein Vater habe ihn gar nicht einschreiben lassen, weil er von diesem Gegenstande nicht sehr viel halte.

»Warum hält denn der Herr Vater nichts vom Turnen?« fragte der Zollamtsadjunkt interessiert.

Nun log Dieter frischweg und mit einer Beredsamkeit, die ihn selbst anfeuerte, sein Vater sei der Meinung, daß für die Gesundheit ein bißchen Spazierengehen in frischer Luft ausreiche, während durch die übermäßige Anstrengung des Turnens der Körper allzu stark angeregt werde, so daß man nur mehr Hunger davon bekomme und zuviel esse. Seinem Vater war es natürlich nie eingefallen, die Rationen des Buben zu bemessen, und er hatte ebenso wenig für, wie gegen das Turnen irgend etwas geäußert, sondern seinem Sohn die Wahl eines Freigegenstandes frei gelassen. Dieter selbst aber befolgte den Grundsatz, der Schule keine überflüssige Minute zu opfern. Nur der rasch gewonnene Einblick in die Scharrerschen Verhältnisse gab ihm eine besondere Rücksicht auf die Kostportionen als triftigsten Grund gegen das Turnen. Dies leuchtete in der Tat dem Herrn Scharrer überraschend ein, er schüttelte nachdenklich den Kopf:

»Ja, das mit dem Hunger stimmt, der Toni kann nie genug kriegen, der Herr Vater kennt seine Leute und scheint mir ein sehr vernünftiger Mann zu sein. Wir werden sehen.« Mit diesen Worten, beschloß er wie ein König die Audienz und wandte sich wieder seiner Zeitung zu. Dieter und der Toni blieben noch ein paar Minuten ratlos, ob sie schon in Gnaden entlassen seien.

Vor dem Herrn Scharrer aber stand sein zweitjüngster Sprößling, ein etwa zweijähriger Knabe, der dem Vater während der ganzen Rede unverwandt nach dem Munde gestarrt hatte, welcher so Bedeutendes sprach.

Als Herr Scharrer sich wieder der Zeitung zuneigte, verharrte der Kleine angewurzelt und sah gierig auf den Vater, als ob ihn nach weiteren Worten hungerte. Dieser Blick zwang den Lesenden offenbar, sich nach diesem Sohne zu wenden, wiederum kehrte er sich träg und streng unter den Brillen nach der neuen stillen Störung von der andern Seite und schaute ratlos das Kind zu seinen Füßen an, dieses ihn. Keines wußte, was es wollte, der winzige Kerl blickte so alt, wie der breit dasitzende Vater und ebenso öde, bis der Erwachsene zögernd und mißtrauisch anfing:

»Was willst du? Wie schaust du denn eigentlich aus, Fritz. Du kommst mir wahrhaftig so vor, wie ein Fladen, den die Kuh zertreten hat, so ein Gefrieß hast du.«

Dabei lachte er kümmerlich und wandte sich wieder seiner Lektüre zu.

Nun wußten die beiden Gesellen, daß sie hier nicht mehr benötigt wurden. Dieter empfahl sich mit einer schönen Verbeugung und seinem gewohnten »Guten Tag« und ging, vom Toni gefolgt, rücklings zur Tür hinaus.

Unten auf der Straße begannen sie sich vor Lachen zu schütteln. Dieter rief eine Stunde lang immer wieder: »Fertig«, und Scharrer lachte mit, über und über rot im Gesichte. Aber da Dieter sein Freund war, schämte er sich der häuslichen Zustände nicht weiter, sondern erzählte, was der Kamerad wissen sollte.

Sein Vater, armer Leute Kind aus dem Innviertel, trat nach kurzem Schulbesuch in den Dienst der Finanzwache und brauchte viele Jahre, um nur die bescheidene Unterstufe eines Kanzleibeamten zu erlangen. Gleichwohl heiratete er noch draußen in der Provinz aus Liebe ein ebenso armes Mädchen, welches ihm vier Kinder gebar, von denen Toni das jüngste war. Das ist die »erste Serie« erklärte Scharrer. Zwei ältere Schwestern hatte er, die schon mannbar waren und einen Bruder, welcher zurzeit bei der Donau-Dampfschiffahrtsgesellschaft als Matrose diente. Auf diesen hielt er große Stücke, als auf einen starken, kühnen, aber strengen Burschen, der schon ein Stück Geld erspart hatte und sich fleißig hinaufarbeitete, um es zu etwas Höherem zu bringen. Eine der Schwestern lebte zu Hause, die andere erwarb irgendwo in der Welt ihr Brot.

Mit diesen vier Kindern wurde der Vater nach Wien versetzt, wo seine Frau zwei weitere Geburten überstand. Hier reichte der Gehalt nun gar nicht mehr aus. Der Mutter wuchs die anstrengende Arbeit völlig über den Kopf. Aber sie blieb ihren Kindern als eine fröhliche, ja zufriedene Frau in Erinnerung. Eine Schwindsucht, durch unbekümmertes Wäschewaschen in einem feuchten, zugigen Keller beschleunigt, raffte sie hin. Der Vater stand nun als Witwer mit sechs Kindern ratlos in Schulden und Not da. Er gab die Kleinen in Pflege, sie wurden aber für das geringe Kostgeld so schlecht gehalten, daß sie, wohl auch von dem ansteckenden Uebel der Mutter betroffen, schwer erkrankten. Die zwei jüngsten starben. Endlich wußte sich der Vater nur durch eine neue Ehe zu helfen, da er sich von einer Frau wenigstens die anständige Führung des Haushalts versprach. So heiratete er diesen Schragen, und bekam von ihr drei weitere Kinder, die »zweite Serie«. Damit ging nun das Elend von neuem an, denn diese Frau erwies sich beschränkt, zwar nicht ungut von Natur, aber herrschsüchtig, friedlos, von der Armut bedrängt und verbittert. So wurde sie zänkisch und ließ dem Vater und allen Kindern keine Ruhe. Ein ständiger Lärm, Widerbellen und Vorwürfe aller gegen alle schallten in dem kleinen Hauswesen, wo Toni lernen und fleißig sein sollte. Kein Wunder, daß es ihn hinaus in die Welt und nach einem ruhigen Freunde verlangte.

Zum ersten Male machte sich Dieter über seinen Vater Gedanken, indem er seine Familie der Scharrerschen Beamtensippschaft gegenüberstellte. Was er für sein bescheidenes Dasein benötigte, stellte der Vater ohne viel Aufhebens bei. Nun gab es aber Väter, die in Würde und im ungeflickten Schlafrock bei ihrer Zeitung saßen und den Kindern jeden Bissen vorrechneten. Was für niedrige Dienste mußten diese Beamten tun und wie verächtlich mußte ihre Arbeit eingeschätzt werden, wenn sie nicht einmal ausreichte, ihnen anständige Nahrung, Kleidung, Wohnung zu sichern. Und wie dumm mußte einer sein, einen solchen Beruf noch gar als Ehre zu betrachten.

So schauen also die Beamten aus. Dieter vergegenwärtigte sich den Staat unwillkürlich in demselbigen Bild, das er oben beim Scharrer gesehen hatte, als einen würdevollen Hungerleider, der auf einem durchlöcherten Amtssessel seinen Kindern jeden Bissen neidet und unter den Brillengläsern hervorschielt, ob jemand es vor seinem Schmutz an Respekt fehlen läßt und etwa durch ein schiefes Anschauen verrät, daß er den großartigen Familienvater für den letzten Hund hält.

Zum ersten Male erkannte Dieter, daß es jeder Mensch in der Macht hat, frei zu sein, wenn er sich nur nicht selbst an die Niedrigkeit bindet. Sein Vater war nur ein Diener. Aber niemals hatte Dieter ihn knechtisch sich betragen gesehen. Sein Vater blieb der Dieter, der er war neben jedem Hofrat und Professor, was blieb aber der Zollamtsadjunkt Scharrer, wenn man seinen Titel von ihm abzog, der seine Haut und seine Seele ausmachte.

Sein Vater war niemals zu bestimmten Stunden daheim, niemals saß er über einer Zeitung und schielte nach seines Sohnes Schularbeiten und höhnte ihn mit einem lauernden »siehst du«. Niemals konnte Dieter voraussagen, wann und ob der Vater nach Hause kommen würde. Der stand unversehens da, um ebenso lautlos wieder zu verschwinden. Der hatte daheim auch keine Zeit, einen Schlafrock anzuziehen und im Sessel hinzuhocken, indem er alle Werkzeuge des Tischlers, Schlossers, Schneiders, Schusters in Bereitschaft hatte und gebrauchte. Wenn es daheim einen Schmutz gab, so war es der gesunde richtige Schmutz der Handarbeit. Bei den Scharrers war es der Beamtenschmutz, der, wie solche Beamtenarbeit selber, ein stinkendes Produkt aus schlechter Nahrung, schlechter Leistung und schlechter Gesinnung in verwahrlosten Räumen jedem freien Menschen in die Nase stinkt, während diejenigen, die den üblen Geruch erzeugen und verbreiten, davon nicht einmal etwas merken, ja ihn gar noch für etwas Feines halten, das wie ein Wildpret von rechtswegen so duften darf. Dieter besann sich jetzt darauf, wie sein Vater ihn auch an Geld nicht notleiden ließ und obschon nicht zu empfindsamer Zärtlichkeit geneigt, vergegenwärtigte er sich doch mit einer gewissen Rührung, wie der Vater ihm solche Beträge mitzuteilen pflegte. Täglich bekam Dieter vier Kreuzer, um Brot und einen Apfel zum Gabelfrühstück zu kaufen, einmal wöchentlich, wo er wegen des Nachmittagsunterrichtes die Jause daheim versäumen mußte, zehn Kreuzer, wovon er sich mindestens die Hälfte für anderweitigen Bedarf an Indianerbüchern, Marken, Federmessern, Angeln und dergleichen ersparte. Aber der Vater wußte gar wohl, daß ein Bub manchmal ein Sechserl für dies und jenes benötigt, wovon der Vater keine Ahnung hat, noch zu haben braucht. Dann gab er ihm gelegentlich ein paar Silbermünzen, ohne jemals nach der Verwendung zu fragen. Wenn aber Dieter in besonderer Verlegenheit und bei dringlichen Anlässen sich ein Herz faßte, den Vater um Geld zu bitten, sagte dieser nicht etwa: »Wozu brauchst du denn so viel?« oder »was willst du denn wieder damit?« oder »ich bin ein armer Mann und du darfst mir nicht mit solchen Prassereien anliegen, du kommst mich ohnedies schon teuer genug zu stehen«, sondern er schüttete stets bereitwillig sein mageres Geldbeutelchen auf den Tisch, daß die Silbergulden, Zwanziger und Sechserln, Vierkreuzer und Kreuzerstücke herausrollten und klaubte alle kleine Münzen zusammen, was immer einige Mühe und Zeitaufwand verursachte. Daran mochte Dieter erkennen, daß der Vater selbst das kleine Geld nicht ohne Schwierigkeiten zustande gebracht hatte, wie er es auch jetzt sorgsam zusammenlas, und darum würde der Sohn sicherlich nichts Ueberflüssiges verlangen. Ebenso wenig sollte er aber knauserig etwa Ersparnisse anlegen oder Schätze sammeln, um sie wie ein Feuerwerk irgendwann zu unnötiger Prahlerei abzubrennen. Deshalb pflegte der Vater, wenn er gerade nur ganze oder halbe Gulden und keine kleine Münze hatte, ein solches Silberstück, eine größere, als die gewohnte Gabe mit ganz verborgenem Lächeln darzureichen.

»Kannst du vielleicht wechseln?« Das verneinte Dieter natürlich stets, wobei er nicht immer die Wahrheit sprach, aber sich aus solcher Lüge kein Gewissen zu machen brauchte, denn die Frage hatte nur eine sinnbildliche Bedeutung. In guter Laune, wenn ihm ein Geschäft geglückt war oder wenn er einem Landsmann in der Stadt hier zu etwas Rechtem verholfen hatte, beschaffte sich der Vater von der Münze Silberstücke der neuesten Prägung, die in unberührtem Glanze schimmerten und verehrte eines als Ueberraschung seinem Sohne, während er mit den anderen Zahlungen leistete, die in dieser Form besonders erfreuen sollten. Es würden auf der Welt weit bessere Werke getan, wenn man nicht jedem geschenkten Gulden auf den ganzen Weg nachsehen möchte, den er rollte Aber die Welt will gemeiniglich sehen, woher alles kommt und wohin alles geht, jeden Vogel will sie fangen und glaubt, sie brauche ihm nur Salz auf den Schwanz zu streuen, darum ist ihr auch jede Wahrheit noch beizeiten entflogen.

So hatte Dieter einen Freund und eine Freundschaft mit allen ihren Pflichten übernommen und ohne es sich gerade mit deutlichen Gedanken vorzuhalten, beabsichtigte er, den Anton Raimund Franz Scharrer ehrlich und fröhlich aus dem Gestank in die freie Luft zu führen und ihm die Schande seiner Herkunft zu benehmen.

Zuerst wollte er dem Toni Wien zeigen, denn der war noch gar nicht ordentlich herumgekommen, kannte er doch nicht einmal die Durchhäuser der innern Stadt, welche mit der Verheißung ihrer Pässe und Höfe aus einer Welt in die andere führen. Da gab es insbesondere das alte, verwickelte, angeräucherte, ineinandergewürfelte Viertel um die Kirche »Maria am Gestade«, deren zierlicher Turmhelm über die Dächer ragte, wenn man die höheren Stockwerke der benachbarten Häuser erstieg. Dabei war der wunderbare Bau wieder so in seiner Umgebung verborgen, daß man ihn immer erst finden mußte und keineswegs von allen Gassen her als Mittelpunkt von weitem sah, wie St. Stephan. Er schien mit seinen Leuten gleichsam Verstecken zu spielen und tat bescheiden, wenn man vor ihn trat, als sei an seinen Herrlichkeiten nicht sonderlich viel gelegen. Ja, diese Stadt hatte genug Schätze, um sie in tausend Winkel zu vertragen, wo man sie mühselig hervorsuchen mußte.

Doch waren diese Streifzüge wiederum keineswegs von verzückter oder sentimentaler Art, wie denn Dieter alle diese alten Dinge nur eben als solche aufsuchte, ohne sich über seine Neigung Rechenschaft zu geben, weil er sich in diesen Winkeln wohl fühlte, weil jeder Schatten ihm eine Ueberraschung oder Schrecken versprach, jede Ecke einen Ueberfall oder einen unerwarteten Anblick, weil die grauen Paläste, Höfe, Kirchen, die schmutzigen Gassen und in sich versunkenen Häuser nach unzähligen Geschichten, nach vielen Begebenheiten aussahen, wie nur ein steinaltes Gesicht die Zeichen der Weisheit als lauter wahrhaftige Märchen an der Stirne trägt, nach welchen ein Kind verlangt. Die tollen und vollen, taghell beleuchteten, menschendurchwimmelten, wagendurchächzten Straßen aber bieten und sagen nichts, als was jeder kennt und weiß und hat, nur die uralten Großmütterhäuser, Großväterkirchen erzählen Wunder, weil sie Wunder sind mit allen ihren Falten, Gewölben, runzeligen Quadern, schrulligen Umrissen und Schatten und Buckeln. Unter diesen alten Gebäuden der Bürgerschaft einer längst entschwundenen Zeit gab es besonders stille, mit eng gewundenen Stiegen und niedrigen Türen und aus tiefem Grunde höher als andere hinaufgebaut, bis zu deren oberstem Stockwerk Dieter den Toni führte. Vor einer Wohnung schellte er dann zum Entsetzen des Kameraden, der schon Reißaus nehmen wollte. Die Glocke tönte ganz unwillig, eine alte Frau oder eine zerzauste Magd öffnete und fragte nach dem Begehr.

Dieter antwortete mit dem treuherzigsten Augenaufschlag und der wohlerzogensten Höflichkeit: »Ich bitte sehr, wohnt hier nicht ein Herr Scharrer?«

»Nein, wer soll denn das sein?«

»Ein Kollege, der krank ist und den wir besuchen wollen, Anton, Raimund, Franz Scharrer.«

»Scharrer? Nein, im ganzen Hause wohnt keiner, der so heißt.«

»O danke sehr, dann muß ich mich in der Adresse geirrt haben.«

Der wirkliche Scharrer konnte das Lachen nicht verbeißen und fuhr damit heraus. Nun merkte die Frau in der Tür den Possen. Da wischten die beiden aber schon längst über die Stiege hinunter, von den lauten Schimpfreden gefolgt und freuten sich; im nächsten Hause erkundigte sich Scharrer, schon dreister nach dem Aufenthalte eines gewissen Dieter und erfand aus eigenem eine ganze Geschichte, daß er herbestellt sei, um einen Gegenstand zu übernehmen oder dergleichen, während Dieter durch sein Zeugnis die Angaben des Scharrer würdevoll bekräftigte.

Dann stiegen sie unverrichteter Dinge wieder hinab und ergötzten sich an der gelungenen Irreführung ebenso wie an der mißratenen.

Natürlich zeigte Dieter dem Toni die alte Aula mit allen ihren Herrlichkeiten. Jetzt wagte er längst schon, auch die verschlossenen Türen zu öffnen und führte den Freund vor das leuchtende Bild der Fakultäten, welches den Festsaal schmückte, wie in die hohen Beratungszimmer der Senatoren, und sie setzten sich auf die Lehnstühle vor den Kachelofen und rauchten Zigaretten. Aber das Herrlichste gab es droben auf dem Dache, wo Dieter die ganze einsame, offene, weite Welt entdeckt hatte.

An einem Frühlingstage brachte Dieter mit der ernsten Miene geheimnisvoller Strenge, den Toni zum Dachboden hinauf durch eine Falltür ins Freie.

Die große Fläche des mächtigen Gebäudes war nicht einheitlich, sondern mit mehrfachen, nebeneinander laufenden, niedrigen Schieferdreiecken gedeckt. In der Mitte erhoben sich zwei Kuppeln aus Kupferblech, das sich verschieben ließ, um der kleinen darunter liegenden Sternwarte jeweils den Anblick des gestirnten Himmels zu eröffnen. Auf eine dieser Kuppeln hinaufzukriechen bedeutete den Höhepunkt des Dachglückes im wörtlichen, wie im übertragenen Sinn, indem man an der großen Nabe dieser Halbkugel beim Sitzen sich anhaltend, weithin über die ganze Stadt sah, wie sie an dem einen Ufer der silberigen Donau im zerwühlten Gedränge ihrer Häuser sich häufte und streckte. In der Nähe schoben sich Dächer aller Art zusammen, rote, schwarze, graue und Fenster, die vom Licht getroffen, selbst einen menschlichen Blick zu haben schienen, da Menschen hinter ihnen hausten, deren Tun allen Dingen eine menschliche Seelenhaftigkeit mitteilt. Abenteuerlich ragte First an First, stieg ein Giebel über den andern, griff einer dem andern nach.

Ein hin und wiederströmender Atem schien durch diese Masse zu gehen, die in ihrer Ruhe bebte, wie ein lagerndes Tier. Der ferne Ton des Lebens, das da unten mit tausend lauten, bestimmten Geräuschen geschah, verdünnte sich hier oben zu einem leisen Summen, welches ähnlich klang wie das Surren von Insekten in einem Felde. Es war hier stiller und lauter als in einem Wald, größer und kleiner war die Welt hier, als eine Wiese. Die Gassen und Plätze verloren sich, Bezirke und Viertel waren nur an besonderen Zeichen kenntlich, die wie ausgesteckte Fahnen einen Heerhaufen vom andern unterschieden. Den Stephansturm meinte man greifen zu können mit seinem blitzenden Kreuz, und man sah die Falken um seine Spitze fliegen. In dem mächtigen, ausgebuchteten Rund der weiten silbergrauen Fläche lag die Stadt wie in einer Schale. Ferne schienen die Gebäude wie weiße Tropfen in den Feldern und an den Geländen zu verrinnen, während die Höhen den dunklen Rand bildeten. Dort wuchsen Wälder, die vom Leopoldsberg beginnend, gegen Westen sich verbreiteten, um sich in blauem Rauch der Ferne ins Unabsehbare zu verlieren. Im Süden blitzte ein Silberlicht auf, war's der Schnee oder eine weiße Wolke, die den Himmel berührte? So flogen die Blicke wie Vögel über alle Striche dieses dicht besiedelten Gefildes, fremd und vertraut, als schauten nicht Menschen, sondern Vogelaugen hinab, sättigten sich an dem Unendlichen, streiften drüber hin und nippten hier ein Schlückchen Erkennen, dort ein bißchen Lust und Rätselraten. Die beiden Knaben hingen über dem Leben einer ganzen Stadt wie zwei Lerchen über dem atmenden Busen eines Feldes und waren vom gewaltigen Hauch getragen und verweht, benommen, verwegen und trunken. Das Schauen, Sommerluft und blauer Himmel, Rauch und der ferne Lärm, der scharfe um die Ohren sausende Wind drangen über sie, die da an der Nabe einer kreisenden Erde kauerten. Gegen ihre winzigen Leiber war der Riesenkörper der Stadt wie in einem Ringen von unbekannter Gefahr und Wollust gepreßt. Endlich bezwang sie die würgende Spannung dieser Minuten und Dieter flüsterte: »Jetzt wollen wir hinunter.« Es galt nun, die Kuppel zum Dach hinabzurutschen und von da die Falltür zu gewinnen. Toni, der den Anblick dieser Höhe zum erstenmal erlebte, war nicht wie Dieter auch mit seinem angstvollen Taumel vertraut; der Trunk der Augen hatte ihm Besinnung und Gleichgewicht geraubt, er ließ die Nabe los, verlor aber die Sicherheit und kollerte die Kuppel hinab, statt zu rutschen. Entsetzt sah Dieter ihn stürzen und wußte in einem Augenblick, welcher eine Ewigkeit in sich zusammenpreßte, daß sein Freund des Todes war, wenn er unten am Dache nicht das Gleichgewicht wiederfand, sondern weiter rollte. In einer Gegenwart des Geistes, die er nachmals selber nicht begriff, fuhr er blitzschnell ihm nach und faßte ihn, der besinnungslos oben am Rande des Daches hing, bei den Haaren und hielt ihn.

Damit waren sie beide gerettet. Toni schmiegte sich aufschluchzend an seinen Kameraden und weinte unaufhaltsam. Und voll Scham verriet er, was er bisher in seiner Eitelkeit verborgen hatte.

»Ich kann nicht so herumsteigen, klettern und laufen wie du. Ich wollte dir's nur nicht sagen. Hast du es denn nicht bemerkt? Ich habe nur ein Auge. Wenn ich dir's gesagt hätte, dann hättest du mich ausgelacht. Aber jetzt weißt du's, ich kann ja nichts dafür.«

Und damit faßte er unter sein linkes Augenlid und nahm ein blaues, gut gearbeitetes Glasauge aus seiner Höhle, die darunter leer und schaurig drohte.

Dieter, der wohl noch nie von sollen Gebrechen gewußt und darum auch den starren Ausdruck dieses unbeweglichen linken Auges bisher nicht wahrgenommen hatte, schlug ihm. rasch besonnen, aber unter Tränen in seinen zwei gesunden Augen auf die Schulter: »Du siehst darum auf einem Aug' für zwei und mehr als ich, denn ich hab bis heute nicht einmal dich ordentlich angeschaut.«

Der Toni hatte dieses Auge eingebüßt, als er nach dem Tod seiner Mutter bei der bösen Pflegerin erkrankte. Dies und anderes Erbteil von Leid und Elend machte sein junges Leben kurz, heiß, stürmisch und schwer und würgte es vor der Zeit hin, die sonst einem Menschen vergönnt ist.

Sie gingen dann still und bedrückt über die hohe Stiege der Aula hinab und wanderten zur Landstraße und sprachen nichts. Als sie Abschied nahmen, schenkte der Toni dem Dieter die einzige Kostbarkeit, welche er besaß, eine Zigarettenbüchse aus schwarzlackiertem Holz, auf welcher ein rumänischer Krieger abgebildet war, der kühn auf einen besiegten Türken trat und seines Landes Fahne schwenkte. Er hatte diese Dose von seinem Bruder, dem Matrosen bekommen und gab mit ihr das Schönste, was er besaß, dem Freunde, der nun alles von ihm wußte.

Dieters Blick hatte heute über der bewohnten Erde gehangen und war in den leeren Abgrund niedergetaucht. Es gehörte die Kraft der Jugend dazu, sich aus solchen Tiefen des Grauens wieder aufzuschwingen, die Federn zu schütteln, die eben sich im Strom des Elends und Verderbens benetzt hatten und wiederum von neuem die munteren hohen Flüge zu beginnen.


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