Otto Stoessl
Morgenrot
Otto Stoessl

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X.

Das Herz von seinem Geheimnis selig erfüllt, ging Dieter in die Schule. Er hatte nichts gelernt, aber der Talisman des »Taugenichts« mußte ihn beschützen. War diese Geschichte wahr und ihr Dichter wirklich ein Mächtiger der Welt, dann konnte seinem Jünger nichts arges widerfahren. Kaum hatte Dieter das Schulzimmer betreten, so schlug schon die Glocke zum Beginn, und es blieb ihm keine Zeit mehr, dem Toni irgendeine Andeutung über das Erlebte zukommen zu lassen, denn gleich bestieg der geistliche Herr das Podium und begann zu prüfen. Dieter witterte ein Examen seiner religiösen Kenntnisse in der Luft, zog das betreffende Blatt aus dem Lehrbuche der Kirchengeschichte hervor und heftete es an des Toni bereitwilligen Rücken, da schneuzte sich auch schon der würdige Hauskaplan Seiner erzbischöflichen Gnaden, päpstliche Kämmerer und Religionsprofessor in sein rotes Taschentuch und rief: »Dieter. Was wissen Sie von dem Vierfürsten Herodes?«

Der Taugenichts stand auf und las mit so freier Betonung und kundiger Wortumstellung die Geschichte des Judentetrarchen von seiner geheimen Vorlage ab, daß der geistliche Herr mit Befriedigung baldigst abwinkte und ein »Vorzüglich« in seinem Büchlein auf Dieters Habenseite eintrug.

Die nächste Stunde brachte »Naturgeschichte«. Der Lehrer dieses Faches war ein eitler Mann, der nach langer Mühe den Titel eines Regierungsrates erhalten hatte. An dem Tage, wo diese Auszeichnung in der Zeitung veröffentlicht worden war, zeigte ein Mitschüler auf, um eine gewisse Erlaubnis zu erbitten. »Was wollen Sie?« »Bitte hinaus, Herr Professor.« Der wandte ihm darauf geringschätzig den Rücken und sagte: »Das versteh ich nicht.« Der verlegene Schüler zeigte wiederum dringlicher auf, wußte aber auf die erneute Frage nach seinem Begehr nichts anderes zu antworten, als: »Bitte hinaus, Herr Professor.« Da belehrte ihn der Naturforscher: »Fortan habt Ihr zu sagen: bitte hinaus, Herr Regierungsrat, denn so heiße ich.«

Dieter merkte sich diesen Titelstolz gar wohl und benützte ihn als Menschenkenner zur Förderung seiner durch Studien nicht eben befestigten naturwissenschaftlichen Stellung.

Heute erfragte der Lehrer die Eigenschaften des Doppelspats, wobei er sich just an Dieter wandte, dessen Schicksalstag nun einmal war. Der Geprüfte kannte und schilderte die Tugend des Minerals, einfache Schrift zweifach wiederzugeben. »Können Sie wohl auf der Tafel ein Wort so hinzeichnen, wie es unter dem Kristall erscheint?« »Jawohl,« versetzte Dieter und malte die ineinandergreifenden Zeichen des Wortes »Regierungsrat«, welche die Würde des Professors gleichsam strahlend verdoppelten. Man kann sich denken, wie hochbefriedigt der also Gefeierte diese sinnige Huldigung entgegennahm. Wieder belohnte ein »Vorzüglich« den weltmännischen Eifer unseres Taugenichts, und also hatte das Buch wirklich seine glückbringende Kraft erwiesen. Als es zwölf läutete, rannte Dieter dem Toni nach und sprach ihn an:

»Das Rad an meines Vaters Mühle brauste und rauschte schon wieder recht lustig, der Schnee tröpfelte emsig vom Dache, die Sperlinge zwitscherten und tummelten sich dazwischen; ich saß auf der Türschwelle und wischte mir den Schlaf aus den Augen; mir war so recht wohl in dem warmen Sonnenscheine.«

Toni machte verwunderte Augen und wußte nicht, was der närrische Dieter eigentlich meinte.

»Was heißt das?«

»Das heißt: Aus dem Leben eines Taugenichts, Novelle von Joseph Freiherr von Eichendorff und ist schöner, als alles, was es sonst auf der Welt zu lesen gibt, verstanden?«

Toni schüttelte den Kopf: »Du weißt immer lauter verrücktes Zeug.« Dieter schlug ihm erbost das Schulpackel auf die Schultern und lief davon.

Nun litt es den Toni nicht, ihn entkommen zu lassen, und er verfolgte ihn atemlos zur Brücke, wo Dieter ihn trotzig und doch das Herz übervoll erwartete. »Geh, gib mir das Büchel.«

»Nein, das behalt' ich, bis ich es auswendig kann, und wer ein Taugenichts sein will, muß es aufsagen können, wie ich.«

»So schieb' dir's meinetwegen in deinen Brotladen«, brummte Toni unwillig. Nun tat es Dieter wieder leid, daß der Freund dieses Wunderbuch entbehren sollte, und er gab es ihm doch, ließ sich aber mit feierlichem Ehrenworte versprechen, daß der Toni es am Nachmittage zurückbringen werde. Der nahm es hastig an sich, vergaß den gewohnten Abschiedssalut und Schulterschlag und stelzte, die erste Seite aufgeschlagen, und gleich mit dem Lesen beginnend, davon.

Als sie wieder beisammen waren, schwatzten sie von diesem Taugenichts und schaukelten wie zwei jauchzende Sperlinge auf dem grünen Zweige dieser Geschichte.

Seitdem ging es in ihren Gesprächen, auf ihren Spaziergängen hoch her, denn nun wußten sie, was sie taten, ihr ganzes Leben überhaupt nach dem Standesbewußtsein und der Moral des Taugenichts einzurichten, wodurch es manche Strenge, aber auch eine gewisse Glorie der Nichtswürdigkeit bekam. Aber auch gewisse Gaben des romantischen Landstreichers schienen unerläßlich, namentlich die Musik als ständige Begleitung aller Unternehmungen. Der Toni war, weiß Gott woher, ein tüchtiger Geiger und spielte, wenn zu Hause das öde Treiben sich am ärgsten anließ, auf einem billigen, braunen Instrumente die süßesten wienerischen Gesänge und Tänze. Hatte er bisher schon seine Geige sehr ängstlich und mit Liebe betreut, so wußte er sie jetzt mit einem von seiner Schwester erbettelten blauen Seidenbande zu schmücken, das er an den Hals des Instrumentes hing, wodurch es gelegentlich zur Laute erhoben war. Dietern war freilich bisher gar keine Musik gegeben, er konnte zwar mit einiger Gewandtheit pfeifen, aber schon zu singen und seine eigene Stimme laut werden zu lassen, hielt ihn eine eigentümliche Scham ab. Gleichwohl lebte in ihm mit der Menge der Empfindungen und dem Bedürfnis seines gesunden Körpers nach Bewegung, eine innerste Musik, die nun durch das Beispiel des Eichendorffschen Helden in ihrem Drange bestärkt, auch nach Ton und Klang und lauter Fülle verlangte. Nun wußte er, wenn er daheim von diesem Wunsche etwas hören ließe, würde der Vater ohne Zweifel einen Unterricht ausfindig machen. Aber etwa Geige oder das verhaßte Klavierspiel bei einem Lehrer zu lernen, wäre nur eine traurige Schulsache mehr gewesen und hätte den musikalischen Trieb ein für allemal unleidlich gemacht. Er versuchte verschiedenes, zum Beispiel die Maultrommel, auf welcher aber doch nur ein gewisses verschwommenes, nebelhaftes Summen gelang, oder die Mundharmonika, genannt »Fotzhobel«. Auf ihr kam wieder nur ein zirpender, hochziehender, und selbst bei mehrstimmigem Satze eintöniger Gesang heraus. Endlich tat er einen guten Fund. Daheim in der Küche führten Stufen zu dem hohen Fenster, das auf den Universitätsplatz sah, und in diese Stufen hatte der Vater, den Raum sorglich ausnützend, etliche Laden einbauen lassen, in denen vielerlei Brauchbares oder Vergessenes aufgehoben lag. In einer solchen entdeckte Dieter eine großmächtige Ziehharmonika, und siehe da, obgleich schon seit manchem Jahr unbenützt und vom Vater irgendwo um ein Spottgeld erstanden, erwies sie sich noch als ganz brauchbar: Leder, Klappen und Balg waren in ziemlicher Ordnung. Dieter setzte sich abends auf den Gang vor den Fenstern und fingerte so lange herum, bis er durch die Handgriffe und das gleichzeitige Pressen und Auftun des Balges den eigentümlichen tiefen Ton herausbrachte und wehmütige Akkordfolgen so langsam greifen konnte, wie eine bescheidene Kunst und das Bedürfnis nach melancholischer Stimmung es vermochten. Er glaubte dabei etwa das summende, halbgedämpfte Spiel einer Orgel aus einer Landkirche zu vernehmen, vor welcher er unter Bäumen auf einem Steingeländer des angrenzenden Friedhofes sinnend saß, während ringsum die Sommersonne glänzte und drin Gottesdienst gehalten wurde. Oder er vergegenwärtigte sich den Abend vor dem gräflichen Schlosse, die letzten lichten Wolken zogen in den goldenen Westen, während im Osten schon die kühle Nacht blaß und mit ersten Sternen erschien und die hohen Linden im Park leise rauschten.

Unter dem Schutze des heiligen Eichendorff hielt er sich in der Schule ziemlich wacker. Man darf nicht vergessen: wenn einer geregelt lernt, täglich seine Aufgaben getreulich niederschreibt, in den Lehrstunden genau dem Vortrage folgt, hat er's leicht, als Schüler zu bestehen, aber ein Taugenichts muß ein weit schwierigeres Problem bewältigen: nämlich gegen alle diese Pflichten verstoßend, gleichwohl zu siegen. Ohne eine Zeile gelernt zu haben, durch Einsagen und Abschreiben, durch Ergreifen jeder Gelegenheit des Betruges eine gute Note zu erobern, macht weit mehr Mühe, kostet mehr Zeit und Klugheit, als der öde geregelte Fleiß, verursacht aber auch ein höheres Wohlgefühl.

Die Tugend eines ehrbaren Schülers erlebte in seiner eigenen Klasse eine Niederlage, von welcher Dieter den besten Nutzen zog. Irgendeinmal kommt gerade der beste in Versuchung und gleich faßt ihn der Teufel, der eben nach den Gerechten, als nach den besten Bissen greift, während er die Sünder ruhig sich ihrer Ruchlosigkeit erfreuen läßt, solange sie nur mögen. In der ersten Bank saß der Primus, ein sauber gekleidetes, wie aus dem Schächtelchen geholtes Knäblein, Sohn eines Advokaten, immer gut vorbereitet, gehorsam, aufgeweckt, aber vor jedem Unfug wie vor einem Straßendreck ängstlich ausweichend. Darum wußte Dieter wirklich nichts mit ihm anzufangen.

Eines Tages meldete der »Kroat«, Dieters einstiger Gefährte beim Kooperator Eidherr, er wisse von diesem Braven etwas Ungeheuerliches und bekreuzte sich dabei; der Primus habe nämlich über die heilige Maria etwas Schändliches gesagt. Dieter machte sich jedenfalls über die Bedeutung des Wortes nur unklare Vorstellungen, daß es aber eine Ehrenbeleidigung war, blieb gewiß. Der Kroat warf als eifriger Katholik die Frage auf, ob man den Primus anzeigen solle. Dieter, dem die Sache nicht so nahe ging, und dem es überhaupt widerstrebte, die Schulmeister in die Sachen der Schüler einzuweihen, entschied, man müsse zunächst den Primus fragen, ob er derlei wirklich behauptet habe. Und er ging auch gleich zu ihm, schaute ihn gerad an und stellte ihn zur Rede.

Der Arme war ganz verdonnert, erblaßte, fuhr auf seiner Bank hin und her und antwortete gar nichts, sondern zog in seiner Bestürzung, einen hochnotpeinlichen Prozeß, schimpfliche Ausstoßung aus allen Gymnasien Oesterreichs und weitere Entehrung bis ins späteste Greisenalter fürchtend, ein Sechserl aus der Tasche und händigte es Dieter ein, welcher von dem unerwarteten Erfolg der Untersuchung überrascht und befriedigt war. Der Primus hatte allerdings mit diesem Schweiggelde das schnöde Wort eingestanden, aber sich dadurch auch in Dieters Schutz begeben. Ein Hilfeflehender und zugleich Mächtiger durfte nicht verraten werden. Darum gebot Dieter dem Kroaten heiligstes Stillschweigen. Eine Weile hielt der es auch. Aber bald erwachte in ihm, sei es die beleidigte Frömmigkeit, sei es der Neid auf den Primus, sei es der Wunsch, selber eine Bestechung zu erhalten, und er trat grimmig vor den Geängstigten: »Was hast du damals gesagt?«

»Nichts«, stammelte der. Eben wollte der Kroat dem Armen die Beleidigung auf den Kopf zusagen, sah ihm schon dicht ins Auge, als Dieter dazwischen trat, den Drohenden beim Kragen packte und zur Seite warf: »Laß ihn in Ruh, gar nichts hat er gesagt.« Der Befreite gab noch manchesmal ein Sechserl aus gequältem Herzen. Und Dieter hatte mit dem Kroaten noch manchesmal ein Handgemenge zu bestehen, bis die leidige Sache vergessen war. Aber seither durfte er vom Primus alle Hausarbeiten abschreiben und jeden gelehrten Dienst beanspruchen. Eine andere Einkommensquelle ergab sich daraus, daß ihm ein rechtschaffen unfähiger Bursch, der bereits zum zweiten Male an dem Griechischen der Tertia würgte, ein Sechserl wöchentlich versprach, wenn Dieter alle Uebersetzungen aus der ungeheuerlichen Sprache ihm sorgfältig für das häusliche Einbüffeln nachschreibe. Dieter tat natürlich für das gute Geld, was er um seiner selbst willen nie getan hätte, er paßte auf und lieferte die genauesten Protokolle. So fand er sich selbst mit diesem Gegenstande ab, an welchem sonst all seine Gewandtheit zuschanden geworden wäre, denn wie konnte man wohl mit einer Sprache zurecht kommen, die sich gleich mehrerer Aoriste erfreute. Da nun das geheimnisvolle Schmähwort des Primus einmal angeklungen war, besprach Dieter mit dem Toni oftmals diesen Ausdruck und Toni wußte, welche Frauenzimmer damit bezeichnet wurden. In den Gassen, wo solche Erscheinungen geputzt über das Pflaster fegten, stießen die Buben einander flüsternd an, wenn eine der üppigen Gestalten, in Seide rauschend, unter einer Duftwolke, die Hüften wiegend und das Haupt mit dem großen Hut neigend, an ihnen vorbeisegelte. Dieter begriff unter dem argen Worte fürwahr keinen Schimpf, sondern nur die Ahnung von etwas Geheimnisvollem, ja Großartigem, wie auch der Putz und die aufgedonnerte Schönheit, welche in einem betäubenden Geruche einherging, ihm vornehm und merkwürdig erschien. Einmal sahen sie abends in ein ebenerdiges Fenster, wo eine solche Person in einem roten Schlafrocke breit auf einem Kissen auslag mit vollem, üppigem Munde lächelnd, hinter ihr leuchtete im Zimmer eine Ampel auf ein gelbes Sofa. Auch hier schlug derselbe beklemmende, von schwerem Parfüm und Zigarettenrauch gemischte Duft heraus, so daß die Einbildung dem Knaben ein morgenländisches Wunder und eine nur um schweres Geld zu erlangende, großartige Erfahrung verkündete, welche sich in solcher Gestalt und Ausstaffierung verkörpert, unerreichbar darstellte. Diese Frauen standen ihm mit den Prinzessinnen auf einer Stufe der traumhaften Entrücktheit und lächelnden Darbietung.

Wiederum erschien das Zeugnis, wiederum des Vaters einfache Frage: bist du durchgekommen?« und Dieters Bejahung; wiederum warf der Vater nur einen Blick auf das Dokument, ohne sich über die bescheidenen, aber eben genügenden Noten irgendwie auszulassen, und wiederum fragte der Alte: »Nun, wohin willst du heuer auf Ferien gehen?«

Dieter wählte des Vaters Heimat, die er nun als reiferes Studentlein allein besuchen und von Grund aus kennen lernen wollte. So wurde es auch beschlossen. Der Toni aber blieb, wie jedes Jahr, auch heuer in Wien, wo er den Sommer teils in der öden Stube, teils auf einsamen Spaziergängen verbrachte. Die Nachmittage und Abende verbummelte er im Prater, indem er vor den Kaffeehäusern die Regimentsmusik genoß und unter dem Gewimmel der Spaziergänger in der Hauptallee langweilig und gelangweilt einherstrich.

Der Dieter machte sich aber mit einem schweren Bündel auf den Weg, welches außer seinen Habseligkeiten noch als Geschenke ein Kilogramm Feigenkaffee und ein schweres Stück lignum sanctum enthielt. Aus diesem tropischen dunkelgelben und schwarz durchwachsenen Holze sollte der Tischlervetter Sephe einen schweren Hobel als Meisterstück und festliches Handwerksgerät sich selbst anfertigen, wogegen er das überschüssige Material zu schönen Griffen für etliche Wirtschaftsmesser zu verschnitzen hätte.

Dieter fuhr zunächst bis Brünn, wo er am Morgen ankam und einen Tag und eine Nacht zur Besichtigung bestimmte. Das schwere Gepäck ließ er auf dem Bahnhofe und nahm nur eine schmale Pappschachtel unter den Arm, welche alle für ein Uebernachten nötigen Gegenstände enthielt. Und zwar: ein Kerzenstümpfchen, Zündhölzer, zwei Sacktücher und ein Handtuch, eine Zahnbürste, ein Stückchen Seife zum Waschen und eines zum Fleckputzen. Die Taschentücher wurden nicht eigentlich zum Gebrauche, sondern sozusagen für alle Fälle mitgenommen, denn das wirklich notwendige trug man ohnedies bei sich und wusch es am Abend am Brunnen aus, ließ es über Nacht trocknen, oder hing es am Morgen als Fahne an den Stecken, bis es wieder gebrauchsfähig war. Die zwei andern dienten also einerseits zu einem gewissen gesteigerten Selbstgefühl und eben für besondere Ereignisse, man konnte verwundet werden und einen Verband benötigen, oder in Gefangenschaft geraten und sie in Streifen zerschneiden, aneinanderbinden und sich dann zum Fenster hinablassen, oder plötzlich bei Nasenbluten, einem sagenhaften Uebel, das Dietern noch nie passiert war, verwenden. Kurz, die ganze Ausrüstung war für das Außerordentliche bestimmt. Die Fleckseife aber kam einer geheiligten Familientradition halber in die Pappschachtel. An jedem Sonn- oder Feiertage, bevor man sich zu einem Ausgang anschickte, wurde daheim ein allgemeines Familienfleckputzen abgehalten, da diese wunderbare Seife alle bösen Spuren aus den Kleiderstoffen tilgte. Beim »schwarzen Hund« auf dem hohen Markte, jenem berühmten Drogenladen, welcher Dieters Geruchsträume zum erstenmal auf seiner Reise von der Marktgasse nach der Aula begeistert hatte, durfte der Knabe oft genug dieses Arkanum einkaufen, und bevor er seine Sommerreise antrat, fragte der Vater allemal, ob er die Fleckseife nicht vergessen habe. Als Dieter mit der besagten Pappschachtel unter dem linken Arm und mit seinem Ziegenhainer in der Rechten aus dem Bahnhof auf den freien Platz trat, sah er unmittelbar vor sich eine böhmische Schuhputzerin neben ihrem Schemel unter Bürsten und Wichse sitzen, die in ihm den einzigen städtischen Ankömmling als »gnädigen Herrn« demütig begrüßte und ihre Dienste anbot. Weil Dieter sich das ganze Jahr selber die Schuhe säubern mußte, gefiel es ihm gar wohl, dies als gnädiger Herr zum erstenmal von einer andern, dazu bestellten Person besorgen zu lassen. Für eine solche Freude wollte er immerhin zwei Kreuzer opfern, setzte also den Fuß auf den Schemel, und die Alte fuhr und wischte über seine Stiefel, daß sie bald wie zwei Spiegel glänzten. Als sie fertig war, fragte Dieter nach der Schuldigkeit und vernahm erstaunt und bestürzt, daß die Arbeit mit zehn Kreuzern bewertet wurde. Demütig opferte er diesen Betrag und lernte, daß solche Leistungen in der Tat nur gnädigen Herrn gebührten.

Auf einer modischen belebten Gasse stieg er dann zum Krautmarkt hinan, einem von lauter alten, anmutigen Häusern umstellten Platz, in der Mitte von einem merkwürdigen Grottenbrunnen geziert, um welchen Höckerinnen Gemüse, Geflügel, Blumen, Eßwaren aller Art mit böhmischen und deutschen Rufen ausboten, während sich die Mägde und Hausfrauen um die einzelnen Stände drängten. Verhutzelte alte Weiblein in bunten Kopftüchern kauerten vor einer mit einem Brett gedeckten Butte. Auf diesem simpeln Bord lagen Mehlspeisen, »Wuchteln« mit Topfen oder Leckwar gefüllt und Birnen. Besonders diese wurden immer wieder mit einem lockenden oder wehmütigen, lauten und getragenen, oder bittenden Ruf »Hruschky, Hruschky« ausgeboten. Da war er also mitten im gemischten Lande, wo Tschechen und Deutsche untereinander hausten, stritten und durch das Leben zusammengehalten wurden. Die Läden und Schilder führten zumeist die deutschen Namen der Tuchfabrikanten und Kaufleute, der Anwälte, Notare und Handelsbeflissenen, die etwas unternahmen, ordneten und fertige Dinge weiterreichten, so daß das ganze Land gleichsam von ihrem vielgliedrigen ringsausgreifenden Strom umfaßt schien; die Tschechen aber waren Bauern, welche auf den Aeckern saßen und die Erde um und umgruben, daß sie die reiche Feldfrucht ernteten und das Obst, die »Hruschky«. Sie waren das Volk der Mehlspeisen und der Birnen, zahlreich, eng beisammen, eine geschlossene, fest aneinanderhockende Schar von Bodendienern, die keine Ordnung weiter brauchten, als die unwandelbaren Gebote der Landwirtschaft. Der Deutsche als Wandersmann und kriegerischer Unternehmer, als beherrschender Geist und mit ausgreifender Hand höhere Gesetze erstellend, mochte mit diesen auf der Scholle Brütenden wohl in den ewigen Kampf der entgegengesetzten Triebe geraten, die einander in zwei grundfremden Sprachen anschrieen, das Deutsche war hell und lauter wie das strömende Wasser, das Tschechische klang dumpf, drohend, schmeichlerisch, kindisch und wieder buntlockend wie der Ruf von Leuten, die Schollen werfen, Furchen graben, den Pflug führen, dreschen, mähen und beim Heuen unter farbigen Sommerblumen jauchzen. Das Deutsche wuchs unterm Wandern wie die wallende Quelle, das Tschechische unterm Spaten wie die einförmige, aber anschwellende Saat. Das Deutsche war die Muttersprache reisiger, niemals befriedigter, in alle Weite flutender, das Tschechische die Muttersprache dicht nebeneinanderhockender, am Felde haftender, zusammenkauernder und im Gewühl wachsender Menschen.

Brünn schien in der Tat eine recht passende Reisestadt für einen Knaben, denn es bot seine Sehenswürdigkeiten bescheiden und klar geordnet dem Blicke dar, ohne viel Bildung zu verlangen. Man konnte alles an einem Tage bequem zusammenfassen. Da gab es ein altes, vielgängiges Rathaus, in dessen Hof schön gewölbte Lauben ringsum wandelten. Unter der Toreinfahrt hingen zwei kuriose Altertümer, deren Geschichte Dieter aus seinem mitgenommenen wohlfeilen Reiseführer entnahm: ein Rad und ein lackiertes, stark aufgeblasenes Krokodil. Das Rad war einstmals von einem Schmiedegesellen aus Nikolsburg als Meisterstück angefertigt worden, der sich vermessen hatte, es an einem Tage zusammenzufügen, den eisernen Reifen darum zu schmieden und das Fertige bis nach Brünn zu rollen. Da es richtig am Abend in diese Stadt einlief, hing man es zu bleibendem Gedächtnis im Rathause auf. Auch das Gegenstück, das Krokodil, schien bemerkenswert und ein würdiges Andenken, indem vor manchen hundert Jahren ein Brünner Kaufmann weite Reisen in die fernsten Länder unternommen hatte, von welchen er dieses, damals in ganz Europa unbekannte Tier, nach seiner Vaterstadt, freilich als toten Balg brachte und als Geschenk widmete. Dann gab es noch den »Schreibwald« zu sehen, nach den Worten des Führers einen »Brünner Prater«, den Dieter zu seiner gründlichen Enttäuschung besuchte, denn er fand in einem uninteressanten Gehölz nur zwei oder drei Schießbuden und ein paar dürftige Holztische, an welchen er ein Glas Bier und ein bescheidenes Mittagsbrot genoß. Die Sehenswürdigkeiten des Rades und Krokodils, aber auch diesen unwürdigen Betrug, den Schreibwald für einen Prater auszugeben, gedachte Dieter in seinem einstigen großen geographischen Werke zu verewigen. Er trug sich nämlich mit dem Plane, eine umfassende Erdkunde zu schreiben, wenn er wirklich die ganze Welt besucht haben würde. Der Titel sollte lauten »Alle Geographie des gesammten Erdballs«, und der Anfang stand schon fest, er galt Wien, als dem Mittelpunkte des Dieterschen Globus: »Wien ist die Hauptstadt von ganz Oesterreich und liegt nicht, wie es überall heißt, an der Donau, sondern an der Wien. Die Donau ist ein Hauptstrom von verschiedener Farbe, blau habe ich sie noch nie gesehen. Die Stadt ist von mancherlei Nationalitäten bewohnt, hauptsächlich von Deutschen, wozu auch der Schreiber gehört.«

Da nun der Nachmittag gekommen war, galt es ein Quartier zu suchen und Dieter suchte unter den Gasthöfen, welche sein Reiseführer aufzählte, den entsprechenden. Einen Erzherzog Johann, ein Hotel Continental, Imperial, Europa, Bristol oder dergleichen schloß er von vornherein aus, dagegen dünkten ihm Tiernamen passend, denn die wohnlichen und bescheidenen bürgerlichen Einkehrhäuser führen immer irgendeinen solchen, einen »braunen Hirsch« oder »schwarzen Bären« oder einen »Adler«. Doch mußte man auch hier auf die schmückenden Beiwörter acht haben, denn der Zusatz silbern oder golden verlangte Silber oder Gold vom wohlhabenden Besucher, hingegen deutete ein bescheidenes braun oder schwarz, weiß oder blau auf gebräuchlichere Farben und erschwingliche Kosten. Schließlich überließ er die Wahl des Quartiers dem Zufall, der ihm beim Spaziergang das richtige entgegenführen würde. Mit gutem Bedacht entfernte er sich von der vornehmen Stadtmitte, schlug den Weg nach dem freien Lande ein und traf an einer Straßenkreuzung, gerade dort, wo die Bürger und Bauern vom Markte kommend oder nach dem Markt ziehend ihre Wagen einstellen mochten, ein behagliches, breites Einkehrgasthaus »zum blauen Löwen«, welcher in aufrechter Gestalt, aus Eisen geschmiedet, mit gesträubtem, ausschwingendem Schwanze inmitten eines vielfältig ornamentierten ehernen Kranzes über dem Tore baumelte. In der Wirtsstube qualmten böhmische Bauern und Fuhrleute, und Dieter fragte den Hausknecht in dieser Sprache, ob er hier ein Nachtquartier bekommen könne. Wohl, aber nur für Geld, hieß es. Dieter nickte »ja«, denn es schien ihm zuerst selbstverständlich, daß er für sein Bett etwas zahlen mußte. Gleich aber befiel ihn Reue, wie schön und vielleicht nicht unmöglich wäre es gewesen, umsonst ein Lager zu finden!

Ueber eine Holzstiege wurde er in einen niederen, saalgroßen Raum geführt, in welchem sechs frischbezogene, reinliche Betten standen. Heute war noch niemand anders angemeldet als er, und für dreißig Kreuzer gehörte die ganze Stube eine Nacht lang ihm allein. Als die Magd ihn verlassen hatte, leuchtete Dieter mit der Kerze rund herum, unter alle Betten, in alle Winkel der Stube. Da gab es einen Waschkasten, einen Schrank, welchen er öffnete, es war niemand drin verborgen, einen Kleiderständer mit gedrechselten Huthältern, einen runden Tisch und außer der Gangtür noch eine zu einem Nebenzimmer. Vorsichtig führte Dieter ein Zündholz in ihr Schlüsselloch und erkannte, daß außen kein Schlüssel steckte, gleichwohl war die Tür versperrt. Nun konnten allenfalls daneben Räuber hausen, man mußte sich vorsehen. Daher rückte er vor diese Tür den mächtigen Tisch, welcher im Notfalle als Schild zu gebrauchen war. Unter den sechs Betten wählte er das dem Eingange nächste, entkleidete sich hurtig, legte die Pappschachtel auf den Stuhl vor seinem Lager, rückte den Kleiderständer in Reichweite, um ihn als Waffe zur Hand zu haben, sein Federmesser kam geöffnet unter das Kopfkissen, und er wickelte sich in das mit den guten tschechischen Gänsefedern reichlich gefüllte Deckbett, denn wenn ein Feuer ausbräche, oder Wegelagerer einstürmten, gedachte er in dieser schützenden weichen Hülle zum Fenster hinabzuspringen. Er löschte das Licht. Draußen ruhte die dunkle Nacht, der blaue Löwe knurrte und klapperte grausam im Winde, aber als Dieter im Federbett schwitzte, schlief er wie in einem warmen Neste, aller Gefahren, Räuber und Notwehrträume vergessend, in den hellen Morgen hinein. Die heiterste Sommersonne brannte in den Saal und weckte den Abenteurer, der hurtig aus dem Bette sprang und die sogenannte Reisewaschung vornahm, indem er nach Reinigung von Gesicht und Händen, die Waden und Unterschenkel mit kaltem Wasser bis zur Kniehöhle abrieb, was die Kraft zum Fußgehen bedeutend stärkt. Die Schuhe fand er geputzt vor der Tür stehen. Rasch war er in den Kleidern, und nach einer Sitte, die er ohne zu wissen warum, immer getreulich beobachtete, nahm er von der Stube Abschied, indem er den Hut abzog, sich nach allen Ecken verbeugte und rücklings hinausging. So empfahl er sich auch daheim täglich von seinem schönen Bibliothekzimmer; wenn er es aber für längere Zeit verließ, pflegte er noch leise mit der Hand über die Reihen der ledergebundenen Bücher liebkosend zu streichen. Nun fuhr er, wiederum in den Abend und in die Nacht hinein, seinem Gebirge zu, welches er mit dem frühen Morgen erreichen wollte, wo der reine Tag über Höhen und Wäldern zu erglänzen beginnt, während das einförmige böhmische, ebene oder hügelige Land in Nacht und Nebel und Gestern zurücktaucht.

Zu Wildenschwert, wo er umsteigen mußte, kam er dann etwa um zwei Uhr morgens an, noch schimmerten alle Sterne am Himmel und auf dem Bahnhofe wimmelte es von Leuten, die ringsum in die nahen Orte reisten und hier bis zum Anschluß rasteten. In der Restauration ging es ganz lebhaft zu, mit überwachten Gesichtern, welche die Müdigkeit in schlafloser Bahnfahrt bekämpft hatten, saßen Männer und Weiber an den Tischen unter einer großen, dürftig brennenden Petroleumlampe und wärmten sich an einem dünnen Kaffee. Die tschechischen Kleinbürgerinnen faßten die Kipfel, hier wurden sie schon mit dem alten deutschen Ausdruck »Hörnla« genannt, zierlich in die Hand und ließen den kleinen Finger dabei hochschweben, was als Feinheit und Lebensart anzusehen war. Draußen im Freien aber, auf dem Bahnsteig sah Dieter vertraute, ärmliche Gestalten, welche das Frühstück sparten und auf- und abgingen, einen Sack auf dem Rücken oder sorgsam eingewickelte Bauerngeräte, Sensen und Rechen wie Waffen in der Hand. Sie trugen eigentümliche, dunkelfarbene Wollkappen auf dem Kopf und Wämser und die meisten anstatt der Stiefel Holzpantinen. Etliche waren glattrasiert und hatten schlichtes, bis zu den Schultern fallendes Haar, das unter den Mützen hervorsah, andere strichen mächtige, rote Rübezahlbärte. Schweigsam aber schienen alle und wandelten ohne lautes Gespräch paarweis einher oder standen in demütigen Gruppen beisammen. Das waren Bauern aus seinem Gebirge; Dieter erkannte sie gleich als die frommen Landsgenossen seines Vaters und als wunderliche Reisläufer des Ackerbaues, die sich, wie weiland die Schweizer zum Kriegsdienst, zur friedlichen Feldarbeit verdingten. Denn ihre eigenen Saaten gingen da droben in der nördlichen, windigen und spätbesonnten Landschaft erst am Ende des Juli oder anfangs August so recht auf, während unten in Böhmen und bis tief hinab vor den Toren Wiens im Marchfeld die Ernte weit früher reifte. Drum trugen sie ihre Armut, die winterlang über dem Webstuhl gebeugt werkte, im Frühjahr in die Gegenden, welche Taglöhner und fleißige Arme mieteten. Da bestellten sie das fremde, fruchtbare Land und kehrten von der fremden, reicheren Ernte müde heim, um die dürftigere, eigene zu besorgen. Hier stand nun ein erstes frühes Trüpplein solcher rückkehrender Bauern. Die blanken Sensen und die hölzernen Rechen, mit Sackleinen wohl umwunden, waren dergestalt vergleichsweise besser gekleidet und angesehen, als die Träger. Sense, Rechen und Webstuhl genossen, als die höchsten Güter dieser armen Leute, eine fast gottesdienstliche Fürsorge, Pflege und Liebe.

Der Zug traf ein und Dieter bestieg diese »südnorddeutsche Verbindungsbahn«, deren Anfangsbuchstaben S. N. D. V. B. von den mit den umwohnenden Tschechen im Streit liegenden Deutschen so umgedeutet werden: »Schau nach Deutschland, verfluchter Böhm.« Binnen kurzem hatte er jenes Städtlein erreicht, von wo die Post in die Höhe der Heimat ging. Dieser Ort bestand aus einem großen Platze, auf welchem drei ansehnliche Adler von Schildern drohten: der des Bezirksgerichtes, der Bezirkshauptmannschaft und der Post. Vor diesen Sinnbildern der Macht hatten die Bauern meist so viel Angst, daß sie sich ungern in ihre Nähe begaben. Nur wenn sie einen Streit hatten, Steuern zahlen oder eine unangenehme Militärsache austragen mußten, wanderten sie in diesen Herrschaftsort und waren froh, wenn sie ihm wieder den Rücken kehren konnten. Die Post mit einem Gasthause vereinigt, lag noch in der Morgenstille einsam da. Der Schalter war geschlossen, die alte Kutsche wies mit der Deichsel noch in den Hof. Ein Hahn krähte in der Ferne, um an den beginnenden Tag unbescheiden zu erinnern. Dieter wusch sich an einem sprudelnden Brunnen und wartete dann, bis zwei Klepper angeschirrt waren und das Wägelchen herausgeführt wurde; der Schwager bestieg den Bock, Dieter nahm auf dem dürftig gepolsterten Innensitz einen Platz ein und versuchte vergeblich, die niedere Klapptür zuzuschlagen, welche immer wieder aufging, weil sie auf ihrem Rechte bestand, von dem letzten Passagier zugehalten zu werden.

Endlich holperte der Wagen davon und schallte wie eine Staatsaffäre durch die Gassen, deren Pflaster seinen Unwillen über die Störung des guten Morgenschlafes durch ein scheltendes Hallen kundgab. Draußen auf der beschotterten Landstraße begann das Rütteln und Schütteln.

Eben schnaufte das Fahrzeug eine Anhöhe hinan, von wo das Städtchen zum ersten oder letzten Male erschien, als ein junger Mensch scheltend den Kutscher anrief, wo er denn so lange geblieben und ob er sich nicht fahrplanmäßig sputen könne. Das war wohl so der Brauch bei den blinden Passagieren. Drauf schwang sich der Ankömmling im Fahren auf den Innensitz, Dietern gegenüber und sah ihn freundlich an, als erwarte er seine Zustimmung zur Schimpfrede. Dieter besichtigte den Jägersmann aufmerksam, denn etwas dergleichen stellte der Fahrgast wohl vor mit seinem grauen Lodenanzuge, den großen Hirschhornknöpfen an der Joppe, den grünen Borten an der Hose, dem gleichfarbenen Hütlein, an welchem eine Feder kühn in die Höhe zeigte und mit dem goldenen Eichenlaubgestick am grünen Kragen. Der Bursche mochte in den zwanziger Jahren stehen, ein noch zausiger und flaumiger, aber schon recht lang geratener Bart wehte ihm um die Wangen und die blauen Augen lachten, so daß sie dem gesprochenen Zorn gleich allen Ernst und Aerger nahmen. Auf der Post hier im Lande fährt wohl nicht häufig ein wildfremder, und dieser unbekannte städtische Passagier machte den Forstjüngling neugierig, so daß er auf seinem Sitze mehr, als gerade durch das Rütteln bedingt war, wetzte, bis er endlich ein Gespräch vom Zaune brach. »Was sind doch die »Bihmscha« – damit waren die Tschechen gemeint – »für ein faules Ludervolk, da schauen Sie bloß die Wiesen an, allesamt sauer und nicht zu brauchen, weil die Kerle keine anständige Dränage machen.« Und dann schimpfte er auf dies und auf das, immer höchst fachmännisch, bis er endlich sagte, er komme geradewegs aus der Forstschule zu Eisenach heim nach dem Oberdorfe, um bei seinen Eltern auf dem Hofe ein bißchen nachzuschauen. Nun war dieser Hof just der, wohin Dieter fuhr, Eigentum der Familie Reinmar, entfernt Verschwägerter, bei denen sein Vater ihn diesmal für einen kurzen Sommeraufenthalt eingemietet hatte. So gab sich denn auch Dieter zu erkennen; der Forstmann machte ein großes Begrüßungshallo, bot ihm die Hand und versprach seinem Gaste allerhand Belehrung. Zunächst wollten sie einmal eine anständige Gesteinsammlung anlegen, ob Dieter wisse, was das sei. Beileibe keine Mineralienkollektion, wo man dies und jenes bunte Stück Kristall, Achat, Schwefelkies oder Blende zusammenbringe. Derlei bedeute nur ungefähr den eingesprengten Schmuck der Erde, der da und dort im Geröll verborgen sitze, das Gestein aber mache das eigentliche Knochen-, Muskel- und Nervengerüst, den Riesenkörper selber aus, verschieden angeordnet, über- und ineinander geschichtet, da und dort aufgewühlt und getürmt, eingesunken oder zerdehnt, jedes in seiner Weise notwendig, sei es als Blutader, als Bein, als festes Fleisch, oder als zähes, zusammenhaltendes Fasergeflecht. Erst wenn man die geheimnisvolle Lagerung der Gesteine eines Landes kenne, wisse man die Bedingungen des Wachstums für alles Lebendige auf einem Boden, die Tiefe der Tonschichten und des fruchtbaren Humus, welcher über dem Härteren ruhe, die Ursprünge der Quellen, die Bewegungsrichtungen aller Hügel und Täler und wie sie zur lenkenden Kraft der Tiefe, zur strahlenden des Lichtes oben sich neigten und also einer Notwendigkeit dienten, welche wiederum den Menschen hervorbrachte, den Wald und Acker und des Menschen gegebenes Schicksal mit dem Ungefähr seines Willens und seiner Arbeit zu jenem Schein von Werk, Freiheit, Friede und Kampf verbinden, der sich auf dem festen Gestein ungefähr so klein und bedeutend abspiele, wie das Treiben von Maden auf dem Käse. Diese Auseinandersetzungen kamen keineswegs gelehrt, sondern halb wie das Aufsagen eines wohlverstandenen Schulpensums, halb wie das eigene, interessierte und frische Bekenntnis eines wissensfreudigen Menschen heraus, den es danach gelüstet, im offenen Feld die Lehren der Bücher auf ihre Wahrheit zu prüfen. Dieter fühlte sich durch das Gespräch zwar, wie es wohl auch vom andern bezweckt war, einigermaßen gedemütigt, denn das Wissen an sich flößte ihm leidigen Respekt ein, aber er lehnte als im Sommer und auf Ferien jede Absicht, ihn mit Studien zu behelligen, im stillen entschlossen ab. Gesteinsammlung, das bedeutete Prüfungen und Untersuchungen aller Art, von denen er jetzt schon gar nichts hielt. Daher tat er wiederum äußerst angeregt und setzte die kundigste Miene auf, dachte aber bei sich: »Bleib' du bei deinen Steinen.« Der andere zeigte gleich auch auf die Landstraße: »Da siehst du,« er fiel als Sommergenosse und Geistesverwandter des Besuchers gleich ins Brüderliche, als in eine bequeme Hausjoppe des täglichen Umgangs – »Da siehst du den Stein glänzen und in lauter Blättchen gespalten, das ist unser Glimmer, der macht unseren Hauptboden aus.«

Das Schimmern konnte auch dem Dieter gefallen, und nun begann die Allee von Ebereschenbäumen rechts und links an der Straße hinaufzuwandern. Diese schlanken Stämme mit dem zarten Laub wurden erst dort gepflanzt und gepflegt, wo die Deutschen siedelten, welche auf ihren Arbeitswegen gern unter einem lieblichen Grün gehen, wenn es auch weiter keinen besonderen Nutzen bedeutet. Der durchsichtige Baumschlag gab Schatten, ohne allzuviel von der kostbaren Sonne zu nehmen, die hier spät über die Höhe kam und früh im Herbst hinter Wolken und Berge tauchte. Die roten Früchte aber glänzten erst im Winter auf und boten den Krammetsvögeln Futter, welche man schoß, oder mit Drahtschlingen fing, je nachdem die Jagd erlaubt oder verboten betrieben wurde. Endlich hielt die Kutsche wiederum auf einem großen Hauptplatze, im »Stadtla«, welches Dieter schon von seiner ersten Reise her kannte, nun aber genauer und kundiger in Augenschein nahm.


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