Otto Stoessl
Morgenrot
Otto Stoessl

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XII.

Fortan wandelten sie wieder gemeinsam, zigarettenrauchend und schweigend, oder mit irgendwelchen Possen beschäftigt, die meist vom Toni ausgeheckt wurden, dem die tollsten Ideen durch den Kopf gingen. Wenn er irgendeinen neuen Einfall hatte, pflegte er zu befehlen: »Du mußt der oder der sein, oder den oder den vorstellen, ich bin der oder der«, und dann waren sie auch gleich, was sie spielten: Dieter etwa ein steirischer Gebirgstrottel, der zum erstenmal nach Wien auf Besuch kam, Toni, sein Vetter, der ihn als Weltmann durch die Stadt führte und mit gebildeten Erklärungen traktierte. Mit seiner Kenntnis des Landbewohners bewunderte Dieter nicht das Was, sondern das Wie der Fremde, vor allem die erstaunlichen Verhältnisse ringsum, dann die ungeheure Menge und Größe des allenthalben verwendeten Glases, denn daheim kannte er doch bei den Hütten nur kleine Fensterlucken, nicht viel umfangreicher als sein Schädel. Toni wieder übersetzte jedes metrische Höhenmaß für das leichtere Verständnis des Aelplers in Klafter und führte den erstaunten Gast vor den Stefansturm, ein Gotteshausungeheuer, das um so leidenschaftlicher gewürdigt wurde, als es nach der fachlichen Erläuterung innen genau sechs Klafter mehr maß, als außen. Um die beiden rotteten sich sofort freundliche und teilnehmende Leute, wie sich in Wien zu jedem Zeitvertreib eine Schar zusammenfindet, steht, schaut, lauscht, mitredet und eine Stunde totschlägt. Ein ehrbarer Bürgersmann war sogar bereit, für die Belehrung des biederen Steirers das Eintrittsgeld zur Besteigung des Turmes aus Eigenem zu bestreiten und erhoffte sich vom gelehrten Toni auf der Höhe die ausgiebigste Erklärung der großartigen Rundsicht. Sie kletterten auch über die enge Stiege anfangs zu dritt ganz ehrbar hinan, allmählich blieb aber der beleibte und atemschwere Gönner zurück, während die beiden immer lustiger drei Treppen auf einmal nahmen, gut eine Viertelstunde vor dem Spender oben waren, den weiten Ausblick im Flug genossen, belachten und merkten, dann aber gleich hinabstürmten, ohne den Spießer abzuwarten, an welchem sie im Hui vorbeirannten. Unten auf der Straße lachten sie ihn weidlich aus, der nun vermutlich oben allein stand, Atem schöpfte, gaffte und mit der ganzen Aussicht wahrscheinlich ebensowenig anzufangen wußte, wie mit sich selbst. Ist doch ein Philister in ganzer Figur nichts als unnütz hinausgeworfenes Kleingeld zur Besichtigung der schönen Welt.

Ein andermal wieder »mußten« Dieter und Toni zwei Leute aus dem alten Wien sein, die über die Glacis und Basteien wandelten, oder durch die alten »Gässen«. Nach der Verabredung schlossen sie vor jedem neuen Hause die Augen und öffneten sie erst vor jedem alten und glaubten ihre Zeitgenossen in Schnallenschuhen, mit Perücken oder weißbestäubten Zöpflein ein- und ausgehen zu sehen, Sänften glitten an ihnen vorüber, Läufer mit befiederten Hauben meldeten wie im Fluge das Nahen einer gräflichen oder prinzlichen Durchlaucht oder Hoheit, anstatt der Werkelmänner spielten Dudelsackpfeifer in den Höfen und auf schweren Federn rollten mächtige verglaste Karossen mit Haiducken auf dem Kutschbock und hinteren Trittbrett durch die alte Burg, hielten beim Schweizertor, Lakaien sprangen herbei und halfen einer kleinen erzherzoglichen Person, die in einer weiten Reifrockglorie aus dem Wagen sprang, nicht ohne den beiden Kavalieren, denn nun »mußten« Dieter und Toni wieder Kavaliere sein, einen lustigen Blick aus blauen Augen, wie ein Büschel »Veigerl«, zuzuwerfen.

Für den Dieter kam der arge Versucher alles Lebens. Er wollte eines Morgens sich eben zum Schulwege fertig machen und trank, neben dem Vater stehend, seine Frühstücksmilch. Er hörte nur noch, wie aus der Weite: »Warum bist du so blaß, Buba?« und dann schwand ihm die Besinnung. Er erwachte, vom Vater gehalten, als dieser fragte: »Ja was ist denn mit dir?« Doch wußte er darauf keine Antwort. Die gab der mittlerweile eingetroffene Arzt, er müsse sogleich ins Spital. Dieter, der Junge, war ganz zufrieden mit der Aussicht, einmal auch so etwas kennen zu lernen, und sein Vater führte ihn zu einem bereitstehenden »Einspänner«, wobei er ihn halb trug, trotzdem Dieter versicherte, er sei wieder ganz wohlauf und könne gehen, wie er nur wolle. Dann kamen sie in das große »allgemeine Krankenhaus«, wo man in der Aufnahmskanzlei nach sehr flüchtiger Untersuchung erklärte, man hätte schon genug Vorrat solcher Krankheiten und für einen neuen Patienten dieser Gattung augenblicklich keinen Bedarf. So ging die Reise von neuem an, diesmal nach einem Spital auf der Wieden, wo der Vater Dieter einen bekannten Kanzlisten hatte, der seinem Sohne die sonst sehr fragliche Aufnahme durch das österreichische Schand-Auskunfts- und Allheilmittel der Protektion schon verschaffen würde. Der Vater empfahl den Sohn eindringlich der besten Obhut und versprach nachzusehen, wie es mit ihm stehe. Dann mußte Dieter seine Kleider ausziehen und in ein Bündel verschnürt hinterlegen, worauf er mit einem Leinenkittel und Filzschuhen angetan, in einen großen, weißen Saal geführt wurde. Gehorsam spazierte er zu seinem Lager, welches in der Mitte des Raumes, dem Fenster gegenüber stand, durch welches man auf die dünn belaubten Bäume des Gartens sah. Und gleich mußte er sich niederlegen, obwohl er weder müde war, noch irgendeinen Schmerz verspürte. Nur Hunger hatte er, dem aber konnte er nicht abhelfen, denn die Frühstückszeit war bereits vorüber, und da gab es nicht einmal eine Semmel. Daß er im Bestechungswege alle Eßherrlichkeiten des nächsten »Greißlers« hätte erwerben können, wußte Dieter noch nicht und vergnügte sich auch einmal daran, zu erproben, was es eigentlich mit dem Hunger auf sich habe.

Im Saale herrschte ziemliche Ruhe, einige Kranke unterhielten sich leise, andere lagen seufzend da, nur sein Nebenmann schien ihm unheimlich, denn er lehnte im Bette hoch und starr mit geschlossenen Augen an der Wand, als ein Unbeweglicher. Dazwischen kam und ging eine junge Krankenschwester mit liebem Gesicht und guten, törichten Augen, sie trug ihre blaue Tracht und weiße Schürze nicht ohne gefallsamen Anstand. Dazwischen ging und kam ein wechselndes sogenanntes Personal, ein Diener, um welchen ein verdächtiger Spirituosengeruch schwebte, eine Waschfrau und der und jener.

Etwa um elf Uhr vormittags begann ein merkwürdiges Flüstern, Hin- und Herschießen, Ordnung machen, Reinigen, wobei das Wort »Visite« immer geheimnisvoll und ängstlich verlautete. Die Ordnung bestand vor allem darin, daß die Kranken verbotene Eßwaren versteckten und etwa einander unterrichteten, wie sie sich möglichst unschuldig dem Herrn Primarius gegenüber zu benehmen hätten. Der schritt dann alle Betten der Reihe nach ab, bis er, von einer ernsthaften, an seinem Munde hängenden Schar junger Aerzte gefolgt, vor Dieter haltmachte und ihn vorn und hinten abhorchte, beklopfte, betastete, mit lauter merkwürdigen Fragen belästigte, ob das oder das wehtue, wobei er bald den Bauch, bald die Leber, den Rücken oder die Herzgrube inständig drückte, um ihnen den erforderlichen Schmerz zu entlocken. Leider konnte Dieter aber damit nicht dienen und auf die immer strengere Frage, ob es weh tue, nur antworten: »Nein, weh tut's nicht, es ist aber unangenehm.« Dann hielt der Primarius einen lateinischen Vortrag, dessen wichtigste grammatische Verstöße Dieter dank seiner Bildung genau merkte, schließlich fiel das Wort »Blinddarm«. Der Vortragende verordnete zu sofortigem Gebrauch eine Pille, und wenn die nicht wirke, ein »Klysma«, welcher unbekannte Heilvorgang Dieters Neugierde reizte, so daß er beschloß, die Wirkungslosigkeit der Pille dadurch herbeizuführen, daß er sie nicht einnahm. Nach Verordnung unbedingter Ruhe entfernte sich der Primarius mit seinem Anhang. Dieter bekam die Pille und verwarf sie. Dann schrieb er an Toni einen Brief, welcher so endigte: »Komm bald, denn lange mach' ich's nicht mehr, höchstens noch fünfzig Jahre«. Aber diesen Brief mußte er sehr verstohlen abfassen und versorgen, denn jede Korrespondenz war streng untersagt. Dann lag er still und schaute auf die Kranken, auf die Gartenbäume und langweilte sich, bis ihm ein unverhoffter Besuch eine gewisse Zerstreuung brachte, indem zwei junge Aerzte an sein Bett traten, welche sich, wie sie sagten, für seinen Fall interessierten. Der eine war ein hoher, blonder Mensch, der andere ein kleiner schwarzer von der mosaischen Richtung der Medizin. Die beiden nahmen bei ihm Platz und begannen vorerst ihn auszufragen. Der Blonde um seinen Namen und Beruf, um seine Meinung über seine Krankheit und um allgemeinere Dinge, während der Schwarze ihn abzutasten und zu behorchen anfing, wie er es dem Primarius abgeluchst hatte. Sie legten ihm ein Thermometer unter die Achselhöhle und besahen es mit Staunen, sie maßen seinen Bauch und vernahmen ein merkwürdiges Glucken innen. Der Blonde fragte Dietern, ob er es auch gehört habe. Der bejahte, es habe so geklungen wie das Ausgießen des Wassers aus einem engen Flaschenhalse. Davon zeigte sich der Blonde befriedigt, weil das Symptom stimmte. Dann begannen die beiden wieder ein wichtiges lateinisches Gespräch, aus welchem Dieter abermals über lauter Sprachfehlern den Inhalt verlor. Der Blonde erwiderte jede Behauptung des Schwarzen mit einem gleichmütigen » quod non est«, aber gleicherweise vergalt auch der Schwarze jede Behauptung des Blonden mit einem etwas stärkeren » quod non est«. Schließlich wandten sich die beiden an Dieter, als an den berufensten Schiedsrichter:

»Nicht wahr, Sie haben doch Fieber?«

»Was ist denn das?« fragte Dieter, der noch nie einen solchen Zustand gespürt hatte.

»Sehen Sie,« erklärte der Blonde, »der Primarius behauptet, wer fragt, was Fieber ist, kann keines haben, denn hätte er's, so wüßte er auch, was das Wort besagt. Nun hat der Primarius sich über Ihren Fall auch geäußert, Sie hätten Fieber. Sie aber fragen, was Fieber ist, also . . .« Damit hielt er besorgt inne und fühlte, wie die Zweifel ringsum seine ganze Wissenschaft und Diagnose verdunkelten. »Ach, Unsinn,« erklärte der Schwarze, »er hat Fieber,« worauf sie von neuem lateinisch diskutierten und einander immer wütendere » quod non est« an den Kopf warfen. Dabei blieben sie immerzu an seinem Bette sitzen und fingen immer wieder an, ihn zu behorchen, zu beklopfen und zu befragen, bis dem Dieter der Spaß allzuarg wurde, und er ihnen den Rücken kehrte: »Jetzt ist's genug, id est ich will Ruhe haben.« Da erhoben sie sich, noch immer streitend und noch an der Tür ging der Schwarze mit einem » quod non est, was die Leute für Geschichten machen!« voraus.

Da Dieter bis zum Abend begreiflicherweise keine Wirkung der Pille verspürt hatte, belehrte ihn die Krankenschwester über die Bedeutung des sogenannten »Klysma«, was ihm zu einiger Beschämung gereichte. Er verabfolgte es sich aber selbst und wahrscheinlich mit ähnlicher Absicht, wie die Pille, denn er hielt sich nicht für krank, sondern fühlte sich bloß geärgert und gestört.

Am Abend gab es eine gewisse Erregung, Stöhnen, Seufzen und unruhiges Herumschwätzen der Kranken in ihren Betten, so daß Dieter lange nicht einschlafen konnte, bis die Schwester selbst müde zu ihm kam und sei es von ungefähr, sei es im unwissenden Gefühl eines verlassenen jungen Frauenwesens, das blonde Haupt neben das seine legte, so daß sie auf einem Kissen ruhten. Sie sprachen ein bißchen miteinander, und die Pflegerin redete von allerhand kleinen Dingen ihres Lebens, denn sie dachte als junges Geschöpf von rechtswegen lieber an sich, als an ihn, das gefiel ihm, er behagte sich in der unschuldigen Vertraulichkeit dieser armen Person und entschlief ruhig.

Frühmorgens erwachend, fand er freilich den Platz neben seinem Kissen leer, dafür rumorte der Diener heftig, stellte eine spanische Wand vor Dieters Bett auf, durch welche ihm der eigentümlich starre, rückgelehnte Nachbar sollte entzogen werden. Als aber eine Tragbahre hereingebracht wurde, der Diener seine noch rauchende Pfeife in den Kittelsack steckte und an dem Lager nebenan geräuschvoll zu hantieren begann, wußte Dieter, der stille Nachbar sei in dieser Nacht in aller Ruhe gestorben. Eingewickelt brachten sie ihn davon, dann bezog man das Bett des Verstorbenen mit frischen Linnen, und am selben Vormittag lag schon ein neuer Kranker darin. Jetzt wurde es Dietern ungemütlich. Er verlangte, aufzustehen und spazierenzugehen, denn er sann auf Flucht, aber man lachte über seinen Wunsch. Vielfältige Pläne heckte er aus, wie er entkommen wollte. Aber er hatte ja keine Kleider, das Spital war von hohen Mauern umgeben, wie sollte er sie übersteigen, selbst wenn er unbemerkt aus dem Saal entschlüpfte. Wenn wenigstens der Toni gekommen wäre, mit welchem er eine Verschwörung hätte verabreden können. Aber niemand war da, so knirschte man allein in der Gefangenschaft.

Bei der Visite machte der Primarius ein ernstes Gesicht, besonders als ihm die Pflegerin berichtete, »es sei noch nichts gewesen«, er klopfte, horchte, fragte, erklärte der Corona den bedenklichen Fall, verabreichte selber dem Patienten eine Pille, machte von ihrer Wirkung das Weitere abhängig und ließ das Wort fallen: »Morgen werden wir wahrscheinlich eine Punktierung machen müssen.«

Zeitig am Abend erschien zu Dieters großer Ueberraschung ein bleicher Geistlicher bei ihm, um ihm zuzusprechen, wie er sagte. Dieter, der auf diese Herren seit seinen letzten Erfahrungen nur mit einigem Mißtrauen blickte, war sehr erstaunt und unwillig. Aber der fromme Mann ließ sich nicht beirren, sondern fuhr fort: Gewiß sei Dieter ja noch recht jung und werde sicherlich mit Gottes Hilfe genesen, aber ein braver Christenmensch müsse doch in ernster Zeit seinem Schöpfer Rechenschaft ablegen und Verzeihung für alle seine Sünden erlangen.

Dieter antwortete, er wisse von Sünden nichts, er habe auf der Welt wohl keinem sonderlich Böses angetan und abzubitten und brauche daher von niemand Verzeihung zu erlangen.

»Nicht so, mein Sohn,« schmeichelte der Geistliche, »es gibt auch verschwiegene, innere Sünden, die der Tat nicht bedürfen, um zu wachsen wie das Unkraut, Gott der Herr sieht auch diese unsichtbaren Vergehen und richtet sie und verlangt Abbitte und Reue für alle Schuld. Darum hat unsere heilige Kirche die wohltätige Entlastung des bedrückten Gewissens durch die Beichte geschaffen und zur Pflicht gemacht. Denn wir armen sündigen Menschen können nicht wissen, wann wir ins Jenseits abgerufen werden, wir müssen auf alles gefaßt, vorbereitet sein, vor den Richterstuhl des Ewigen zu treten, darum will ich dir jetzt die Beichte abnehmen, auf daß du unschuldig wie ein neugeborenes Kindlein den Spruch Gottes gewärtigen könnest.«

Etwas geschäftsmäßiger fragte er weiter: »Wann haben Sie zuletzt gebeichtet?«

»Schon lange nicht.«

»Wann denn das letztemal?«

»Im Gymnasium, vor zwei Jahren vielleicht.«

»Vielleicht!« bekreuzigte sich der Geistliche.

»Seitdem ich nicht mehr muß, habe ich nicht mehr gebeichtet,« trotzte Dieter.

»Gott verzeih dir die Sünde, armer, verirrter Mensch.«

Ohne sich durch den verstockten Freigeist abschrecken zu lassen, befahl der Geistliche Dietern die Beichtformel nachzusagen: »Ich armer, sündiger Mensch beichte und bekenne Gott dem Allmächtigen und Ihnen, Priester, anstatt Gottes, daß ich seit meiner letzten Beichte, welche vor zwei Jahren geschehen ist, oft und vielmals gesündiget habe.«

Als der Fragende fortfuhr: »Insbesondere aber gebe ich mich folgender Sünden schuldig,« weigerte sich Dieter, irgendeine aufzusagen. So mußte der Beichtiger ihm jedes Vergehen abfragen. Er hatte keine anderen Götter neben dem einzigen gehabt und hatte den Sonntag geheiligt, wie alle anderen Tage der Woche, so weit ihm das letztere möglich gewesen, Vater und Mutter hatte er geehrt, auch niemand getötet.

»Das sechste Gebot können Sie sich ersparen.«

»Also rein und keusch,« sprach der Geistliche mit lächelnder Befriedigung. Stehlen und falsches Zeugnis entfiel auch, blieb das Gelüsten nach des Nächsten Hausfrau. Dieter verneinte: »Ich wohne in der ethnographischen Gesellschaft, da gibt's keine.«

So schloß die Beichte und der Priester versprach, nachdem er Dietern eingeschärft, keine Speise mehr zu sich zu nehmen, um für den Leib des Herrn bereit zu sein, frühmorgens ihm die heilige Wegzehrung zu bringen und ging.

Zu Beginn der Nacht erschien Dieters Vater, merklich verstört und seine Angst mit bestürzter Freundlichkeit verbergend. Man hatte ihm, wie es üblich ist, einen andeutenden Brief geschickt, der Zustand seines Sohnes sei besorgniserregend, und er möchte bald kommen, um ihn jedenfalls noch sprechen zu können.

Da war er nun und fragte: »Ja, was ist denn mit dir mein Buba, hast du denn Schmerzen, geht's dir schlecht, aber du schaust ja ganz wohl aus, was machen sie denn für einen Unsinn mit dir?«

Dieter lachte: »Mir fehlt ja nichts, ich weiß nicht, was sie von mir wollen, gerade war ein Geistlicher da und ich habe beichten müssen.«

»Das auch noch, hast du denn wollen?«

»Nein, aber er hat mich nicht ausgelassen.«

»Nun, das mag mit dreingehen, das wird dir nicht geschadet haben, man kann solche Bräuche schon einhalten, du weißt ja, was ich davon denke, wenn's der Kaiser tut, können wir's auch, aber das Wichtigste ist, was mit dir geschieht.«

»Sie haben was davon geredet, daß ich morgen soll punktiert werden. Was ist denn das?«

»Oho,« fuhr der Alte auf, »ich will ihnen was punktieren, da muß ich auch noch gefragt werden. Du bleibst jetzt ganz ruhig. Ich komme in der Früh wieder. Sie werden dich bei Nacht hoffentlich ungeschoren lassen. Sollten sie aber mit dir was Ernstliches vornehmen wollen, so sagst du, dein Vater erlaubt es nicht, und du auch nicht und läßt sie nichts anfangen, hörst du! Ich renne mittlerweile gleich zu meinem Freund, dem Perser-Kohn, du kennst ja den Doktor, damit er kommt und dich untersucht, der versteht seine Sache besser, als diese vertrackten Spitalsherren, sag' nur niemand was davon, insbesondere verrat ihnen nicht, daß er ein Arzt ist, er soll dich wie ein gewöhnlicher Gast besuchen. Dafür, daß man ihn einläßt, will ich schon sorgen, und jetzt schlaf gut, Buba, morgen ist auch noch ein Tag.« Damit schüttelte er seinem Sohne die Hand, wie diesem dünkte, etwas länger und stärker, als sonst, wobei er seinen Kopf abwandte. Und gleich war er bei der Tür draußen.

Es verging nicht mehr als eine Stunde, bis der Perser-Kohn eintrat. Das war ein merkwürdiger Mann, auch eines der interessanten Mitglieder der ethnographischen Gesellschaft, welcher dem Diener des Vereins Freundschaft und Teilnahme angedeihen und sich nicht zweimal bitten ließ, wenn es eine dringliche Hilfe galt. Er war als Arzt lange Jahre in der Welt herumgekommen und hatte als Leibmedikus des Schah von Persien zu Teheran eine geehrte Dienstzeit verbracht, bis er sich mit schönem Vermögen, ansehnlichen Titeln und Orden nach Wien zurückzog, wo er, mehr zum Vergnügen, als um des Gelderwerbs willen, in der Leopoldstadt eine ausgedehnte Praxis betrieb, die er vorzüglich armen Glaubensgenossen angedeihen ließ. Dieter kannte ihn schon vom Ansehen und hatte über das eigentümliche hurtige und heitere Wesen des alten Mannes immer lächeln müssen, jetzt tat er's mit wehmütiger Beruhigung, als der Perser-Kohn, so geheißen nach seiner teheranischen Vergangenheit, breit in der Tür erschien. Säbelbeinig watschelte er, ohne sich umzusehen, auf Dieters Bett zu und wußte ohne Fingerzeig, wo sein Schützling hause. Beim Gehen, Stehen, Sitzen, was immer er tat, ob er sprach, oder schwieg, zuhörte oder fragte, verrichtete er eine nur ihm eigene nervöse Bewegung, indem er unaufhörlich mit den Fingern seiner beiden Hände klimperte, wie beim Spielen an einem unsichtbaren Klavier.

Also mit den beiden Händen klimpernd, setzte er sich zu dem Patienten, fragte kurz nach dessen Befinden und etwaigen Symptomen, klimpernd befühlte er zart die Schläfen Dieters, klimpernd griff er sacht unter die Decke an den Leib, fingerte ein wenig daran herum und sprach, seine Stimme dämpfend: »Nun, nun, ganz in Ordnung sind wir ja nicht, aber viel hat die Sache nicht auf sich. Punktieren, Unsinn! Diese Schwachköpfe, wir werden schon mit ihnen reden. Aber das geht dich nichts an, mein Sohn. Operieren, da wären sie gleich dabei, weil sie einen aufschneiden müssen, um zu sehen, was drin ist. Der Perser-Kohn braucht das nicht. Morgen kommst du zu deinem Vater nach Haus. Aber sprich nicht davon. Ich will schon dafür sorgen, so wahr ich der Perser-Kohn bin. Du bist ganz gut gestellt und wirst gesund und so Gott will, länger leben, als diese Aufschneider. Ich wollte, ich wäre so ordentlich beisammen wie du, Blinddärme haben wir alle, was für Faxen! Schlaf gut.« Und schon stand er auf und wackelte auf den Zehenspitzen, daß seine Schuhe knarrten, mit den Fingern klimpernd, welche Dietern nun eine hörbar angenehme Musik zu spielen schienen, wie ein leiser Schutzgeist, von der Pflegerin mit staunenden Blicken verfolgt, aus dem Saale hinaus.

Dieter schlief ein und wurde spät, schon beim grauenden Morgen durch das Licht einer Kerze geweckt, die der Geistliche über ihn hielt, der ihm die Kommunion reichen wollte. Dieter blinzelte nur eine Sekunde lang und warf sich dann auf die andere Seite und tat, als ob er schliefe. Der Geistliche berührte ihn leise an der Schulter, aber Dieter atmete tief und heuchelte Schlummer. Der Mann beriet sich dann mit der Pflegerin, welche sagte, ihr sei aufgetragen worden, den Kranken nicht wecken zu lassen. Da mußte der Priester kopfschüttelnd unverrichteter Dinge abziehen. Dieter freute sich darüber und entschlief nun wirklich.

Etliche Stunden nachher erschien der Primarius, diesmal allein, befingerte, beklopfte und behorchte sein Opfer und machte auf einmal ein freundliches Gesicht, nun sei die Krisis doch glücklich überstanden, die Operation erspart, und wenn Dieter sich brav halte, dürfe er am nächsten Tage, freilich mit aller Vorsicht zu seinem Vater nach Hause zurückkehren.

»Aha, du Schlankel,« dachte der Patient, »hat dich der Perser-Kohn belehrt, wo sind deine Herren Schüler? quod non, mein Bester!«

Und tags darauf fuhr er mit seinem Vater in einem Einspänner als Befreiter in die Aula zurück. Der Perser-Kohn hatte aber geboten, er müsse sich ihm sofort vorstellen, um sich nun sachgemäß behandeln zu lassen. So besuchte ihn Dieter gleich, noch ohne gegessen zu haben, in seiner Wohnung auf der Praterstraße. Da saß der Perser-Kohn nach türkischer Weise, die beiden Säbelbeine unter dem Leib gekreuzt, auf einem breiten Lehnstuhle vor dem Schreibtisch, dessen Papiere, Eprouvettegläschen, Werkzeuge, so angeordnet waren, daß er sie bequem erreichen konnte. Dieter vermochte sich jedoch der Vorstellung nicht zu erwehren, der Perser-Kohn müsse wie ein Gummiball auf den Tisch schnellen, um zu fassen, was er von dort benötige. An des Sitzenden Seite stand seine würdige Gemahlin, eine alte, fromme Jüdin, sie hatte kurz geschorenes Haar, über welchem eine sorgfältig gescheitelte Perücke bis zu den Ohren und zum Genicke so ruhte, daß darunter an den Rändern der kahle Kopf hervorsah. Sie hielt einen Silberlöffel in der Hand und zwar an der Kelle, damit der Griff zum Indiezungestecken und Indenhalsschauen frei bleibe und reichte dieses wichtigste Werkzeug der Untersuchung ihrem Gemahl, der zuerst Dieters Rachen besah, dann ihn splitternackt sich ausziehen ließ. »Meine Frau hat schon so etwas gesehen, Sie brauchen sich nicht zu schämen.« Hierauf beklimperte er den ganzen Körper des Jungen, horchte, tastete, klopfte und fragte, ohne heftig zu drücken oder gespannt besondere Vorzeichen abzuverlangen, dann ließ er ihn sich wieder ankleiden und begann seine Verordnung.

»Ihr Vater, mein Lieber, ist doch wirklich ein grundgescheiter, braver Mann, er scheint Sie recht gut erzogen zu haben, denn Sie gefallen mir wohl, zu allem Notwendigen hat er Sie angehalten, zur Religion, Gott sei dank nicht, wie ich mit Befriedigung konstatiere, aber das wichtigste hat er vergessen, eine geregelte Verdauung, ohne welche die beste Erziehung nur einen stumpfen Menschen hinterläßt. Ein pünktlicher Stuhlgang, mein Lieber, ist die einzige Bürgschaft des Erfolges, der Begabung, des Reichtums und Glückes.« Nun machte er dem Dieter eingehende Vorschriften zur Erzielung dieser schönsten Eigenschaften und ließ sich das Ehrenwort geben, daß sie genau sollten befolgt werden.

Der Patient handelte nach den Weisungen des Perser-Kohn und gewann bald mit der wichtigsten Eigenschaft die volle Gesundheit und Laune, so daß sein Blinddarm sich wieder still und anständig verhielt.

Dann nahm Dieter den Besuch der Handelsakademie und die Wanderungen mit Toni auf und hatte das Abenteuer seiner Krankheit schon ganz vergessen, als eines Abends sein Vater zu ihm in die Bibliothek kam und dem Sohne, welcher seine Lektüre rasch unter die Anlagen eines vielfach rastrierten Kontobuches geschoben hatte, eine schwarzgeränderte Todesanzeige reichte. Nach einem raschen Blicke rief Dieter: »Der Perser-Kohn,« und sah bestürzt den Vater an.

Dieser nickte trübselig und sagte: »Ja, und seine Frau hat mir sagen lassen, es sei sein letzter Wunsch gewesen, du möchtest zu seinem Leichenbegängnis kommen, was sich freilich von selbst verstanden hätte. Richte dich also morgen ordentlich her.«

Dann lasen sie miteinander genauer die merkwürdige Anzeige, welche am Kopfe die Inschrift trug: »Gott hat es gegeben, Gott hat es genommen,« darunter erwies eine genaue Zitierung, daß dieses Wort im Koran, da und da zu lesen sei, denn der Perser-Kohn erkannte das heilige Buch des Morgenlandes, seiner zweiten Heimat, lieber an, als das seines angestammten Bekenntnisses. Dann hieß es: »Ich bin nach einem, wie ich hoffe, für die Menschen nicht ganz unnützlichen, mühevollen Leben im neunundsechzigsten Jahre meines Alters am sechzehnten Juni um sieben Uhr abends an einem Magenkrebs gestorben.«

Diese Zeilen hatte er lange vor seinem Tode genau aufgesetzt und mit der Hellsichtigkeit des Arztes und des um sein Sterben Wissenden selbst den Tag voraus angegeben und nur die Stunde freigelassen, welche von der Gattin nachträglich hineingesetzt worden war, da alles andere sonst seine traurige Richtigkeit erwiesen hatte. Dieter war sein letzter Patient gewesen, dann hatte er sich eingeschlossen und war noch vor dem Ende und Verfalle in die Einsamkeit und Qual seiner letzten Krankheit untergetaucht, um von niemand gesehen und bedauert zu werden. Den getrosten Fatalismus der Mohammedaner, welche, wie er, auf gekreuzten Beinen dem Schicksal ruhend entgegenblicken, hatte der wunderliche Arzt in seine Wissenschaft und in das Abendland heimgebracht.

In der Wohnung des Verstorbenen herrschte eine bescheidene Stille, viele Anwesende standen an den Wänden. Im Arbeitszimmer, das wie sonst geblieben war, lag er, den Kopf gegen die Fenster, welche nach Osten gingen, das Kinn mit einem weißen Tuche zurückgebunden, die Augen geschlossen und über der mächtigen, tief bis in die spärlichen, grauen Locken zurückreichenden Stirn, über der großen, breiten, gebogenen Nase einen unvergeßlichen Ausdruck von Weisheit, welche ganz in Stille gewandelt, oder von Stille, welche ganz Weisheit geworden ist.

Am Kopfende erhob sich auf einem Schemel ein schlankes, zartes, vielblättriges Gewächs, welches des Verstorbenen Unsterblichkeit sowohl, als auch sein sterbliches Teil Eitelkeit verklärte, indem er diese, im Untergang begriffene Pflanze in Persien gefunden, das letzte Geschöpf der Art gepflegt und nach Europa gebracht hatte, wo ihre Ableger, wie das hier aufgestellte Urbild, in der gelehrten Obhut des botanischen Gartens gediehen, so daß sie sich forterbte und für die Welt gerettet war. Die alte Gemahlin des Perser-Kohn begrüßte Dieter mit Schluchzen und führte ihn gleich, ebenfalls nach einer Anordnung des Verblichenen an den rohen Brettersarg. Und nun mußte dieses zweite, gerettete, dieses menschliche Reis, seine Hand an den Fuß des Toten legen und, wie ihm die alte Frau vorsagte, versprechen, vernünftig und nach den erhaltenen Weisungen zu leben, damit er seinem braven Vater und einem heiteren langen Dasein glücklich erhalten bleibe. Weinend sagte Dieter nach, was er sollte und gedachte der einst so geschwind klimpernden Finger, welche ihm die Musik der Genesung gespielt hatten und nun so bald erstarrt dalagen. Sein Gelöbnis galt als Totengebet und dann trug man den Perser-Kohn zu Grabe.


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