Otto Stoessl
Morgenrot
Otto Stoessl

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XV.

Toni saß in der Wohnstube, wo die kleineren Geschwister aus der zweiten Serie lärmten, die Mutter belferte, der Vater Zeitung las und sollte studieren, leben und lernen und alles nach jenem Stoß ins Herz. Er besaß einen Freund, den hatte ihm das Schicksal weggeführt, er begehrte Liebe und sie war fern von ihm. Nichts blieb ihm, als die Einsamkeit. Aber die Einsamkeit der Jugend hat einen andern wahren Namen, der heißt Langweile. Die steht als der Fluch der Zeit hinter dem Tatlosen und Begierigen und lauert hinter allen seinen Gedanken als ein finsterer Engel des Unvermögens, der spielerischen Oedigkeit, der unfruchtbaren Träumerei, des häßlichen Wartens. Ringsum rollt die Welt in gestaltenvollen Ereignissen vorbei, aber da steht eine jämmerliche Stube und ein Knabe schaut hinaus und ist gefangen. In eine Schule, zu lächerlichen Aufgaben und Pflichten gepreßt, wandelt er in einer Tretmühle, während das große Leben draußen sich im unermeßlichen Strome vorüberwälzt. Dabei gehen die kostbaren Stunden und Tage vorbei, als verschwende er sie, der bettelarm, mit seinem einzigen Gut, der Zeit, nichts anfangen kann. Auf der Schulbank beim Kümmeln kümmerlicher Dinge flüstert die graue Langweile hinter ihm: bald schlägt's zwölf, dann kommt das Essen. Und daheim bei der Schüssel, in der eine würzelose Kost dampft, sagt die Langweile: Nachmittag ist frei. Und um drei oder vier sitzt er wieder am Schreibtisch. Was fang ich an? Soll ich den Roman lesen, der ist ja fad, oder soll ich spazierengehen? Aber was fang ich draußen an? Der Herbstregen macht die Straße dumm und schmutzig. Der Toni raucht aus Verzweiflung Zigaretten, solang der Vorrat reicht, oder schlechte Zigarren, die er dem Alten aus seiner Schachtel entwendet, oder Pfeife. Der Dieter spendiert zuweilen einen sogenannten »Grenzer«, einen sehr starken, übelriechenden, aber billigen Rauchtabak, der in Hruschau zu kaufen ist und in den Grenzorten erzeugt wird, um der ausländischen Konkurrenz ein besonderes wohlfeiles Kraut vorzulegen. In die Dampfwolken tönt das Schreien der Geschwister hinein und die alte Langweile hüllt sich in Rauch. Ach wär's schon morgen, wär's Sonntag, wär's ein Jahr später, schreiben wir in Gottes Namen die » Ama«, und der Toni dichtet Neuigkeiten für den Verbannten in der Polackei!

Er spricht besonders gern in Reimen, weil das Klappern der gleichklingenden Worte die Zeit besser hinbringt, die Langweile steht als Muse hinter ihrem Schützling. Jede Seite beginnt mit »H« und auch das Ersinnen eines rückläufigen Kalendariums gilt jenem einzigen Sommer im Innviertel. Vor zwei Monaten am selbigen Tag hat er das seidene Tuch der Hedwig getragen. Die altdeutsche Uhr schlägt die Stunden, die Langweile vergißt nicht, das Pendel aufzuziehen, ihr darf kein Augenblick entgehen, sie hetzt ihren Sklaven und zerrt ihn zugleich zurück. »Zerstreuung« ruft sie scheinheilig und lächelt mit bittersüßer Heuchelei: »Zeitvertreib«. Vor dem Toni liegt ein Stück buntes Papier, wie er es mit besonderer Vorliebe für allerhand Spielereien verwendet, denn er fertigt Buchbinderarbeiten und dergleichen an, die »Wiener Lieder« für die Nachtigall des Innviertels waren die schönste Probe seiner Kunstfertigkeit. Seither betreibt er derlei, um doch nur irgendwas zu tun, niemand zur Freude. Mitten in seinem Hindämmern bettelt der kleine Bruder, der einstmals sich so wehmütig an den Zipfel der braungemusterten Tischdecke gehalten und heute schon in die Schule geht: »Toni, schenk' mir das blaue Papier.« Der Toni fährt aus seinem Sinnen auf: »Wer hat gerufen?« Und sieht, es war der arme Teufel aus der zweiten Serie. Da faßt ihn ein häßlicher Zorn, sei es gegen den Stiefbruder, sei es gegen sich selbst, die Langweile erdrückt ihn, er springt auf, ballt das blaue Papier zu einem Knäuel zusammen und wirft es zum Fenster hinaus, da heult der Kleine, der Student aber schämt sich seiner Bosheit und ist doch befreit. So schleppen ihn die Tage mit. Am Silvesterabend sitzt er bei einem Glase Punsch, während seine Leute schon zu Bett sind und schreibt eine Neujahrsnummer der » Ama«. Die Langweile, die Muse, gibt ihm einen Einfall. Er läßt das alte Jahr, das sich in den letzten Zügen auf dem Todeslager wälzt, den Toni Scharrer fragen: »Was hab' ich dir getan, daß du mir fluchst. Ich kann nicht sterben. Dein Zorn macht mein Hinscheiden schwer. Was hab' ich dir getan?«

Der Toni weiß eine Antwort: »Du hast mir meinen Freund entführt, du hast mir meine Liebe genommen, ist das nicht genug, du alter Henker?« Da stirbt das Jahr verzweifelt, Angstschweiß auf der kahlen Stirn und ungetröstet. Der Toni drückt ihm die Augen zu: »Ich wollt', ich läg' an deiner Stelle, dann wäre dir verziehen.«

Im neuen Jahr ersann die Langweile für ihren Liebling einen neuen Zeitvertreib: Tanzen. Ein junger Mann kann nicht monatelang seinem Unglück nachhängen und über Versagtes trauern, er soll hinaus unter Menschen und Mädchen. Alle seine Kameraden gehen in die Tanzschule. Vielleicht gibt's dort was Neues. In der Landstraße war ein Meister dieser Kunst berühmt, welcher um billiges Geld Kurse für die bescheidene Bürgerschaft abhielt. Die Schüler bezahlen ein mäßiges, aber für Toni unerschwingliches Honorar, doch jene reiferen, männlichen Gäste, welche bereits ausgebildet, nur Uebung suchten und als gewandte Tänzer die jungen Damen zu führen verstanden, brauchten bloß wohlfeile Eintrittskarten zu lösen und ein Garderobegeld zu entrichten, um auch an dem gemeinsamen Vergnügen und noch dazu höchst ehrenvoll teilzunehmen. So ließ sich Toni als Gast einführen, obgleich er keinen Schritt tanzen konnte. Aber dreist und aufmerksam wie er war, würde er es schon vom Zuschauen lernen können. In der ganzen barbarischen Welt mildern französische Anstandslehrer und Tanzmeister die groben Umgangsformen und beziehen ihren ärmlichen Lebensunterhalt vom Abrichten der fremden jungen Bären. So war auch in die Landstraße ein zierlicher, befrackter und sorgenvoll zeremoniöser Herr Clairmont verschlagen, welchem Toni die Schritte abguckte. Auch die Langweile beflügelt, was haben die Füße des Schülers Toni Scharrer Besseres zu tun, als ihn um die eigene Achse zu drehen? Er trug sein schwarzes Sonntagsjackett, ein gestärktes Vorhemd, weiße Halsbinde mit einer falschen Perle als Busennadel, seine alten Schuhe hatte er sorgfältig geputzt, und da er unternehmend dreinschaute, von der Aufregung des ungewohnten Vergnügens gerötet, machte er eine ganz angenehme Figur. Er, der von Hedwig die Schönheit erkennen gelernt hatte und dem durch die Nörglerin Langweile, durch die bittere Erfahrung der Blick grausam geschärft war, rümpfte die Nase über den anwesenden Damenflor. Das wollten Fräulein sein? Wie aufgeputzt sie sich auch trugen. wie sie auch nickten, lächelten, knixten und wohlfrisiert waren, allesamt schienen sie ihm gleich häßlich, nichtig und kümmerlich. Er wählte die, welche ihn am annehmbarsten dünkte, eine magere, blonde, blauäugige Person. Sie war wenigstens jung und frisch und schaute ein bißchen schmachtend, als hätte sie schon hinter den Vorhang geguckt. So jung und schon traurig. Das paßt mir gerade, dachte der Toni und nahm ihren Arm. Sie lächelte freundlich, ließ sich von ihm durch den Saal schleifen und zürnte nicht, wenn er ihr auf die Zehen trat oder an andere Paare anstieß. So konnte er mit ihrer geduldigen Hilfe als Gasttänzer gelten, sie sprach auch angenehm und ganz klug mit sanfter, verschleierter Stimme, welche ein zartes Weh des erwachten und betrübten Herzens verriet. Der Toni wurde gleich auch nach der Sitte ihrer Mutter vorgestellt, die saß als Begleiterin da und erschien selbst noch ganz annehmbar, stattlich und heiter, als bereite die Tanzschule ihr mehr Vergnügen, als der Tochter. Ja, sie ließ sich sogar selbst nicht ungern zu einem Walzer erbitten und bewegte sich ungeachtet ihrer volleren Leiblichkeit recht leicht und gewandt durch den niedrigen Saal, indem sie den Toni führte und mitten im Sechsschritt plaudernd durch ihre urwüchsigen Scherze zum Lachen brachte.

Er erwiderte ihre Frozzeleien gewandt, wie es einem jungen Wiener Gesellen ansteht und von Natur eingegeben ist. Man mag noch so bekümmert sein, es gibt eine Heiterkeit der Stunde, die auf dem dürrsten Boden wächst, wie die bescheidene Kresse, welche selbst auf einem armseligen Schwamm vergnüglich grünt. So ließ sich der Toni nicht spotten, gab auf einen Witz den andern zurück, lachte und schaute keck. Was hatte seine Verzweiflung mit dieser Lustbarkeit zu schaffen! Die Frau Marie Hilsch und ihre Tochter Mizzi waren die Angehörigen eines wunderlichen Privatbeamten, der mürrisch diese beiden so gut versorgte, wie er konnte und im übrigen seine Ruhe verlangte, so daß sie tun und lassen mochten, was ihnen beliebte. Und da die Mama Hilsch das bescheidene Dasein in ihrer Welt als ein erlaubtes und treulich auszuübendes Vergnügen ansah, welches sie der jungen Tochter recht inständig wünschte, um auch selbst ein wenig Munterkeit noch vor Torschluß abzubekommen und sei es nur im Zuschauen, hielt sie das Tanzen für eine wohlangebrachte, ja unerläßliche Unterhaltung. Und weil die Mutter wiederum gerade über diese Zerstreuung sehr wohlwollend dachte, hatte die Mizzi sich von rechtswegen, wie es eben zum Walzer gehört, schon beim ersten Besuch der Schule des Herrn Clairmont in ihren ersten Tänzer verschossen. Das war ein ehemaliger Gymnasialkollege des Toni, hatte bereits die Matura bestanden und ging auf die Universität. Anstandshalber und weil die Tanzschule und diese Jahre es erforderten, verliebte sich auch der junge Mann in die Mizzi und im Dreischritt erwirkte sich gleich auch die entsprechende Verlobung. So weit war alles in Ordnung. Aber die Enttäuschung und der zugehörige Schmerz ließen nicht auf sich warten, denn der junge Mann besaß eine häßliche Schwester und eine boshafte Mutter, die gleichfalls die Tanzschule besuchten. Mama Hilsch aber war in aller ihrer Fröhlichkeit recht unduldsam gegen langweilige und anspruchsvolle Personen und kümmerte sich nicht, wie es die Schicklichkeit verlangte, um diese Begleiterscheinungen des Bräutigams ihrer Tochter. Die Zurückgesetzten fühlten sich beleidigt und boten darum ihren ganzen Einfluß auf, den Sohn und Bruder von der Mizzi zu trennen. Dieses gemeine Unterfangen schien ihnen zu glücken, denn der Jüngling blieb bereits mehreremal aus der Tanzstunde weg. Deshalb zeigte die Mizzi sich so schwermütig und betrübt, deshalb hatte sie wiederum den Toni angezogen, wie ein Kummer den andern. Die junge Tänzerin schwebte in ihren Walzern einmal ums andere in Angst und Bitternis: liebt mich mein Bräutigam, oder hat er mich schon verlassen. In solche Qual eines bescheidenen Mädchengemütes geriet Toni mitten hinein, nicht übel willkommen, um der bösen Welt und den häßlichen Neiderinnen zu beweisen: wir brauchen euren Schwächling nicht, wir sind einen bessern wert. In einer Tanzschule wachsen die Geheimnisse wie Brombeeren, und jeder kann sie pflücken. So wußte der Toni bald um das Leid der Mizzi; da er Aehnliches erduldet, verstand er sich gar wohl darauf, und es schien ihm eine würdige Aufgabe, die gekränkte Unschuld zu trösten und zu beschützen. Jetzt hatte er wieder etwas zu tun. Zwischen dieser und der nächsten Tanzstunde stellte er den zögernden Liebhaber zur Rede. Der tat unschuldig wie ein Gotteslamm und versicherte die Verlassene seiner treuesten Gefühle. Aber darum ließ er sich doch auch das nächstemal nicht blicken. Und Toni konnte darum nicht anders, als sich der beiden Damen unverzagt anzunehmen als treuer Kavalier.

Diese Geschichte gab einen guten Stoff für die nächste Nummer der » Ama«, welche vom Tanzen und von der angenehmen Gleichgültigkeit dieses Zeitvertreibes handelte, er beschrieb seine Schutzbefohlene recht von oben herab, wie konnte sie sich mit der angebeteten Hedwig messen! Die Mizzi war blond und mager, lang wie eine Hopfenstange und wehmütig wie ein wässeriger Kaffee, die Hedwig aber war schwarz und schlank, zierlich und fein gedrechselt und heiter wie die Gefahr des Helden. Dieter entnahm diesem Journal nur die eine Kunde, daß ein Mann von Welt tanzen muß und beschloß, Toni sollte in der Wienerstadt keinen Vorsprung des Walzers vor ihm tun. Auch in der Polackei mußte derlei zu erringen sein. Unweit von Hruschau lag die Grubenstadt Ostrau, deren junge Leute, Ingenieure, Beamte, ledige Töchter von Bürgern auch etwa tanzen wollten. Aber zu Ostrau gab es zwar ein Kasino und etwelchen geselligen Verkehr, nur keinen Tanzlehrer. Der nächste Meister dieser Kunst waltete in Olmütz. Dieter erließ daher ein Rundschreiben an alle, welche etwa Lust hatten, einen solchen Kurs mitzumachen und fand begeisterte Subskribenten in Ueberzahl. So konnte der gesuchte Lehrer aus Olmütz verschrieben werden, traf auch eines Tages bereitwillig in Ostrau ein und wollte einen Gastunterricht für zwei oder drei Wochen abhalten, zu welchem Zwecke er Einschreibungen entgegennahm. Nun hätte es Dietern keineswegs angestanden, wie die übrigen uninteressanten Herrlein sich zu diesem Manne zu begeben. Mußte er sich schon notgedrungen der Gesellschaft von Federfuchsern und Beamtensimpeln anschließen, um zum Tanzen zu kommen, so sollte dies doch in einer Weise geschehen, welche sowohl seine Herablassung, als seine bleibende Sonderstellung unvergeßlich hervorhob.

Daher zog er eine Zwilchhose an, über welcher sein schwarzer Schniepel eigentümlich feierlich saß, wie das unbequeme Festkleid eines weltverachtenden Forschungsreisenden, über den Kopf stülpte er einen roten quastengeschmückten Fez, und einen echten türkischen Tschibuk mit Bernsteinspitze im Munde, den alten Wetterfleck mit der chinesischen Bronzespange umgeschlagen, begab er sich zur ersten Lektion. In Ostrau angelangt, trat er keineswegs unmittelbar in den Saal, sondern meldete sich durch eine Visitenkarte an. Um diese Zeit hatte er nämlich dank seinen seit der Akademie rührig fortgesetzten Umschriften und empfangenen Drucksorten auch die Theosophie entdeckt, welche ihn mehr wegen ihrer geheimnisvollen Gesellschaften und ihres fremdländischen Ursprungs, als durch ihre eigentlichen Lehren reizte, und da die Mitgliedschaft nur einen Gulden kostete, war er beigetreten und durfte auf seine Karte drucken lassen: »Josef Dieter, member of the theosophical society of India.« Als Jünger der Madame Blavatska und als Inkarnation des zweifelnden, suchenden und verachtenden Menschentums betrat er, halb bestaunt, halb gefürchtet, den Saal und tanzte im Fez, als merkwürdiger, fremdländischer Gast unter den armseligen Ortsangehörigen. So erschien er allemal, bewundert und von den Damen angeschwärmt, denen er eine zwischen Duldsamkeit und Gleichgültigkeit geteilte rätselhafte Konversation angedeihen ließ, welche seine indische Weltanschauung und undurchdringliche Selbstgenügsamkeit verriet, die Verachtung des gegenwärtigen nichtigen Tuns andeutete und die bescheidenen Jungfern doppelt reizte, den einsamen Theosophen doch noch herumzukriegen und den schnöden Unwilligen anzuziehen, denn ein bekehrter Sünder wiegt allzumal zehn langweilige Gerechte auf.

Dietern aber handelte es sich nicht um die Damen, sondern um den Sechsschritt und wenn die Lektion aus war, folgte er nicht den Schönen, sondern ließ sich an einem Tische abgefeimter, alter Junggesellen nieder und schmähte das niedrige Weibergeschlecht mit den Alten um die Wette, denn auch dies schien ihm der Würde eines Mannes gemäß, sich an die ergrauten und aus dem Feuer der Versuchung geretteten Leute zu halten.

Unterdessen ging Toni unaufhaltsam den entgegengesetzten Weg. Während Dieter in Zwilchhosen und Fez, mit Tschibuk und Verachtung selbst im Tanz den Weibern als unbezwingliches, undurchdringliches Mannsbild davonwalzte, wurde Toni ihnen wie von einem höheren Herrn Clairmont zugeführt. Mizzis ungetreuer Verehrer machte sich immer unsichtbarer, er begegnete ihr nicht mehr zufällig auf der Straße, wenn sie aus der Handelsschule kam, er blieb aus dem Tanzkurs weg, weshalb Toni um so notwendiger dort und auch bei anderen geselligen Veranstaltungen erscheinen mußte, denen er beigezogen wurde. Das junge Mädchen eiferte im Glauben, sang in der Kirche auf dem Chor und fehlte bei keiner geistlichen Veranstaltung. In diesen Jahren, wo die katholische Frömmigkeit sich mit der politischen Gegenbewegung des verkrachten Liberalismus eng verbündete, um eine nie verlorene Macht über die Menge auch nach außen zu beweisen, verstand es die Klerisei sehr geschickt, ihren Anhängern das erforderliche Vergnügen, die unerläßliche Zerstreuung und fromme Erheiterung in Christo nach den Wahlkämpfen und politischen Mühsalen zu sichern. Es handelte sich darum, der leicht befriedigten, getreuen Kleinbürgerschaft der Bezirke Gelegenheiten geselliger Vereinigung zu schaffen und diese wiederum für die höheren Machtzwecke der Politik auszuwerten. Vor allem wurden die Frauen und Mädchen herangezogen, als die leichtbewegten, den Ueberredungen des Glaubens willig unterworfenen Schäflein, während die starrköpfigen Widder durch die Lockung der Weiber kirre gemacht, folgen mußten, woferne sie nicht schon ohnedies in der Hürde beisammen waren.

So gab es auch unter den Weißgerbern, dem beherrschenden Viertel der Landstraße, einen Kirchenmusikverein, welcher Unterhaltungsabende, Gesangsproben, Aufführungen geistlicher und weltlicher Werke veranstaltete und sowohl die tauglichen Musik als die zugehörigen Wahlstimmen sammelte. Die Mizzi Hilsch war wegen ihrer und der Mutter verläßlicher Gesinnung und ihres guten Soprans ein führendes Mitglied und warb wiederum den Toni an, der als gleichgültiger, darum dringlich zu bekehrender Jüngling und Geigenspieler einen wertvollen Gewinn bedeutete. Amor hatte freilich vorläufig keinen Part in diesem Konzert des Glaubens, aber Musika, Tonis andere Göttin, und die Langweile, seine Führerin, leiteten ihn, den Wollenden willig. Sang die Mizzi auf dem Chor in der Messe, mit ihrer wehmütigen, von der emporziehenden Gewalt der rauschenden Orgel befreiten und durch das starke Gefühl des Glaubens, als durch das höchste Muß ihres Wesens gleichsam wider Willen enthüllten Stimme, so meinte er eine andere, verborgene, süßere Sängerin selige, blühende und versagte paradiesische Wonnen verkünden, Hedwigs sammetdunklen Alt zu hören und es war ihm, als erblicke er diese zierliche Gestalt mit dem schwarzen Haar und dem spöttischen Munde, wie sie von dem Notenblatte statt des geistlichen das weltliche Freudenlied ablas, welches ihm leider nicht tönend wurde, denn die Orgel überwältigte die geträumte Musik und führte den Sopran der Mizzi wie über Felsenpfade hinan, die Gestalt der Hedwig versank immer wieder hinter Schleiern, während die gerade, herbe, blonde Figur der gegenwärtigen Sängerin sich zuversichtlich aufrichtete und den Triumph des siegreichen Glaubens erschallen ließ.

In der » Ama« gebrauchte Toni für den Februar dieses Jahres, in welchem er mit Musikbegleitung zur Frömmigkeit geführt wurde, so oft er nur konnte, den heidnischen Namen Hornung, weil er mit Hedwigs Anfangsbuchstaben begann. Aber die Mizzi sang so schön, daß er wünschte, sie mit Hedwig zusammen hören zu können.

In einem Wirtssaale fand ein Unterhaltungsabend des Kirchenmusikvereins statt. Die zugehörigen Gesellschaften saßen an Tischen beisammen, die geistlichen Herren hielten Vorträge, welche mit geziemendem Ernst entgegengenommen wurden, bis die bescheidene Unterhaltung zu ihrem Recht kam. Musikstücke wechselten mit Deklamationen ab, dazwischen wurden Ansichtskarten zugunsten des frommen Vereins verkauft, auf welchen allerhand Mitteilungen der jungen Leute an Ort und Stelle geschrieben wurden. Das hieß »Juxkorrespondenz«. Die Jünglinge und Jungfrauen an den einzelnen Tischen sandten einander derlei Blättchen mit Anspielungen, Komplimenten, zarten Bosheiten, durchsichtigen Beleidigungen oder Huldigungen, die Verkäufer der Karten trugen diese Botschaften auch aus und empfingen die Antworten, so daß ein lustiges Kreuzfeuer von angezettelten, gestörten, wiedervereinigten, von gekränkten und erfreuten Verbindungen bei Speis' und Trank aufflackerte und die Gemüter, welche nach solcher Nahrung hungerten, in den aufmerksamen und angenehm verfänglichen Taumel eines Spieles verlockten, das manchen Ernst verhieß und die gebotene ehrbare Frömmigkeit durch erlaubte Zerstreuung aufs beste belohnte. Toni schrieb, von Einfällen sprudelnd, Witzkarten nach allen Seiten, die schönsten an seine Nachbarin. Im Gespräche aber verhehlte er keineswegs seine unglückliche Unnahbarkeit und deutete an, daß er sowohl versagt, als trostlos verloren sei. Die Mizzi wollte Näheres erfahren, er ließ sie fragen. Sie begehrte zu wissen, welcher Frauenname ihm der liebste sei. Sie sollte raten und nannte: Elisabeth, Agnes, Dorothea, Anna, Gertrud. Er schüttelte den Kopf, als sie »Hedwig« sagte, senkte er ihn bestürzt, ehe er verneinte. Da wußte sie alles. Er verheimlichte seine unglückliche Liebe nicht, um sie über die ihrige zu trösten. Und sie vergaß wieder den eigenen Kummer aus Mitleid mit dem seinigen. Sie sah ihn teilnehmend an: »Da gefällt Ihnen wohl keine der allerschönsten Damen von hier?«

»Keine,« sagte er. »Sie natürlich ausgenommen,« und lächelte dabei gezwungen.

»Freilich, mich ausgenommen,« gab sie zurück.

Zum Benefize des Herrn Clairmont wurde ein förmliches Kränzchen veranstaltet. Toni erwies sich für die duldsame Gastfreundschaft des Franzosen dankbar, der ihn ohne teures Schulgeld als Tänzer gelten ließ. Nach alter, durch Generationen fortgeerbter Sitte tat sich der Kreis jedes Jahr zusammen und verehrte dem Meister ein Dankdiplom, welches bei einem bekannten Kalligraphen bestellt wurde, der zu hohem Preise mit schwungvoller, roter, goldener und verschnörkelter Schrift auf Elfenbeinpapier eine Urkunde lieferte, die von allen dankbaren Zöglingen gefertigt, dem Tanzlehrer überreicht wurde. In edler Rührung und beispielgebender Haltung, das rechte Bein vorgestreckt, die linke Hand über der weißen Hemdbrust am Herzen, hatte dieser ergriffen das Diplom in Empfang genommen und legte es alsbald zu den übrigen in irgendeinen Winkel. Freilich hatte er davon auch einen kleinen Geldnutzen, indem der Kalligraph von seinem Lohne etwa die Hälfte an den Inhaber der Huldigung abführte. Aber dieser geschmälerte Gewinn schien Toni, als ihm der Plan mitgeteilt wurde, doch ungebührlich gering, er beantragte daher, von dem unnötigen Zwischenhandel abzusehen und das gesammelte Geld lieber gleich zum Ankauf eines wertvollen Geschenkes, einer Busennadel, eines Brillantringes oder sonstigen echten Schmuckes zu verwenden. Dieser Einfall, obgleich naheliegend, wurde als die Idee eines überragenden Geistes gebilligt und angenommen, und der gute Clairmont war diesmal wahrhaft überrascht und gerührt, als er statt der langweiligen erwarteten Urkunde einen funkelnden Ring bekam, den er fortan den neuen Zöglingen späterer Jahrgänge zeigte, um sie auf die bessere Eingebung solcher Erkenntlichkeit sachte hinzuführen, denn auch zu dieser Unterweisung war die Anstandslehre berufen.

Beim Kränzchen bot der erkenntliche Meister alle Reize der Vergnügungskunst auf, den Beginn machte eine Scherzlotterie, deren Lose reißend abgingen. Jeder gewann, Toni eine Zigarrenspitze, aus welcher man nicht besser rauchen konnte, als aus einer Federkapsel. Die Treffer waren von den Teilnehmern selbst geliefert worden, wobei jeder tückisch solche Dinge einschmuggelte, die er selbst nicht brauchen mochte und darum andern zudachte. Beim Kotillon mußte sich eine Dame mit brennender Kerze auf einen Stuhl setzen, von zwei Herren umtanzt. Wer von den beiden mitten im Walzer das Licht ausblasen kann, darf mit der Schönen tanzen, dem andern bleibt die Kerze. Das hieß »brennende Liebe«. Dann gab es den »Polsterltanz«, der mit Küssen schließt. Der Toni tanzte mit der Mizzi und küßte sie, nicht, wie es sonst üblich, andeutend auf die Wange, sondern, da nun einmal geküßt werden sollte, gleich auf den Mund; aber er verspürte nichts Besonderes dabei, obgleich sie errötete und das Unerwartete geschehen ließ, ehe sie sich lachend abwandte. Die Sache wurde übrigens sofort ausgeglichen, indem er mit Mama Hilsch ebenfalls tanzte und auch sie auf den Mund küßte. Was der Mutter recht war, durfte der Tochter billig sein. Er schenkte der Jungen eine Rose, welche er um sein letztes Geld gekauft hatte und sie nahm einen Veilchenstrauß von der Brust und heftete ihn an seinen Frack. Dieses Blumenbüscherl hatte sie von einem andern Herrn bekommen und es war für diesen recht beleidigend, daß sie es dem Toni schenkte. Als darum der Fremde in der Nähe auftauchte, erblaßte die Mizzi und gestand ihre Torheit ein; Toni wollte ihr die Veilchen gleich wieder zurückgeben, doch litt sie es nicht und streckte trotzig den Kopf empor, nein, er sollte das Sträußchen behalten, mochte der andere gekränkt bleiben. Beim Nachhausegehen regnete es, aber das verdroß die Fröhlichen nicht. Toni wickelte seinen Zylinder, den er von einem Freund entliehen, in zwei Taschentücher, um ihn zu schützen, in der linken Hand trug er Mizzis Blumen, unterm linken Arm eine weitere Schachtel mit Kotillon und Lotteriespenden, in der Rocktasche Mizzis Ballschuhe, am rechten Arm führte er seine Dame selbst. In einem Kaffeehause ließ man den Genuß des Festes mählich abklingen; die Köpfe waren noch heiß vom Eifer des Vergnügens. Der Toni schwatzte mehr, als er wollte und machte Komplimente, über die er bei sich staunte, beim Nachhauseweg schlug er sich endlich auf den Mund und sagte: »Jetzt red' ich aber schon nichts mehr.«

Da sah ihn die Mizzi an: »Leider.«

In der » Ama« verspottete er sich und seine Schwäche, die Mizzi und die Frömmigkeit, die Tanzschule und das Kränzchen, noch stand das H von Hornung und Hedwig auf seinem Himmel, aber verglühend als ein Abendrot. »Hab' ich nicht recht, sprech' ich nicht die lautere, reine, geseihte, ausgeschwefelte pure Wahrheit in ihrer Mutternackigkeit, ohne Falsch und Fehl, ohne Lug und Trug, entweder, die ich will, oder gar keine; die ich will, krieg' ich nicht, und die ich krieg', will ich nicht. Ich will aber die nicht, die ich nicht mag. Punktum.«

Dann kam der März. Die » Ama« begann mit M. In sehr zierlicher Schrift prangte der März obenan und das Journal hub an: Mit Gott, was auf die Mizzi zurückzuführen war, die ihn mit seinem Schöpfer, mit dem Dasein des Toni Scharrer und mit ihrer eigenen Person, kurz mit dem Anfangsbuchstaben M eines neuen Tages zu versöhnen begann.

Sie besuchte eine Handelsschule wegen der praktischen Wissenschaft, alle Kirchen aber, wo es besonders strenge Predigten gab, die sogenannten »Missionen«, wegen der geistlichen Güter. Und da der Toni sie begleitete, um wenigstens die Pausen dieses eifrigen Mädchenlebens durch eine unverfängliche Geselligkeit auszufüllen, mußte er sie wohl oder übel aus verschiedenen Gotteshäusern abholen. Da war das »Etablissement« Rochus und Sebastian, oder das von den Dominikanern, Schotten, Augustinern, wie er diese dem geistlichen Vergnügen gewidmeten Lokale nannte. Bei solchen Missionen wimmelten die Hochwürden in schwarzem Gedränge, dahinter Fahnen samt Trägern, behängte Vereine, weiße Jungfrauen und viele Herren, aber von der »Mission« konnte der Gottlose nichts bemerken. In der letzten Bank kniete die Mizzi in Andacht versunken. Wußte sie, daß ein blondes Haupt auf einem schlanken, über das Gebetbuch geneigten Halse, schmale, demütige Schultern einer zum Gebet geneigten Jungfrau ein hübscher Anblick sind? War das irdische Wohlgefallen an einem so frommen Bilde sündig? und hätte sie sich und dem Toni die Sünde verziehen, wenn sie darum gewußt? Die Messe prangte soeben in vollem Tun, der Toni stand ungeduldig hinter seiner Frommen, sie schien ihn nicht zu beachten, trotzdem sie ihn mitten im Gebet, als er eintrat, kommen gefühlt und mit einem raschen Blick und Neigen gegrüßt hatte. Da flüsterte er ihr ins Ohr »Amen« und nun mußte sie lachen. Er legte ihr eine gelbe Teerose aufs Gebetbuch. Das war lieb, aber unziemlich, er lachte, sie mußte auf ihn, statt auf die heilige Handlung schauen; da erhob sie sich, bekreuzte sich eilig und verließ die Kirche vor Schluß der Andacht. Er begleitete sie jetzt auf allen ihren Wegen. Wenn seine Schule aus war, wußte er genau die Stunde und den Weg, den sie aus der ihrigen nahm. Und da traf er sie zufällig. Er war seiner unglücklichen Liebe untreu und schalt sich im stillen darob.

In den Gesprächen, welche die beiden führten, kam alles vor, was auf der Welt wuchs: Liebe und Unglück, Glaube und Spott, sie redete von seinem, er von ihrem Mißgeschick, aber sie gingen dabei um ein stilles, wachsendes Feuer vorsichtig herum. Die Mizzi führte ihn und er riß immer wieder aus, so oft er einem entscheidenden Worte zu nahe trat, welches ihm und ihr die Wangen in Flammen setzte.

Bei Tag waren diese Begegnungen als zufällige unverfänglich, aber wenn es dunkelte, ging die Mizzi, wie es sich schickte, stets in Begleitung der Mutter einkaufen. Da galt es beim Selcher das Nachtmahl und in Stadtgeschäften dies und jenes zu besorgen. Frauenzimmer brauchen ja allemal ein Stückchen Stoff, ein Restchen Spitze, einen Meter Seide, Zubehör, Knöpfe, Borten, und was sie heute nähen, macht morgen etwas Neues notwendig, denn das bißchen einfache Anmut besteht aus einem Vielerlei von Kleidern, Rüschen und Anhängseln, das geheimnisvoll rauscht, wie eine sachte Flut. Und auch am Abend wußte er die beiden zu treffen. Die zartfühlende Mutter Hilsch verweilte in den Geschäften sehr lange, während die beiden »Kinder« draußen auf der Straße im Dunkel nebeneinander standen und schwatzten. Da hatte Toni Zeit genug, etwas zu sagen und, obgleich in jedem Augenblick versucht, das nächste Etwas auszusprechen, verschwieg er's und lachte mit einem Witz darüber hinweg. Dann sah ihn die Mizzi traurig an. Unterm Haustor nahmen sie langen Abschied, denn immer gab es noch eine Mitteilung und noch eine. Die Mama Hilsch brauchte als wohlbeleibte ältere Dame lange zum Stiegensteigen, bis sie schweratmend in ihren dritten Stock hinaufkam, darum ging sie voraus, denn die Mizzi holte sie immer ein. So gewannen die Kinder noch einen Husch Zeit und verloren ihn, indem sie verstummten, bis das Mädchen dem Toni endlich die Hand bot, nickte und im Flur verschwand. Jetzt fiel ihm gerade noch etwas ein, und sei es bloß ein »Gute Nacht«. Er rief, doch sie kehrte nicht mehr zurück.

Einmal aber traf er sie nicht zufällig auf ihren Wegen, am nächsten Tag und Abend fehlte sie wiederum. Hinter jeder bekannten Ecke glaubt er die hohe Gestalt mit dem eigentümlich vorgeneigten Gang hervorkommen zu sehen, und erkennt enttäuscht seinen Irrtum. War sie krank oder böse? Am dritten Tage schrieb er ihr eine scherzhafte Karte als Ungeduldiger. Sollte er allein durch die Gassen stelzen, die nur ihrer beider wegen gemacht waren?

Er bekam ein Brieflein, sie sei leicht unpäßlich gewesen, aber morgen solle er sie vor ihrer Schule erwarten.

Der Toni stutzte: das heißt ja ein Rendezvous, nicht mehr Zufall! Das heißt: Erklärung. Das heißt Liebe, nicht Tröstung. Und wenn er jetzt das rechte Wort spräche, ist die Freundschaft aus, und etwas Neues beginnt, welches ärger heißt und wovor er Angst hat als ein gebranntes Kind. Wenn er aber wiederum schwieg, hatte er Freundschaft und alles andere verscherzt. Toni, du bist auf einem Holzwege! Liebte er die Mizzi? Vielleicht, vielleicht auch nicht, vielleicht, denn er wünschte sie jeden Tag zu treffen und spürte ein wunderliches Mißbehagen, wenn er sie verfehlte, vielleicht, denn manches Mal dünkte sie ihm anmutig mit ihrem schweren blonden Haar und ihrem verschleierten, fragenden Blick und ihrer Sanftmut, vielleicht aber auch nicht, denn er konnte sie kein einziges Mal anschauen, ohne der fernen Hedwig zu gedenken und dies matte gegenwärtige Bild mit dem fernen starken der Innviertlerin zu vergleichen, vielleicht auch nicht, denn der Vergleich fiel immer zum Schaden der Gegenwärtigen aus, während die Ferne triumphierend ihn aus dunkeln Augen mit spöttischem Lächeln zu höhnen schien: du denkst an mich.

So heiß konnte er dieses kühle Geschöpf nicht lieben, wie jene dunkle Nachtigall, aber da Mizzi ihn zu wollen schien, mochte er so lange ihren Liebhaber spielen, bis sie seiner überdrüssig wurde, verdiente sie doch ein bißchen Glück. In Gottes Namen denn, er wollte sich erklären. Zu einer Erklärung gehörte aber ein Kuß, wie sollte das mitten auf der Straße geschehen! Und er mußte ihr du sagen. Wie konnte er das über die Lippen bringen?

Sehr bekümmert traf er das Mädchen vor der Schule, sie errötete heftig, als sie ihn sah, und lächelte und erblaßte wieder. Er bot ihr den Arm, sie nahm ihn, obgleich sich das nicht schickte. Und nun wandelten sie als ein Paar ihres Weges. Das ließ sich ganz freundlich an, man gehört doch zu wem und ist nicht allein auf der fremden Welt. Toni begann endlich mit der Erklärung, er wisse schon, daß er jetzt von rechtswegen etwas Besonderes sagen müsse, aber gerade dieses Besondere wäre zu besonders und störte ihre Freundschaft, als ein mißlicher, feierlicher Augenblick. Darum sage er lieber nichts Besonderes, nur freue es ihn von Herzen, daß sie da neben ihm gehe und gesund sei, denn wäre sie ernstlich krank oder böse gewesen, so hätte es ihm von Herzen leidgetan und das wäre ihr hinwiederum auch nicht angestanden. Kurzum er freue sich, daß alles zwischen ihnen beim Alten bleibe und damit genug. Aus lauter Vergnügen, daß er nun doch keine Erklärung abgegeben hatte, kaufte er ihr ein Büschel Veilchen, welche sie dankbar ansteckte.

Und am nächsten Tage brachte er ihr jenes vergebliche Heft der »Wiener G'sangeln«, das der Innviertler Nachtigall zugedacht gewesen, überreichte es ihr feierlich, damit es nun doch etwas nütze und weil er zu arm sei, ihr sonst etwas zu schenken. Er erzählte ihr auch, schon um seines mahnenden Gewissens willen, wem dieses Buch gegolten hatte. Sie lauschte still mit ihrem in sich gekehrten Blick, dann dankte sie, lobte die feinen Malereien, die zierliche Schrift, den sorgfältigen Einband, die treffliche Auswahl der Gesänge und dann sah sie ihn gerade an, so daß er mitten im Gehen einhielt: sie werde es nie vergessen, daß er ihr gegeben hatte, was nur dem Liebsten auf der Welt geschenkt werden durfte.

Der Toni verneigte sich stumm und antwortete, sie müsse aber auch alle die Lieder singen, denn er wolle wenigstens hören, was da auf den Blättern stand. Ach das war wiederum nichts Besonderes und besonders genug für ein Ohr, das hörte: Du bist nicht mehr, als »wenigstens«. Am nächsten Tage vermied der Toni eine Begegnung, denn sonst gab es kein Zurück mehr, aber am Abend konnte er doch nicht umhin, sie zu treffen, weil die Mama dabei war, was die Sache harmloser machte.

»Wenn wir uns morgen wieder nicht sehen, muß ich glauben, Sie weichen mir aus,« sagte die Mizzi. Sie wußte immer das Besondere, der Toni aber verschwieg es und glaubte als Erzjesuit der Leidenschaft, damit wahre er sich. Diese frommen Vorbehalte sind freilich nichts, als die letzten Versuche, dem Letzten auszuweichen, während ein wahrhaft frommes weibliches Gemüt mit seinem Wunsch geradeaus geht und dabei erst recht den Seitenpfad und Schelmenweg des Mannes trifft. Schließlich stehen der Schuldige und die Unschuld doch wiederum einander gegenüber und die selbstsichere Demut schlägt die Augen fest auf, in denen eine gerechte Sache glänzt, während sich die Blicke der vergeblichen Vorsicht senken, welche ihre Schuld zu bekennen hat. Das ist so das alte Spiel der jungen Leute: Verlust ist Gewinn, Schlauheit kommt vor dem Fall, Vorsicht schlägt zum Unheil, Tollheit zur Vernunft aus und die Gegensätze sind nur geboren, um einander zu küssen. Unterm Haustor, als die Mama gutmütig schon die Treppe vorausstieg, drückte Mizzi dem Toni die Hand, anders als sonst. Ihre Rechte faßte als ein starkes, wollendes Wesen die seine, wuchs um sie und ließ das Gefühl eines entschiedenen Spruches zurück. Dann aber rannte das Mädchen davon.

Toni wunderte sich über diesen immer wachsenden Strom von Ereignissen, der ihn trug, und wie sein Schifflein, welches er leck und untüchtig geglaubt, mit einem Male flott dahinfuhr. In der » Ama« stand eine Zeile: »Ich bin jünger, als ich bin.«

Wieder am nächsten Abend mußte er die Mizzi bitten, ihm den Arm zu reichen, denn wer einmal so angenehm paarweis gegangen ist, mag nicht mehr im Abstand neben der Dame wandeln. Aber die Mama Hilsch mußte es auch erlauben und tat es. So ging man ganz getrost voran, die Begleiterin verweilte lange beim Selcher, wo sie das Nachtmahl holte. Das Paar schritt auf und ab vor dem Haustor. Der Toni hielt Mizzis Schleier in der Hand, denn er hatte sie gebeten, ihn nicht vorzubinden, damit er ihr Gesicht ordentlich sehe.

Nun vor dem Abschied forderte sie den Schleier zurück.

»Der gehört mir,« sagte Toni.

»Was fällt Ihnen ein?« erwiderte das Mädchen und streckte die Hand nach dem Schleier aus.

»Wenn's sein muß.« Er schüttelte betrübt das Haupt und drückte mit einer theatralischen Gebärde, welche doch vielleicht ernst gemeint war, den Schleier ans Herz. küßte ihn dann und reichte ihn dar. Sie nahm ihn und, sah er recht, oder täuschte ihn die rasche Bewegung, es schien ihm, als presse auch sie einen flüchtigen Kuß darauf.

Gleich zog er das Pfand wieder zurück. »Jetzt bekommen Sie ihn erst recht nicht.« Sie senkte den Kopf und schwieg.

Hatte sie den Schleier geküßt? Das wollte er wissen. Darum tat er, als beende er den Scherz, und bot ihr die Beute ruhig an.

»Nehmen Sie ihn denn,« sprach sie.

Er zögerte.

»So wollen Sie ihn nicht?« fragte sie bebend.

»Ich kann doch unmöglich Ihren Schleier annehmen,« sagte er mit grausamer Verstellung.

»Gute Nacht,« flüsterte sie und war weg, er hielt den Schleier nun doch in der Hand.

Die Mutter wunderte sich, ihn allein vor dem Tor zu sehen, er verschwand aber, noch bevor sie ihn ansprechen konnte, in der dunklen Gasse. Nun zog er das durchsichtige Ding hervor, atmete den zarten, eigentümlichen Geruch jenes schier wesenlosen und darum beseelbarsten Gegenstandes, und jetzt küßte er den Schleier lange und küßte damit den Hals, der ihn getragen, die Lippen, die ihn berührt.


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