Otto Stoessl
Morgenrot
Otto Stoessl

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VII.

Diesen Sommer sollte Dieter einmal bei Verwandten seiner Mutter zubringen, damit er auch diesen Zweig kennen lernte, der nun durch die zweite Ehe von neuem ins Grünen kam. Eine ältere Schwester seiner Mutter war in Böhmen an den Stallmeister eines reichen Gutsherrn verheiratet, und dorthin, nach einer großen Besitzung, reiste Dieter auf Sommerfrische.

Er fand sich unversehens in einer ganz neuen Welt, und zwar in der böhmischen, wo sie am tiefsten ist und ihn lehrte, daß er eigentlich ein deutscher Junge sei und daß sich dies gar nicht von selbst verstehe, denn hier wurde nur tschechisch gesprochen, und alles hatte tschechische Namen, sogar seine Tante, welche Nemec hieß, was freilich »deutsch« bedeutete, aber weder so klang, noch von ihr, einer Parteigängerin der tschechischen Nation, so verstanden sein wollte.

Sein Oheim, der Stallmeister, ein kleiner, gedrungen-kräftiger Mann, hatte das richtige tschechische Aussehen: eine Nase, die ein wenig zutraulich, ein wenig aufgebogen gen Himmel sah, ob sie es auch dürfe, ein paar blaugraue, zwinkernde Augen, ein untertäniges Lächeln und dunkelblonde, borstig aufgerichtete Haare. Er sprach zwar deutsch, aber man merkte ihm die Schwierigkeit dieser Unterhaltung an, denn er dehnte und sang seine Rede mit umständlicher Art, nicht ohne gelegentlich in die vertrauten Wendungen der Muttersprache zu verfallen, wenn er besonders freundlich sein wollte.

Dieter fühlte sich aber darum nicht fremd, war doch auch seine Mutter eine Slawin gewesen und hatte mit ihm so gut deutsch, wie tschechisch gesprochen. Wunderlich war es nur, auf einmal zu erfahren, daß er wirklich eine fremde Sprache verstand, mit deren Worten man tatsächlich etwas verlangen konnte und bekam.

Als er nun auf eine Frage getrost tschechisch antwortete, war alles doppelt schön und gut, der Stallmeister schlug ihn auf die Schulter, die Tante umarmte ihn gerührt und versprach sich für ihr eigenes Kind, die kleine Marischka, den besten Spielgesellen.

Doch Dieter, der wie gesagt, einen eigentlichen Widerwillen, eine Verachtung gegen das weibliche Geschlecht, als gegen wehleidige, immer schutzbedürftige, jammernde oder wieder eitle, zierselige, kurz minderwertige Wesen hegte, sah diese Kleine recht gleichgültig an und beschloß, sich nicht um sie zu kümmern. Dagegen erkundigte er sich einläßlich um die sonstigen Gelegenheiten der Unterhaltung, des Verkehrs und etwaiger Abenteuer im Orte. Nun bekam er eingeschärft: zwei Gefahren wären aufs strengste zu vermeiden, erstens der Fischteich, wo man leicht ertrinken könne, Marischka werde ihn morgen hinführen, aber er solle sich dort immer recht vorsichtig verhalten. Zweitens der herrschaftliche Park, in welchem man sich zwar ergehen dürfe, doch nur zu gewissen Zeiten und auf solchen Wegen, die fernab vom Schlosse lägen, damit man der freiherrlichen Familie nicht störend unterlaufe, was sich für dienende Leute nicht gezieme. Diese Verbote bewirkten natürlich, daß Dieter den bedrohlichen Orten seine besondere Aufmerksamkeit und eingehende Durchforschung vorbehielt.

Am nächsten Tage bekam er nun, von Marischka geleitet, den Fischteich zu sehen. Die Pausbackige, Achtjährige, Flachshaarige, Buntrockige versuchte alle möglichen Gespräche, ohne ihrem Begleiter mehr als ein unwirsches Ja und Nein zu entlocken, bis sie halb verdrossen und beschämt, halb ehrerbietig, diese Mühe aufgab und stumm neben Dieter herlief. Man brauchte gut eine Stunde, den ausgedehnten Fischteich zu umgehen, er war gelegentlich von Bäumen umsäumt, dann wieder von Wiesen, an manchen Uferstellen sumpfig und schilfig, so daß ein schreiendes Leben von Wasservögeln aller Art sich aus dem Röhricht der Weiden und Erlen erhob. Das Wasser flimmerte und zitterte im Sonnenlicht und der ganze Ort gefiel Dieter so wohl, daß er ihn als Spielrevier im Auge zu behalten gedachte.

Marischka, die bald, namentlich aus Mangel an Unterhaltung müde wurde, kehrte endlich um, nachdem Dieter ihre Warnungen vor dieser verbotenen Gegend höhnisch verlacht hatte. Er selbst fühlte sich nun frei und wanderte vergnügt auf der Landstraße weiter, die unter hohen Pappeln eine gute Weile längs des Teiches hinlief, um sich unversehens in einem scharfen Winkel von ihm abzuwenden. Nach kurzer Ueberlegung beschloß der Bube, da er ja das Wasser vorläufig schon einigermaßen kannte, der Landstraße zu folgen, zumal er mit seinem scharfen Auge von weitem rote Dächer und hohe Schornsteine gewahrte. Nach einer Viertelstunde Weges fand er sich tatsächlich in einem jener kleinen böhmischen Dörfer, dessen niedrige, aneinander gelehnte geweißte Häuser mit blauen Fensterrahmen und Türstöcken sich im Halbkreis um eine bescheidene Dorfkirche legten. Auch da gab es manches zu besehen: Gänse und Enten, welche sich beleidigt und mit mühselig erhobenen, drohend geschwungenen Flügeln nacheinander vom Weideplatze davonmachten, eine Schmiede, deren offenes Feuer in einer schwarzen Esse loderte, während draußen ein Wägelchen mit einem Pferde wartete, von einer Schar zerlumpter, blonder und brauner Bauernbuben umringt.

Hier bot sich ein ungezwungener Anlaß näherer Bekanntschaft, den Dieter zur Anknüpfung eines Gespräches benützte. Erst versuchte er es auf deutsch, bekam aber keine Antwort, vielmehr grinsten ihn alle frech an und einer rief ein Schimpfwort, das die anderen lachend wiederholten. Da Dieter es aber wohl verstand, gab er dem Frechen einen wohlgezielten Schlag und ein saftiges Schimpfwort zurück und sprach gleich auf böhmisch weiter, wozu sie denn hier herumständen, ob sie nichts Besseres wüßten, was sie denn sonst den ganzen Tag trieben, sie könnten doch lieber als Indianerbande nach Schätzen und auf Abenteuer ausziehen.

Die also Beehrten erklärten sich nach kurzer Ueberlegung einverstanden und erkannten ihn als ihren natürlichen Führer an. Sie machten sich auf, nahmen knotige Aeste, Besenstiele und was an ähnlichen Waffen sich auf dem Wege oder in den Häusern vorfinden mochte, an sich und schritten als ordentliche Truppe paarweise davon. Als sie nach wenigen Minuten das Dorf hinter ihrem Rücken und die ganze weite Gegend vor sich hatten, wußte Dieter nicht mehr recht, was er mit seiner neu angeworbenen Schar beginnen sollte, war er doch fremd im Lande, kannte dessen Schlupfwinkel nicht und deshalb auch noch keinen Feind. Er versammelte seine Leute zum Kriegsrat. Vorerst müßten sie ein geheimes Lager aufschlagen und befestigen, um von dort aus, vor jedem Ueberfall von Blaßgesichtern geschützt, selbst kühne Angriffe nach allen Richtungen unternehmen zu können. Da er aber keine Karte der Landschaft besitze, sei der Kundigste als Pfadfinder berufen, ihn an einen geeigneten Ort zu weisen. Die Gesellen, welche sofort das geborene Feldherrngenie in Dieter witterten und würdigten, vertrauten ihm gleich ihren Hauptspiel- und Kampfplatz an: nahegelegene Sandgruben, wo es sich recht wohl sein ließ. Flugs marschierte man dorthin und begann gleich ein heftiges Bauen, Graben und Schanzenwerfen. Der neue Häuptling ordnete an, man müsse zunächst einmal ein Feuer machen. Die Bauernjungen waren einverstanden und wollten, wie sie es gewohnt, Reisig sammeln, Kartoffeln aus den nahen Aeckern stehlen und im Freien braten. Wiederum erwies sich Dieter als der Ueberlegene und erklärte, da man in Höhlen lebe, könne und müsse man ein besseres Feuer unterhalten, indem man einen Kamin herstellte und mit ordentlichen Kohlen heize. Doch seien diese mit Klugheit und Umsicht zu rauben, welche ehrenvolle Aufgabe er zwei hinlänglich verschmitzt aussehenden Kriegern zuteilte, die denn auch spornstreichs nach dem Dorfe zurückrannten, und sei es vom elterlichen Herde, sei es von der Esse des Schmiedes, in Kürze eine tüchtige Menge mitbrachten.

Unterdessen hatten die Zurückgebliebenen in der Sandgrube einen wirklichen Ofen mit hohem und weitem Zugloch erbaut. Als nun auch das nötige Heizmaterial zur Stelle war, machte man ein starkes Feuer, dessen Rauch Nase und Augen beizte und sich in mächtigen Wolken durch den Kamin schlug, man briet Kartoffeln und verzehrte sie, auf gekreuzten Beinen hockend, voll schweigsamer Würde, wie es Indianern geziemt, welche bekanntlich jedes überflüssige Wort verachten.

Als die Mittagsstunde herankam, woran sich auch der wildeste Kriegsmann zur Zeit erinnert, ordnete Dieter an, man müsse das kostbare Feuer erhalten, weshalb zu jeder Tageszeit mindestens einer zurückzubleiben hätte. Als solcher Wächter fand sich der ärmste der Knaben, ein Gänsehirt, der ohnehin nicht nach Hause durfte, weil er seine Schützlinge draußen zu hüten hatte und als Mittagessen sein Stück Brot und trockenen Käse auf der Weide zu verzehren pflegte. Für die Zukunft aber wollten sie einen möglichst großen Kohlenvorrat sammeln und hier verstecken. Mit diesem Beschlusse ging man auseinander, die Krieger begaben sich in das Dorf und Dieter eilte nach dem Schlosse zurück.

Mit diesen gutmütigen und ergebenen Spielgesellen verbrachte der Junge manchen angenehmen Vor- und Nachmittag, doch empfand er bei seiner unbestrittenen Herrschaft bald eine gewisse Begierde nach Abwechslung und Anregung, nach neuen Abenteuern, ohne vorerst recht zu wissen, wie er sie sich auf den Hals laden sollte.

Wenn er vor dem Schlosse umherspazierte, zeigte dieses, ein gelblicher, vornehmer, im Geschmacke der Barockzeit ausgeschmückter, weit ausladender Bau eine ganz unnahbare Fremdheit. Die Wohnung des Stallmeisters lag in einem niedrigen Seitenflügel ziemlich abseits, während die Hauptfront nur vom Park aus zugänglich, mit offenem Portal ins Grüne führte.

Das Schloß stammte keineswegs aus den feudalen Zeiten des Hochadels, wie es auch nicht etwa einem angestammten Aristokraten der alten Familien des Königreiches gehörte, sondern es war von dem Besitzer selbst, einem frisch erhöhten Baron, erbaut worden, der als Großindustrieller ein bedeutendes Vermögen erworben, in öffentlichen Angelegenheiten sich tüchtig und gemeinsinnig erwiesen und zu seiner und seines neugegründeten Stammes Ehre den prächtigen Sommerpalast errichtet hatte.

Die Gegend selbst war gewählt worden, weil die ausgedehnte Landwirtschaft und insbesondere die Ergiebigkeit des Fischteiches solche Anlage eines Kapitals, die Pflege eines günstig erworbenen Grundbesitzes ratsam erscheinen ließen. So kam der Baron mit Familie und großer Dienerschaft gern in den heißen Sommermonaten her, um sich bei der heiteren ländlichen Sommerverwaltung von den Geschäften seiner rußigen, lärmenden, städtischen Industrieunternehmungen als in einer willkommenen Abwechslung zu erholen.

Dietern hatte es schon längst gelüstet, einmal den herrschaftlichen Teil des Schlosses und eben den Park, vor dem er gewarnt worden war, genauer zu besichtigen und nach der Möglichkeit von Abenteuern zu durchforschen.

Vom Vater und ebenso vom Kooperator Eidherr angehalten, täglich um sechs Uhr morgens ausgeschlafen, gewaschen und angezogen seine Schale Milch zu trinken und dann zur Arbeit des Tages bereit zu sein, behielt er diese Gewohnheit auch hier in den Ferien bei und brauchte zu so früher Zeit keine Störung der Erwachsenen zu befürchten. Seine Tante und der Stallmeister waren freilich schon auf, aber genügend mit ihren eigenen Morgenangelegenheiten beschäftigt; so kümmerten sie sich auch nicht weiter um seinen Aufbruch, sondern ließen ihn, sein geschäftsmäßiges »guten Tag« ebenso erwidernd, gleichgültig und ungefragt fortgehen.

Vor der schön ausgeschwungenen Freitreppe dehnte sich ein buntes, wohlgepflegtes Rasen- und Blumenparterre, eingefaßt von gerade geschnittenen grünen Baumwänden im Stile von Schönbrunn. Alles war ruhig; vor den hohen Bogenfenstern lag der Verschluß der grünen Läden. Da gab es also vorläufig nichts zu sehen, noch zu fürchten.

Dieter ging weiter durch den Park auf dem glänzenden, weißen Kies, durch sorgfältig gewölbte Laubengänge und Alleen, bis etwa nach einer halben Stunde der französische Garten sich unmerklich in die natürliche Freiheit eines Wald- und Wiesenbesitzes verlief. Diese offene Landschaft kannte er bereits zur Genüge und wandte sich daher wieder dem Park zu, suchte einen neuen Weg, geriet durch ein Boskett, Laubengänge und Hecken zu einem offenen Platz, auf dem ein Springbrunnen plätscherte, der sein Wasser aus dem Rachen eines Delphins empor und auf die nackten Schultern einer kauernden Dame aus Stein herniederspritzte. Auch dieser Sehenswürdigkeit widmete er keinen allzulangen Aufenthalt, sondern streifte in die Kreuz und Quer durch den kunstvoll auf kleinem Raume erweiterten und in sich vertieften Garten. Ein breiter Weg unter alten Buchen, die, gut ausgeschnitten, eine schattige Wölbung bildeten, führte, wie es schien, dem Schlosse zu. Doch fand sich Dieter plötzlich auf einem unbekannten, rechteckigen Grasplatz, dem angedrohten Feind, der Herrschaft gegenüber. Mit einem Blick übersah er die ganze gefährliche Lage.

Um einen runden, weißen Gartentisch, wohlgedeckt mit allerhand Frühstücksgeschirr, war auf weißen Sesseln, Bänken, Korbstühlen die freiherrliche Familie versammelt: ein stattlicher älterer Herr, eine Dame im Morgenkleide, welche Kaffee einschenkte, eine andere, schwarzgekleidete Person, die Butterbrote strich, ein Knabe in seinem Alter und ein feingekleidetes Mädchen von etwa vierzehn Jahren. Ein großer braunhaariger Bernhardiner tappte im Sande umher. Da war nun guter Rat teuer, unbelästigt an dieser Gesellschaft vorbeizukommen. Von der Tante war ihm eingeschärft, wenn er etwa der freiherrlichen Familie begegnete, schön »küß die Hand« zu sagen, was er damals freilich nicht weiter beachtet hatte, während es ihm jetzt einfiel. Doch fand er eine so demütige Respektsbezeugung mit seiner Würde nicht vereinbar, sondern schritt, nicht zu rasch, nicht zu langsam, just, als ob er seinen gemessenen Spaziergang unbeirrt fortsetzte, an dem Tisch vorüber, zog seine Mütze höflich, aber nicht zu tief und sagte laut und gelassen »Guten Tag«. Die Gesellschaft erwiderte seinen Gruß mit den gleichen Worten, und schon hatte er den Platz unbehelligt im Rücken, als er gleich auch fühlte, man spreche über ihn und berate, ob man ihn etwa anhalten solle, was ihm im Grunde nicht eben unlieb gewesen wäre, da ihn dieser verbotene und gefürchtete Kreis doch interessierte.

In der Tat hörte er auch gleich rufen: »Du« . . Doch ging er gelassen weiter, da er eindringlicher und vielleicht auch höflicher aufgefordert zu sein wünschte, was auch geschah, indem ihm plötzlich der Knabe nachlief, die Hand auf seine Schulter legte und sprach: »Die Mama läßt dich fragen, ob du nicht einen Augenblick zu uns kommen möchtest.«

»Warum nicht?« Er machte gelassen kehrt und wandte sich an den Tisch, wo der Baron ihn freundlich ansprach, ob er deutsch verstehe. Gewiß. Ob er denn nicht aus der Gegend sei und wem er zugehöre.

Der Frau Nemec, seiner Tante. Wo kam er denn her? Aus Wien. Ei, so sei er gar ein deutscher Gast. Daran war man offenbar hier im Lande nicht gewöhnt. Er ginge wohl in die Schule. Freilich, ins Gymnasium. Da lachte der Sohn des Barons vergnügt, er sei auch Gymnasiast. »Nun, Bubi, da hast du ja einen Kollegen,« meinte der alte Freiherr. Darauf forderte man Dieter zum Sitzen auf, er bekam eine Schale Kaffee und ein Butterbrot, von der Baronin selbst mit goldgelbem Honig bestrichen, das er mit Vergnügen genoß. Schließlich fragte man ihn, ob er nicht mit dem Bubi spielen wollte. Er nickte »ja«, ohne besonders erfreut oder beglückt zu sein, da er seinem Stolz in nichts vergeben mochte. Sie begannen also zu spielen, wobei der junge Herr allerhand sportgemäße Uebungen zeigte und sich von geschulter Gewandtheit erwies, während Dieter in seiner natürlichen Kraft einigermaßen ungeschickt, doch halbwegs tüchtig, sich aus der Affäre zog. Indes schätzte er im stillen seine freieren, romantischen und abenteuerlichen »Räuber und Soldaten«- und Indianerspiele, die den ganzen Kerl verlangten und in Tätigkeit setzten, weit höher, als diese gezwungenen und strengen Sportübungen. Nachdem er also eine Weile mehr überlegen geduldig, als innerlich teilnehmend mitgetan hatte, beschloß er, es für diesmal genug sein zu lassen und sich zu empfehlen. Daher sagte er zum Bubi, er wolle jetzt wieder fortgehen, wandte sich zum Tische, verbeugte sich leicht mit einem gemessenen »Guten Tag« und ging, ohne eine weitere Anrede der Gesellschaft abzuwarten, dem Schlosse zu.

Kaum war er ein paar Schritte weit gekommen, als er den Bubi »Huß« rufen und auch schon den Bernhardiner hinter sich keuchen hörte, der ihn, nicht gerade offenbar gefährlich oder feindselig, sondern mehr aus Gefallen für die Herrschaft und um dem Befehl zu genügen, leicht in die Wade biß. Empört wandte sich Dieter um, der Hund hatte gleich von ihm abgelassen, und der Bubi stand da. Dieter fühlte sich durch diese wunderliche Manier, nach allem anständigen Abschied hastdunichtgesehen den Hund auf den Gast zu hetzen, aufs schmählichste beleidigt und gab dieser Empfindung den natürlichsten, vom Augenblicke gebotenen Ausdruck, indem er dem Bubi eine Ohrfeige versetzte, nicht stark, aber entschieden genug, genau mit dem gleichen Maß die Uebeltat erwidernd, wie sie ihm zugefügt worden.

Auch wartete er nichts weiteres ab, hörte nur einige leise Rufe des Staunens hinter sich und ging gelassen seines Weges. Wieder war er nicht allzu weit, als er den Bubi hinter sich laufen und rufen hörte: »Du.« Wieder stand er still und zeigte dem Atemlosen ein gelassenes Gesicht.

»Die Mama hat gesagt, ich soll dich um Verzeihung bitten, ich hab' es nicht gern getan, ich wollte dich nur noch hier behalten, es war dumm, sei nicht bös, du sollst nur auf einen Augenblick zurückkommen.«

Ohne weiter ein Wort zu sagen, ging Dieter die paar Schritte zurück an den Tisch, wo ihn die Baronin lächelnd anredete, der Bubi sei ungezogen gewesen und habe seinen neuen Freund nur, freilich auf höchst unpassende Art, hierbehalten wollen, die er, Dieter, denn auch ganz nach Gebühr zurückgewiesen. Nun möchte er das Unrecht entschuldigen und nicht weiter übelnehmen. Sie hoffte, er werde nicht beleidigt sein und künftig mit ihrem Sohne spielen, der ja von Herzen froh sei, einen Kameraden gefunden zu haben. Morgen erwarteten sie ihn bestimmt im Schlosse um drei Uhr im Bibliothekzimmer, damit man ihm alle Spielsachen zeigen und die Bekanntschaft geziemend fortsetzen könne.

Dieter sagte »Ja« und fühlte sich durch die ehrenvolle Anerkennung seines Betragens so geschmeichelt, daß er überlegte, ob er nicht etwa dem Bubi noch eine Ohrfeige angedeihen lassen sollte. Aber es schien ihm doch besser, jetzt ungehindert und einen ernsten Eindruck hinterlassend, zu scheiden. Daher empfahl er sich wiederum mit einem ruhigen »Guten Tag« und kam zu seiner Tante, der er von dem Vorfalle keine Andeutung machte, bis er am nächsten Tage nach Tisch seinen Sonntagsanzug aus dem Koffer nahm und sich ungewohnt festlich anzukleiden begann.

Die Frau fragte ihn, wohin er denn wolle und weshalb er sich so großartig herrichte. Er sei ins Schloß bestellt, zum Herrn Baron. Ja, wie denn das zugegangen sei. Nun erstattete er gelassen, zwar nicht ruhmredig, aber mit merklicher Genugtuung Bericht über seine Begegnung, nicht ohne daß die Tante über die ausgeteilte Ohrfeige bestürzt, voll Entsetzen die Hände zusammenschlug und sich bekreuzigte und ihn mit tausend Eiden beschwor, um Gotteswillen fernerhin keine solche Ungebühr zu wagen und sich vielmehr von dem jungen Baron nur alles gehorsam gefallen zu lassen. Dieter versprach ihr seelenruhig, was sie nur verlangte, wußte er doch viel besser, was rechtens war.

Ein livrierter Diener führte ihn im Schlosse über die Freitreppe in den ersten Stock zur Bibliothek. In einem hohen getäfelten Raume standen bis an die Decke reichende Glasschränke, hinter deren Türen sorgfältig in Leder gebundene und goldbedruckte Bücherrücken sichtbar waren. Dieter schenkte eine gute Weile den Titeln seine Aufmerksamkeit. Doch lagen die Werke seinem Geschmack und Interesse fern, wenigstens fand er keine Reisebeschreibungen, Atlanten, Tier- und Pflanzenbücher wie daheim bei der ethnographischen Gesellschaft, noch Indianergeschichten, die er sonst für lesenswert hielt, weshalb er sich von diesen toten Gegenständen abwandte und lieber in den Park hinunter sah; dann ging er auf dem glatten Parkett auf und nieder und rügte im stillen, daß man ihn solange warten lasse, wenn man ihn doch für drei Uhr bestellt hatte. Die schöne rote Stehuhr auf einer Konsole am Pfeiler zeigte bereits halb vier. Da meinte er, die Herrschaft werde vielleicht seiner vergessen haben, und er könne sich nun lieber ein wenig im Innern des Schlosses umschauen. Er öffnete leise die Flügeltür und schlich auf den Gang hinaus. Gegen die Freitreppe vermutete er mit Recht die Wohnzimmer der Herrschaft und wandte sich daher nach der entgegengesetzten Seite, wo er über eine enge Stiege zum Oberstock in einen niedrigen, bedeutend schmäleren Korridor gelangte, in welchen eine kleine weiße Tür neben der anderen mündete. Kurzweg und ohne anzuklopfen, öffnete er leise die erste Tür, um zu sehend was es hier gebe und war kaum in das Mansardenzimmer getreten, das in halber Dämmerung dalag, als ein leiser Aufschrei ihm entgegendrang. Da wohnte also wer. Schon wollte er betreten umkehren und in aller Stille sich davonmachen, als die helle Stimme lachend, aber bedeutend ruhiger ihn anrief: »Ei, was willst denn du hier?«

Dieter blieb an der Tür stehen und sah jetzt, wer gesprochen hatte: ein Frauenzimmer, das beim verhängten Fenster vor einem Toilettenspiegel saß, in einem weiten weißen Korsett und das lange, offene, braune Haar kämmte, welches ihr weit auf den Rücken hinabreichte und ganz die Schultern, den Hals und die Brust bedeckte. Nur ein volles, lächelndes Gesicht sah mit heiteren, braunen Augen hervor, die sich auf den kleinen Eindringling richteten und die Frage freundlich zu wiederholen schienen, wer er sei und was er wolle.

»Ich bin der Dieter von der Frau Nemec unten und war für drei Uhr zum Baron bestellt.«

»Also du bist der Dieter. Nun, das ist schön, daß du mich besuchst. Komm nur herein und fürchte dich nicht. Setz' dich zu mir und erzähl' mir was.«

Gehorsam und nicht ungern ließ er sich auf einen Schemel zu ihren Füßen nieder, den sie rasch von einer Last von Kleidern freigemacht und herbeigeschoben hatte.

Und nun fragte sie ihn, indem sie ihre glänzenden Haare weiter kämmte, flocht und ordnete, woher er komme und was er treibe, erfuhr seinen Namen, Stand und Beruf, seine Erlebnisse, seine Wünsche und Herzensangelegenheiten im Handumdrehen, da sie ihn auf das angenehmste zum Reden aufzufordern und auf das teilnehmendste anzuhören wußte, so daß er gleich alles und mehr noch sagte, als er wollte, und sich dabei nicht ausgehorcht, sondern recht verstanden wußte. Auch sie nannte ihm ihren Namen: sie hieß Josefine Wacha und war die Kammerjungfer der Baronin. Als sie eine Weile geplaudert hatten, sagte sie: »Ich möchte dir doch etwas schenken, Dieter, damit du dich meiner einmal erinnerst, nun habe ich aber gar nichts, was für einen Buben passen könnte, du mußt schon entschuldigen, aber nimm vielleicht diese kleine Flasche Kölnischwasser, das riecht gut, und wenn du einen Tropfen auf dein Taschentuch tust, immer hübsch auf ein reines, dann magst du wohl meiner gedenken.«

Damit schraubte sie den Verschluß ein wenig auf, probierte ihn am eigenen Haar und Halse, und als sich der starke, reine Duft kühl verbreitete, sprengte sie auch dem Jungen ein paar Tropfen auf den Kopf, dies mache ihn fein, jedem Fremden und selbst dem Baron gegenüber.

Dieter ließ sich die eigentümliche Taufe zum noblen Menschen ganz gerne gefallen und dachte später, so oft er Kölnischwasser roch, unwillkürlich an die freundliche Geberin, an das lachende, gute, runde Gesicht der Josefine Wacha mit den offenen, reichen, braunen Haaren.

Kaum hatte sie ihm die Flasche zugesteckt, als er draußen auf dem Gange gerufen wurde. »Da ist er,« antwortete sie mit heller Stimme und schob ihn zur Tür hinaus, indem sie ihm zuflüsterte: »Komm recht bald wieder und besuche mich, besonders, wenn du etwas brauchst. Ich will dir jederzeit gerne helfen, so gut ich nur kann. Leb' wohl.«

Ein Diener nahm auf dem Gange den Abenteurer in Empfang und führte ihn in die Bibliothek zurück, wo schon die ganze freiherrliche Familie versammelt war. Auf die Frage, warum er sich denn aus dem Staube gemacht und wo er sich versteckt, antwortete er getrost, er habe sich vergessen geglaubt und sei deshalb zum Fräulein Josefine Wacha gegangen.

Der Bubi zeigte ihm nun alle seine Spielsachen, lauter großartige und lehrreiche, höchst verwickelte Erzeugnisse: Maschinen, die in Gang gesetzt, sich schnurrend bewegten und eine unwillkommene und ungebetene Wirklichkeit so zulänglich darstellten, daß einem Bubenherzen gar nichts und just darum alles zu wünschen übrig blieb. Da lief auf glänzenden Stahlschienen eine wahrhaftige Lokomotive an kleinen Stationsgebäuden über richtig gestellte Wechsel vorüber, stieß naturgetreue Pfiffe und wahrhaftigen Dampf aus und zog einige Waggons erster, zweiter und dritter Klasse. Eine Elektrisiermaschine ragte mit hoher Scheibe und blinkender Kurbel und gab kleine Blitze von sich, die gar das Ungewitter von Wolken zu verhöhnen schienen. Mit einem Fuchsschwanz schlug der Bubi auf einen Harzteller und erzeugte ähnliche Funken. Dergleichen Wunder mehr wurden Dieter mit immer neuen Geräten zu geziemender Bewunderung vorgeführt. Er stand stumm und ohne sonderliche Teilnahme dabei und dachte immer nur, das müsse er ja leider in der Schule ohnehin bis zum Ueberdruß über sich ergehen lassen, nun sollte er es gar noch zum Ferienvergnügen genießen.

Als sich die übrigen Herrschaften aus dem Saale entfernt hatten, um die neuen Kameraden sich selbst zu überlassen, machte Dieter dem Bubi gegenüber auch gar kein Hehl aus seiner Verachtung solcher Spielereien. Damit gebe sich ein ordentlicher Junge nicht ab. Man lasse sich seine freie Zeit nicht mit so überflüssigem Lehrkram verderben. Das sei keine Art zu spielen und zu leben. Der erstaunte Bubi fragte, wie sich denn Dieter unterhalte.

»Komm morgen zu uns, in die Sandgrube, da haben wir Schanzen und Feuer und einen Wigwam und kochen unsere Mahlzeit und sind Indianer und ziehen auf den Kriegspfad und rauchen wieder die Friedenspfeife. Auch rauben wir Vorräte.«

»Wer seid ihr denn dort?«

»Indianer.«

»Wirkliche Indianer?«

Nur mühsam konnte Dieter ihm begreiflich machen, daß er die Dorfjungen zu Rothäuten erhoben hatte. Der Bubi zeigte freilich große Lust, mitzutun, zweifelte aber, ob man es ihm erlauben würde. Dieter zuckte die Achseln, hielt es aber gleichwohl für anständig, ihn nochmals dringendst aufzufordern, dann empfahl er sich gleich und Bubi verstand wohl, daß sein ernsthafter neuer Freund für so lächerliche Spiele mit Elektrisiermaschinen, Lokomotiven und derlei Apparaten durchaus nicht zu haben sei, wie er selbst sie jetzt auch mit anderen Augen, ja haßerfüllt ansah. Seine Bitten, am nächsten Tage ins Dorf hinunter zu den Indianern gehen zu dürfen, waren so inständig, daß man ihm, nicht ohne schwere Bedenken und wie sich zeigte, unter allen Vorsichtsmaßregeln, die Erlaubnis gab.

Dieter stand in der Sandgrube mitten unter seinen Gesellen und überwachte gerade das Feuermachen, als er von weitem zwei Feinde gewahrte, die sich näherten. Schon wollte er seinem Stamme gebieten, sich schußfertig zu halten und die Ankömmlinge mit einem sicheren Pfeilregen zu überschütten, als er den Bubi erkannte, der neben einem fremden Herrn ging.

Dieter sagte in aller Eile seinen Leuten, der junge Baron komme, um vielleicht mit ihnen zu spielen. Die bestürzten Dorfbuben wollten sich sogleich der angedrohten Ehre durch die Flucht entziehen. Doch vermochte Dieter mit dem strengsten Befehle sie zum Bleiben zu bewegen, indem er ihnen versprach, der Bubi müsse sich in allem ihren gemeinsamen Sitten und Beschlüssen fügen, sonst werde er selbst ihn unnachsichtig davonjagen.

Indessen war der Feind herangekommen. Bubi begrüßte Dieter aufgeregt und ängstlich, indem er auf seinen Begleiter deutete, als auf den Herrn Doktor, den Hofmeister; Dieter maß diesen ungebetenen Gast ohne Gruß mit einem kurzen abweisenden Blick, die Indianer standen stumm da, und der vor kurzem so lebhafte Wigwam schien erstarrt.

Endlich glaubte der Hofmeister durch ein verständnisvolles Eingehen auf die jugendlichen Interessen vermittelnd und erzieherisch einwirken und die Lage retten zu sollen.

»Was macht ihr denn da? Mir scheint, ihr habt ja einen Ofen gebaut?«

Keiner gab eine Antwort.

Der Hofmeister näherte sich der Feuerstätte und begann seinem Zögling zu erläutern, wie ein Kamin angelegt sein müsse, damit die Flamme unten richtig brenne und den Rauch oben ungefährdet ins Freie lasse. Dabei mengte er allerhand prahlerische Ausdrücke, wie »horizontal«, »vertikal« recht absichtsvoll ein und verband mit der Demonstration eine kleine Erinnerung an den pythagoreischen Lehrsatz, an die Wärmelehre und andere Wissensgebiete, was das Unbehagen und die Verachtung Dieters, die stille Empörung seiner Gesellen vermehrte, die von all den großen Worten schon als von deutscher Rede nichts verstanden.

»Ihr habt ja auch ein Feuer angemacht?« fragte der Hofmeister weiter. Dieter zuckte die Achseln, der Esel sah es doch rauchen und brennen.

»Womit heizt ihr denn?«

»Mit Kohle und Holz.«

»Woher habt ihr denn die Kohle?«

»Erbeutet.«

»Erbeutet? Was ist das für eine Rede? Ihr habt sie wohl von der Straße aufgelesen, wo die großen Kohlenwagen vorbeifahren. Das ist aber Diebstahl, merkt euch das, und laßt es euch nicht mehr beifallen.«

Dieter horchte erstaunt auf, da hatte er doch etwas Neues, Brauchbares von dem überflüssigen Herrn erfahren, daß nämlich auf der Straße Kohlenwagen zogen und das werte Feuerungsmaterial fallen ließen, so daß man sich nur zu bücken brauchte, um den nötigen Vorrat zu bekommen, während sie bisher solche Mühe gehabt, ihn von der Esse des Schmiedes, von jedem Dorfherd stückweise zu stehlen und wie leidiges Gold zu sammeln, bis sie zu einem anständigen Feuer genug hatten. Er nahm sich vor, mit seinen Genossen diese neue Kunde unverzüglich auszunützen. Da sich leider mit der ganzen halsstarrig unzugänglichen Gesellschaft nichts rechtes anfangen ließ, erklärte der Hofmeister, das sei kein richtiger Herd, überhaupt gefalle ihm dieses Spiel nicht sehr, sie würden lieber an dieser Stelle morgen einen kunstgerechten Kamin bauen, heizen und etwas Ordentliches schaffen.

Dieter hörte gelassen zu und antwortete nichts auf die bekümmerte Frage des Bubi, ob er morgen auch wieder herkommen werde, sondern wandte sich wortlos ab. Der Hofmeister sagte, nun müßten sie wieder gehen, befahl seinem Zögling, ihm zu folgen und machte kehrt; der Bubi blickte ratlos und bekümmert dem ganzen Sandhaufen, seinem unnahbaren bedeutenden Kameraden, den drohenden Indianern, dem unvollkommenen, köstlich rauchenden Ofen nach und stolperte Schritt für Schritt hinter seinem Lehrer drein. Als sich die zwei entfernt hatten, unterrichtete Dieter mit kurzen Worten seine Gefolgschaft von der Absicht der Gegner, und der ganze Stamm schwur sich zu, deren Pläne und Angriffe tapfer zurückzuschlagen.

Am nächsten Tage starrte der Wigwam von Waffen. Noch nie waren so viele Pfeile geschnitzt und aufgeschichtet, so viele Bogen bereitet, so viel Kohle gestohlen worden. Dieter stand als Feldherr inmitten der Seinigen und gebot ihnen, einstweilen zu warten, was der Feind unternehmen würde und sich in allem der Umsicht des Führers anzuvertrauen. Die böhmischen Dorfbuben lauerten ingrimmig, dem jungen deutschen Baron ihre Macht zu zeigen. Es herrschte eine rechte Schlachtstimmung. Schon sah man aus der Ferne die Schar der Feinde sich nähern.

Der Hofmeister ging voran; zögernd, doch nicht ohne Selbstbewußtsein folgte der Bubi, zuletzt schob ein Lakai einen Karren mit Ziegeln, ein anderer einen mit schön gespaltenem Kienholze und mit Kohle voll beladenen. Etwa hundert Schritte vom Wigwam entfernt, machte das Trüpplein halt, begann die Vorräte auszuladen und schickte sich zum Bauen an. Der Bubi stand da, schaute zu Dieter hinüber, winkte und rief, er solle kommen. Der aber antwortete mit keiner Gebärde und wollte ihn um alles nicht bemerken. Der Bubi sprach verzweifelt auf den Hofmeister ein. Dieser schien ihm zuzureden, auf die unnütze Teilnahme dieser Dorfburschen zu verzichten, doch offenbar vergeblich, denn der Zögling riß sich los und eilte auf den Wigwam zu. Die kriegslustigen Indianer hätten ihn unfehlbar mit einem Hagel von Pfeilen empfangen, wenn ihnen Dieter nicht Einhalt geboten hätte, zuerst müsse man den Parlamentär anhören. Flehentlich beschwor der junge Baron den Häuptling, er solle doch hinüberkommen, sie wollten einen schöneren Ofen bauen, warum er denn durchaus nicht mittun möge. Dieter schüttelte den Kopf: »Das ist kein Spiel, wo ein Hofmeister und zwei Bediente sich patzig machen. Schämst du dich nicht? Bau nur deinen Ofen. Wir werden ja sehen, ob du ihn zustande bringst mit allen deinen Leuten.«

Als das inständige Zureden nichts fruchtete, regte sich der Stolz des kleinen Freiherrn, und er zog erbittert und trotzig ab.

In seinem Konkurrenzlager hatte man indessen mit dem Bau begonnen. Die schönen, weißlackierten Schubkarren wurden entladen, im Schweiße ihres Angesichtes mauerten die beiden Diener Ziegel an Ziegel und schufen einen ernstlichen soliden Unterbau für den beabsichtigten Kamin. Nun teilte Dieter seinen angriffslustigen Kameraden den Kriegsplan mit.

Er selbst wollte auf den Hügel klettern, der die Sandgrube beherrschte und von dort mit einem schrecklichen Kriegsruf einen ordentlichen Stein auf den feindlichen Kamin hinabschleudern, während sie im selben Augenblicke einen Hagel von Pfeilen auf die Fremden loslassen sollten.

Gesagt, getan. Ohne daß der Hofmeister und seine Leute sich einer solchen Tücke versahen, hatte Dieter schon die Höhe erreicht, einen ausgiebigen Block Erde gelöst und ließ ihn langsam, aber sicher zielend entrollen, rief »Ahoi« und nun ging die Lawine los. Den Bubi warnte Dieter noch großmütig, er solle zur Seite springen. So wurde zwar das Leben der Feinde geschont, aber der Stein begrub den ganzen angefangenen Herd, die schönen Schubkarren, Kohle, Holz und Baugeräte und zerwarf sie in Trümmer. Ein mächtiges Lachen der triumphierenden Rothäute scholl über die ganze Sandgrube, und den Besiegten blieb nichts übrig, als das Feld zu räumen. Beleidigt und unter Androhung böser Folgen dieser »Gemeinheit«, befahl der Hofmeister die Umkehr und verließ, den Bubi an der Hand nehmend, den Kampfplatz.

Dieter rauchte inmitten seiner Schar voll Genugtuung die Friedenspfeife.

Nach Hause zurückgekehrt, fand er die Tante in schlimmster Aufregung, tränenüberströmt, den Stallmeister unruhig in der Stube auf und ab gehend. Die Frau empfing ihn mit vielen Fragen, was es denn schon wieder gegeben, was er denn neuerdings angestellt; soeben sei ein Diener dagewesen und habe ihn für morgen um drei Uhr ins Schloß bestellt, aber diesmal zum alten Herrn Baron mit dem Beifügen, der sei wütend und verstehe keinen Spaß.

Dieter hörte dieses Durcheinander von Jammer, Anklagen, Drohungen und Bitten, betrübt, doch im Bewußtsein seines Rechtes, nicht sonderlich unruhig an. Soviel man aus ihm herausbringen konnte, hatte er durchaus nur getan, was nötig war. Die Tante schlug die Hände über dem Kopf zusammen und jammerte, je mehr sie des Unglücks vermutete und erfuhr. Schließlich verwies sie der Stallmeister streng zur Ruhe; Dieter sei ein gescheiter Bursch, mit dem man wohl eine ernste Sache auch aufrichtig besprechen könne. Freilich habe Dieter durchaus seiner Verpflichtung als Häuptling genügt, aber der Bubi sei immerhin der Sohn des Brotherrn, von dem er, der Stallmeister, seinen Gehalt beziehe und ohne weiteres gekündigt werden könne, wenn es dem Baron so gefalle. Nun sei er aber nicht mehr der Jüngste und ans Haus, an die Gegend, Wohnung und Leute so gewöhnt, daß er nur schwer anderswo sich einleben würde, selbst wenn er eine zweite Stellung der Art leicht fände. Der Baron sei gewiß ein sehr anständig und billig denkender Mann, der ihn wohl kaum des Bubi wegen entlassen werde. Doch müsse er als bejahrter Mensch täglich mit dem Herrlein ausreiten, das, so still und verzärtelt es auch scheine, sich auf dem Roß oben wie der leidige Teufel betrage und über Stock und Stein hetze. Korpulent und kurzatmig, wie er leider bei seinen Jahren sei, vertrage er dies tolle Reiten gar nicht mehr gut, müsse dabei schier um das eigene Leben fürchten, doppelt aber um das Heil des anvertrauten Knaben, für dessen gesunde Glieder er die Verantwortung trage. Der Bubi brauchte nur, um ihm einen Possen zu spielen, etwa noch mehr zu hetzen als sonst und dabei Schaden zu nehmen, und es sei sicherlich zu allererst um den Stallmeister geschehen. Daher möge Dieter ein Einsehen haben und sich selbst ein Unrecht gefallen lassen, jede Strafrede getrost einstecken, ohne keck zu antworten, denn ihm könne doch im Grunde gar nichts geschehen. Er, der Onkel, bitte ihn darum, denn Dieter sei ja ein gescheiter Mensch, der die Lage wohl begreife.

Die Tante verstand zwar nicht, wie der Mann mit dem Buben so viel Wesens machen und sich gar auf gleich und gleich auseinandersetzen konnte und zeterte nach ihrer Weise, aber Dieter blieb nachdenklich und sah nun selbst dem Tage des Gerichtes bekümmert entgegen.

Die Tante putzte ihn heraus und schärfte ihm nochmals mit weinerlich lauter Stimme bündige Verhaltungsmaßregeln ein, die er ruhig von einem Ohr durchs andere ziehen ließ, während er die bescheidene Rede des Stallmeisters besser beherzigte. Mehr als eine Stunde vor der angesagten Audienz machte er sich davon. Er wollte allein die ganze mißliche Sache erwägen und zumindest außer Bereich des weiblichen Jammers sein Leid männlich austragen. Er dünkte sich recht verlassen und ohnmächtig. Und wie er so vor dem Schlosse auf und ab ging, fiel ihm die freundliche Kammerjungfer ein und ihre Aufforderung, sie zu besuchen, wenn er etwas brauche. Als er sich an das enge, behagliche, niedere Dienstbotenzimmer erinnerte, wünschte er sich ihren Zuspruch und Trost und gedachte jetzt zum erstenmal nach langer Zeit seiner verlorenen Mutter und daß es Augenblicke gab, wo man wahrlich ihres Vertrauens schmerzlich bedurfte und sich nicht schämen mußte, seinen Kummer zu klagen, etwa gar zu weinen und zu bekennen, was man auf dem Herzen hatte.

Da schlich er also über die Treppe hinauf und pochte bei Josefinens Tür an. Der Zufall wollte es, daß sie wiederum in ihrem Zimmer war, diesmal bei einer Näharbeit, und ihm lächelnd öffnete. Sie sah es ihm gleich am Gesichte an, daß er heute mit Sorgen kam, ließ ihn auf dem Schemel zu ihren Füßen Platz nehmen und fragte, was es denn gegeben.

»Haben Sie denn nichts gehört?«

»Nicht ein Sterbenswort,« versicherte sie. Es beruhigte ihn ein bißchen, daß man von seinen Taten im Schlosse nicht gar zu viel herumgesprochen hatte. Nun berichtete er ihr wahrheitsgetreu das Vorgefallene, mit heißen Wangen und voll Zorn im Bewußtsein seines guten Rechtes.

Das Frauenzimmer saß still über die Näharbeit gebeugt, hörte ihn ruhig an; sie unterbrach ihn nur gelegentlich mit einer Frage, die zur Sache gehörte, sie zankte nicht und jammerte nicht, ja sie lächelte nicht einmal, sondern wartete, bis er fertig war und sprach dann: »Warum willst du nicht alles, was du mir jetzt erzählt hast, genau ebenso dem Herrn Baron sagen? Er ist ein guter Mensch, der ein aufrichtiges Wort gern anhört. Er würde dir sicherlich nichts tun, selbst wenn du was Arges angestellt hättest. Du kannst ihm getrost berichten, wie du über den Handel denkst. Im schlimmsten Falle wirst du eben mit dem Bubi nicht mehr spielen dürfen, und darum ist dir ja, wenn ich dich recht verstanden habe, nicht gar so viel zu tun. Mir scheint aber, jetzt ist es an der Zeit, geh also ruhig hin und laß mich bei Gelegenheit wissen, wie alles verlaufen ist. Ich will mich freuen, wenn du mich wieder einmal besuchst.«

Damit gab sie ihm die Hand und öffnete ihm die Tür und nickte ihm herzlich zu und entließ ihn gestärkt, ermutigt und wohlberaten.

In der Bibliothek saß bereits der Herr Baron an seinem Schreibtische und sah Dieter erwartungsvoll an, der sich verbeugte und halb beklommen, halb stolz seinen »Guten Tag« sagte.

»Servus. Also was hat's denn gestern gegeben? Du hast ja meinem Buben den schönen Ofen, die Schubkarren und Geräte zerstört, ganz zertrümmert und hättest, wie ich hörte, bei einem Haar mit einem Stein ihm selbst oder dem Herrn Doktor einen Schaden getan. Wie ist denn das zugegangen?«

Nun begann Dieter nach dem Rate seiner mütterlichen Freundin, sich alles vom Herzen zu reden. Ohne Aufsicht und Einmischung hätte er sich mit den Dorfbuben recht gut vertragen und unterhalten. Sie hätten gebaut und geheizt, gejagt und geschossen, ihre Kartoffeln gebraten und die Werke des Krieges und Friedens getan, wie es sich schickte. Daran hätte der Bubi, wenn er Lust gehabt, so gut wie jeder andere teilnehmen dürfen. Er, Dieter, habe sich um Bubis Gesellschaft nicht beworben, sondern das Umgekehrte sei der Fall gewesen, und die übrigen Jungen hätten sich nicht leicht zum Spielen mit dem kleinen Baron bereit finden lassen, da sie sich vor dem ganzen Schlosse fürchteten. Doch er, als Häuptling, hätte ihm sicherlich Aufnahme und gleiches Recht zu verschaffen gewußt. Statt dessen aber zog der Bubi mit einem Hofmeister daher, der sich in alle Sachen, die ihn nichts angingen, einmischte, aus dem Spiele eine Prüfung machte, unwillkommene und unpassende Belehrungen anknüpfte, in ihre Unternehmungen hineinredete und gar am nächsten Tage selbst mit Hilfe von Bedienten in ihrer Sandgrube, in ihrem Jagdgebiete, ohne zu fragen und ohne Erlaubnis, einen Kamin bauen wollte und ein Lager aufschlug. Diese feindliche Handlung mußte er als Häuptling mit allen Mitteln bekämpfen und zunichte machen. Da sei nicht der Bubi in Frage gekommen, der sich überhaupt einer ernsten Gesellschaft noch gar nicht würdig gezeigt habe, sondern ein ungerufener und unwillkommener erwachsener Eindringling, den es eben zu verjagen galt. Das sei keine Art zu spielen und unter Buben zu leben. Wer sich da nicht in die gewohnte Sitte schicken könne oder dürfe, der müsse eben fortbleiben. Ueberhaupt möchte er lieber mit dem Bubi gar nichts mehr zu schaffen haben, der gar noch seinen Onkel, der doch schon alt und ein wenig beleibt und kurzatmig sei, beim Reiten hetze und so toll losjage, daß der Stallmeister gar keine Verantwortung mehr tragen könne und ständig in Furcht schwebe, es möchte ein Unfall passieren. So weit kam Dieter mit seiner Rede und schwieg endlich, da ihm die Worte ausgingen und sich Furcht allmählich an Stelle der Zuversicht eingeschlichen hatte.

»Ei, zum Teufel. Das hab' ich ja alles nicht gewußt. Eine schöne Bubenerziehung! Der Doktor hat die Verantwortung für alles. Was ist das für eine Pädagogik! Ich will schon dafür sorgen, daß das anders wird. Aber deinen Onkel sprechen wir zuerst.«

Damit läutete er und befahl den Stallmeister herauf, der betreten und über und über rot an der Tür erschien.

»Was hör' ich, Nemec? Sie wollen nicht mehr reiten?«

»Aber Herr Baron,« stammelte der und meinte schon die Fortsetzung zu vernehmen, wenn er nicht mehr reiten wolle, könne er auf und davon gehen.

»Warum sagen Sie denn nicht ein Wort? Das ist ja Ihre Sache nicht, mit dem Bubi auszureiten. Dazu taugt ja irgendein junger Reitknecht. Dazu brauch' ich doch Sie nicht. Lassen Sie es nur immer bleiben. Und jetzt nehmen Sie den Dieter mit, der hat mir über vieles reinen Wein eingeschenkt, er ist ein ganz aufgeweckter Bursch; wenn er sich meines Sohnes doch noch annehmen will, soll's mich freuen. Von morgen ab darf der Bubi allein mit euch spielen, wie ihr es gewohnt seid und ohne Aufsicht, wenn ihr es erlaubt und er sich dabei anständig hält. Nimmst du ihn mit?«

Dieter nickte »ja« und der Baron gab ihm die Hand zum Abschied.

Am nächsten Tage fand sich der junge Baron schon in aller Früh beim hocherfreuten Stallmeister ein, um Dieter abzuholen, der, ohne sich zu beeilen, seine Milch trank und schließlich mit seinem Schutzbefohlenen die Sandgrube aufsuchte. Die Dorfbuben wollten zuerst, als sie den gefürchteten kleinen Freiherrn wieder sahen, ausreißen und ließen sich nur nach langem Zureden zum Bleiben bewegen, faßten aber einiges Zutrauen, als auch der Bubi sie ganz unerwarteterweise böhmisch ansprach und sich allen Befehlen des Spieles und allen Forderungen des Indianerdienstes aufs bescheidenste fügte. So gruben und bauten sie nach Herzenslust, zogen zu Felde, kehrten zurück, saßen im Wigwam, und als sie Hunger bekamen, leitete Dieter die Heizung und ließ ein mächtiges Feuer anzünden. Nun fehlten aber die Kartoffeln. Der eilfertige Bubi erbot sich, gleich welche vom Schlosse aus der Küche zu holen, da fuhr ihn Dieter an: »Schon wieder vom Herrn Hofmeister oder von der Jungfer Köchin zu Hause? Ein anständiger Indianer stiehlt die Erdäpfel vom Felde. Geh' und bring' welche von den Aeckern, wo du sie findest.« Gehorsam machte sich der Bubi auf und kehrte nach einer guten halben Stunde in der Tat mit einem Schock zurück.

Man briet die Beute in der Asche, und der junge Baron glaubte in seinem ganzen Leben noch nie so wohlschmeckende Kartoffeln gegessen zu haben. Seit diesem Tage mußten sie auch für die Herrschaften in der Asche gebraten werden und mundeten dort bei den Mahlzeiten vortrefflich.

Während Dieter als der Führer »Inkas« hieß, bekam Bubi den Indianernamen »Unkas« und fügte sich bald und beflissen in alle eigentümlichen Sitten des Stammes. Dies bemerkte freilich weder er, noch Dieter, noch die anderen Dorfbuben, daß vom Balkon des Schlosses zur Stunde etliche Fernrohre auf die Sandgrube gerichtet waren, mit denen der Baron und seine Frau, der Herr Hofmeister, die Gouvernante und Bubis Schwester, die Baronesse Tinka sorgsam das Treiben der ungebundenen Schar beobachteten und ob dem vielgeliebten Knaben kein Uebles geschah.

Nachdem derart der Friede unter den Buben hergestellt war, gab es täglich die schönsten Abenteuer und Feldzüge, an denen der kleine Baron wie eine eingeborene Rothaut teilnahm, Verletzungen bei Kämpfen mit Geduld und Würde ertrug, gelegentlich Prügel zur Strafe bekam oder Ueblichkeiten aus Anlaß der Friedenspfeife bestand, denn die Nußblätter waren nicht leicht zu rauchen.

Dieter wieder kam auch oft genug zur Familie ins Schloß, wurde immer mit allen Ehren aufgenommen und durfte seinerseits an den freiherrlichen Sitten teilnehmen und sogar reiten lernen, worin ihm wieder der Bubi überlegen blieb. Einmal näherte sich ihm die kleine Baronesse Tinka und fragte ihn flüsternd: »Der Bubi heißt also Unkas?«

Darauf runzelte Dieter die Stirne: »Woher wissen Sie das?«

»Er hat's mir gesagt.«

»Das wird er mir büßen, der Schwätzer. Er wird Schläge bekommen.«

»Warum denn um Gottes willen?«

»Weil er uns verraten hat.«

»Das hat er doch nur mir und ganz im Vertrauen erzählt, ich sag' es gewiß nicht weiter. Keiner Seele sag' ich's.«

Darauf ließ Dieter mit sich reden und sich weiter ausfragen, ob denn nicht auch Frauen bei den Indianern seien. Nein, da waren keine. Dieter behielt den Grund für sich, daß er eigentlich die Weiber nicht leiden mochte und sagte bloß, die Dorfbuben brächten ihre Schwestern nicht mit, aber bei den wirklichen Indianern gäbe es immerhin Weiber.

»Und wie heißen denn die?«

»Squaw.«

»Also heiße ich deine Squaw.« Das war er zufrieden. Wenn sie nur auch den Wigwam sehen könnte. Das ging leicht genug, sie möchte nur auch mitspielen. Ach, das könne wohl nicht sein, das würde ihre Mama nicht erlauben, es schicke sich doch nicht, aber sie hätte, weiß Gott, große Lust. Dann solle sie nur ohne Erlaubnis kommen, und zwar wollten sie am nächsten Morgen, wenn Baronesse Tinka ausritt, ihr Pferd unbemerkt zur Sandgrube führen und von einem Busch gedeckt, anbinden, indes sie mitspiele, solange sie Lust habe.

Auch das geschah, und sei es, daß die Eltern nichts bemerkten, sei es, daß sie mit einigem Vergnügen beide Augen zudrückten, genug, Tinka kam recht oft in den Wigwam, um eine richtige, brave Squaw zu werden und das rauhe Jagd- und Lagerleben zu teilen, Kriegs- und Friedenspfad mit zu beschreiten. Ob sie die berühmte Pfeife rauchen mußte, ist allerdings nicht in Erfahrung zu bringen. So verstrich ein schöner, rascher Kindersommer mit seiner Sonnenhitze, seinen Augustgewittern und blauen oder wolkengrauen Tagen, bis im Herbst das große Fest kam, das Ablassen des Fischteiches. An dieser Unterhaltung, die zugleich auch ein Haupterwerb der Schloßbewohner war, nahm groß und klein Anteil. Da wurden mächtige Tröge und Bottiche aufgestellt und die freiherrliche Familie stand freundschaftlich neben dem Stallmeister und beobachtete, wie das Wasser langsam abfloß und schließlich nur als dicke trübe Lache kaum den Boden bedeckte, während die mächtigen vierjährigen Karpfen um sich schlugen, zitterten und ihre Schuppen glänzten. Dazwischen schossen kleine silberschimmernde Stichlinge, und durch die Luft zog ein eigentümlicher Fischgeruch, welcher Dietern wunderlich an das salzige Meer erinnerte, so daß er sich recht darnach sehnte, einmal Seefahrer zu werden und Heringe zu fangen.

Mitten unter diesem lebhaften Treiben erscholl mit einem Male das Posthorn, und auf der Hauptstraße erschien die schwarzgelbe Kutsche. Ganz oben auf dem Bocke saß Dieters Vater, der seinen Buben abholen und nach Wien bringen wollte. Man begrüßte ihn freundlich, der Baron schüttelte ihm die Hand und hieß ihn willkommen. Schade, daß der Junge schon wieder fort müsse, den er recht lieb gewonnen, denn der Bubi habe an ihm einen guten Kameraden gefunden. Herr Dieter fragte ehrerbietig, ob sein Sohn sich denn auch anständig aufgeführt. Da war nur eine Stimme des Lobes. Dieter der jüngere mochte dergleichen Konversation nicht anhören und schlich davon. Frau Nemec ließ es sich nicht nehmen, dem Schwager von seines Sohnes Taten und seiner Aufrichtigkeit zu erzählen, der sie nun ein viel schöneres Leben verdankten, indem der Bubi statt mit dem Stallmeister seither mit einem jungen Reitknecht ausritt oder sich in der Sandgrube vergnügte.

Zum Abschiede begab sich Dieter noch einmal ins Schloß, dankte dem Baron und der Frau Baronin für alle ihre Aufmerksamkeit, Güte und Gastfreundschaft und empfahl sich. Der Baron sagte: »Du wirst doch allerhand Wünsche haben, nicht wahr? Ich denke, einen Zehner könntest du immerhin brauchen. Was wirst du dir dafür kaufen?«

»Indianerbücher. Ein neues Taschenmesser . .«

Und das übrige wolle er sich aufsparen, bis er vielleicht einmal ein Flaubertgewehr oder sonst irgend was bedürfe. Das hieß der Baron gut. Der Bubi nahm Dieter das Versprechen ab, bald und ausführlich zu schreiben, so recht als Inkas dem geliebten Unkas.

Schließlich besuchte Dieter noch die Baronesse Tinka in ihrem Zimmer, welche recht gerührt war, daß der Häuptling nun fort mußte. Sie wollte ihm ein Andenken an den schönen Sommer mitgeben, aber sie wußte nicht recht was und hatte doch nichts, was ihm Freude machen könnte. Sie zog schließlich ein silbernes Armband ab und legte es ihm selbst um das rechte Handgelenk, das müsse er tragen und ihrer dabei gedenken. Dieter versprach es, doch zog er sorgfältig den Aermel über das blitzende Geschenk.

Dann packte er mit dem Vater in des Stallmeisters Stube alle seine Siebensachen, dann kam wieder der Postwagen, und während alles beim Teiche der großen Fischbeute zusah, fuhren sie davon. Das Horn des Postillons scholl weithin über Land. Da zog die Kutsche am Fischteiche vorüber und die ganze Familie des Herrn Barons wehte mit den Taschentüchern, der Bubi-Unkas, die Baronesse Tinka als einsame Squaw, die gute Frau Baronin, sogar der Herr Hofmeister zog seinen steifen Hut, während Dieter und sein Vater zurückwinkten. Und da wehte noch ein Taschentuch? Wer war denn das? Jetzt hatte Dieter richtig vergessen, von der Josefine Wacha Abschied zu nehmen, die nun aus der Weite grüßte. Aber ihre Flasche Kölnischwasser trug er in der Brusttasche.

In Wien angelangt, dachte er noch manchen Tag des ereignisreichen Sommers; auf Geheiß seines Vaters schrieb er dem Herrn Baron eine sehr schöne Danksagung für alle genossene Huld und Güte und empfahl sich dem ferneren Wohlwollen. Dem Bubi schrieb er einen geheimen Brief, desgleichen einen der Baronesse Tinka, als Indianerhäuptling Inkas seinem gehorsamen Unkas und seiner Squaw. Damit die beiden aber diese nicht für andere Aufsichtspersonen bestimmte Nachricht auch erhielten, adressierte er sie an das Fräulein Josefine Wacha, die darum auch mit ein paar Zeilen bedacht wurde.

Ob diese Schriftstücke ihre Bestimmung erreichten, erfuhr er nicht, denn er erhielt keine Antworten.

Das silberne Armband verbarg er einige Zeit sorgfältig unter dem Hemdärmel; da er sich aber fürchtete, man möchte diesen Weiberschmuck an ihm einmal sehen und verspotten, trug er es dann eine Zeitlang am Beine über dem Schuh, bis er es auch von dort abnahm und in einer Lade zu anderen früheren Erinnerungen legte und verbarg, die im Sommer geblüht, um in einem langen Schulwinter allmählich zu verblassen und zu verwelken, bis er ihrer vergessen hatte.


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