Otto Stoessl
Morgenrot
Otto Stoessl

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XIV.

Der Toni sollte, da ihn das Gymnasium nicht litt, in der Lehrerbildungsanstalt weiterstudieren, Dieter aber wartete einstweilen in gutem Müßiggang, bis ein kaufmännischer Machthaber seine kommerziellen Fähigkeiten in Anspruch nehmen würde. Vorläufig sandte er nach allen Windrichtungen Oesterreichs, wo irgendeine Stelle angekündigt war, seine mit sauberster Handschrift und in wohlgesetzten Worten abgefaßten brieflichen Angebote und freute sich, gar keine oder nur ablehnende Antworten zu bekommen. Die Nachmittage aber verbrachte er mit Toni im Café Faltisek, mit dessen übrigen Stammgästen sie sich längst angefreundet hatten. Der Finanzer, ein leidenschaftlicher Dominospieler, fand in den beiden Jünglingen hochwillkommene Partner. Die Partie zu zwei Kreuzern ergab für die beiden Freunde stets einen Gewinn, indem sie sich beim Ansagen der zu besetzenden Steine bestimmter, verabredeter Wendungen bedienten, durch welche sie einander den Stand ihrer Dinge bekannt gaben, so daß einer von ihnen siegen mußte, was einen hübschen Beitrag zu ihrer Zeche lieferte. Alle vierzehn Tage gab es als heitere Separatvorstellung für unsere jungen Freunde einen bitterbösen Streit, indem der Wirt, Herr Faltisek, den mittlerweile angesammelten Groll auf das Haupt des armen Monsieur Tschik entlud. Dieser verzehrte nämlich nur selten ein Gläschen Slivowitz, meist gar nichts, verweilte aber dafür vom frühen Nachmittag bis in die späte Nacht im durchwärmten Kaffeehause, sammelte Zigarrenstummel und belästigte die vornehmeren Gäste durch seine friedfertigen, doch unverlangten Ratschläge. Einmal in vierzehn Tagen hielt ihm der erzürnte Wirt eine ingrimmige Standrede, er könne solche Gratisgäste nicht brauchen, die sein Lokal in übeln Ruf brächten und dem feinen Publikum den Raum wegnähmen. Monsieur Tschik begehrte weinerlich auf, so etwas sei ihm noch sein Lebtag nicht passiert, und er werde nie mehr wiederkommen, so schnöde Behandlung habe er unter gebildeten Leuten nicht vermutet. Damit schlich er greinend davon, blieb zwei ganze Tage fern, um danach wieder, still am Ofen lehnend, sich von neuem tunlichst wohlfeil am beobachteten Spiel der Zahlungsfähigeren zu vergnügen, fromme Ratschläge zu erteilen, Zigarrenreste verstohlen aufzulesen und Herrn Faltisek, der ihn übersah, weiterhin zu ergrimmen bis zum nächsten Termin des Ungewitters.

In diesem Kaffeehause berichtete der Toni dem ahnungsvollen Freunde das Geheimnis des verwichenen Sommers: er hatte eine Liebe gefunden, im Innviertel; in dem Dorf, wo er im Wirtshaus auf der Bank geschlafen, am Sonntag zum Tanz gefiedelt, Leichen- und Hochzeitsschmäuse als geehrter Gast besucht, gab es einen Posthalter, welcher zwei Töchter besaß, eine siebzehnjährige, genau so alt wie er selber, der Toni, und eine vierzehnjährige, beide wunderschön, aber die ältere zum Verlieben, die jüngere noch ein ganzes Kind. Darum hatte er sich getreulich in die ältere verliebt, weil sie dazu geschaffen war, als der schönste Engel, den diese Erde trug, schwarzhaarig, schwarzäugig, leichtfüßig, fröhlich wie der Herrgott am siebenten Schöpfungstag. Sie tanzte wie eine Elfe unter den Bäuerinnen draußen und überstrahlte die vielen annehmlichen Mädchen der Gegend wie der Mond alle Sterne. Wenn sie zierlich einherschritt, schwebte ihr Fuß so sanft, daß er keinen Halm knickte und voll Anmut wandelte sie, über bewundernde Herzen hin, wie über das grüne Gras. Einen Sommer lang gehörten alle seine Gedanken und Hoffnungen, sein Reden und Schweigen diesem einzigen Wesen und würden sein Lebenlang gleich unverwandt diesem wohlgestalteten Triumphlied der Allmacht gehören, wie ein winziger Ton dem großen Gesange der ewigen Schönheit.

Und wußte sie von seinem Gefühl? Wer sollte dem Toni auf diese Frage antworten? Sie wußte sicherlich, daß er sie liebte, wie der Gott jeden Gläubigen kennt, der zu ihm betet, sie sah jeden Blick, der sie traf, ahnte jeden Gedanken, der ihr huldigte. aber da keiner sie ohne Entzücken anschaute, war er, Toni, ihr gleich nah und fremd, wie jeder andere. Am Abend aber wandelte sie Arm in Arm mit ihrer jüngeren Schwester unter den übrigen Dorfmädchen auf der weißen Landstraße, lachend, schwatzend, zuweilen auch, und oh, wie süß, Lieder singend, dahinter schritten die Anbeter und sandten zu den schnippischen Mädchen Scherzreden, welche von diesen wie Federbälle zurückgeschlagen wurden. Weil er aber der erwachsenen Hedwig nichts sagen konnte, hielt er sich an ihre jüngere Schwester, an ein liebes, zutrauliches Kind und gewann deren unbefangene Freundschaft. Von diesem offeneren Gemüt suchte er zu erfahren, was die ältere sann und wünschte. Indem er in die Seele der jüngeren mit Spiel und Freundlichkeit und unscheinbaren, doch ernstlichen Andeutungen hineinrief, hoffte er das Echo der begehrten älteren zu erwecken, bis daß aus der jüngeren wohl einmal die ältere sprechen sollte, mit einer Botschaft, die eine Jungfrau einem unwissenden Kinde anvertraut. Irgendwie würde er doch Antwort bekommen, so hoffte er, und indem er der jüngeren ein Kamerad wurde, der älteren gemach ein süßer Freund werden. Das sind so die unschuldigen Listen und frohen Tücken und die großen Torheiten der schwärmenden Liebe, um ein fremdes Herz zu werben, indem man ein unschuldiges, anderes umschmeichelt, welches dem ersehnten nahe liegt. Zwei Schwestern schlafen Bett an Bett. Am Abend, wenn der Mond scheint, liegen sie mit offenen Augen und schwatzen vom vergangenen Tage. Die jüngere hat viel zu erzählen von allen Kinderspielen und dabei vom Toni und nennt oft und oft seinen Namen. Die ältere soll ihn hören und wieder hören und merken und solange als lieb und brav sich vorsagen lassen, bis ihr ruhiges Herz nach ihm zu fragen beginnt. Was will der Toni von mir, was sagt der Toni, was meint der Toni? In der Nacht aber soll der schüchterne, traurige Liebhaber durch den Mund eines Kindes zur erwachsenen Schwester sprechen, zärtlich wie ein fragender Vogel, unablässig wie der silberredende Bach, innig wie der bleiche Mond. Und so lange soll der Demütige und Schweigende also aus der Ferne werben, bitten, wollen und schöntun, bis der Strahl seiner geduldigen Liebe dies kühle Jungfernherz glühen gemacht hat. Wo bist du, schönste Hedwig? Wann wird dein Herz, das an der Seite der vierzehnjährigen Schwester ruht, zu wollen beginnen:

»Toni, ich komme zu dir?«

Aber die beiden Schwestern lagen schwatzend zur Nacht nebeneinander in der Stube, die jüngere erzählte, bis sie müde wurde und bis ihr Schwatzen sich in einen leisen Traum verlor und die ältere hörte zu, bis der Schlummer ihre fein gedrechselten Oehrlein unter den offenen schwarzen Haaren schloß. Aber nicht einmal in den Garten ihrer Träume ließ sie den ungebetenen Gast schlüpfen, geschweige denn in das versiegelte Haus ihres Herzens. Und keine Antwort, weder Ja noch Nein, kein allerwinzigstes Zeichen, kein Begehren, noch Widersagen kam von ihr zum Toni. Aber wenn die allerbeste Frage keine Antwort erlangt hat, ist's noch immer besser, als ein gerades Nein. Viele Sommer hat das Leben, und viele Wege hat die Liebe. Nächstes Jahr wird sie von neuem ins Innviertel betteln gehn. Um ein Jahr älter, um eins gescheiter, aus einem Knaben wird ein Mann, aus einer Spröden vielleicht eine Geneigte und das Herz, das heuer geschwiegen, wird dann vielleicht antworten. Selbst in einem zertretenen und gepeinigten Gemüte, das alles Elend langer Unglücksfälle erduldet, wächst der grüne Halm der Hoffnung, um wie viel mehr in einem jungen, unerprobten, allem Spiel des Geschickes unbefangen eröffneten. Da wartet eine ganze volle Wiese von Hoffnung auf die Sichel der Enttäuschung. Nächstes Jahr ist auch noch ein Jahr.

Mittlerweile bekam Dieter etliche Adressen von Kaufleuten zugewiesen, welche Stellen zu vergeben hatten, aber entweder waren die Posten nicht für ihn, oder er nicht für sie geeignet.

Einmal lud ein angesehenes Herrenmodegeschäft Dieter ein, sich vorzustellen. Der Firmeninhaber begrüßte ihn: »Sie werden nicht hier in Wien bleiben können, sind Sie gefaßt und zufrieden, vorerst nach Livorno, nach zwei Jahren in unsere Filiale nach Konstantinopel, dann nach Kalkutta, zuletzt nach Paris und London als Korrespondent zu gehen?«

Dietern lachte das Herz im Leibe, aber als gewandter Kaufmann verschwieg er diese Bewegung und versicherte nur mit würdigem Ernst, er sei bereit. Darauf erbat sich der Chef eine italienische Offerte, denn Dieter hatte die Kenntnis dieser Sprache angegeben und lieferte in der Tat ein schönes kommerzielles Schreiben, untadelig kalligraphiert und mit der üblichen Floskel endigend: con tutta la stima, am liebsten hätte er gar vor Entzücken die mittelalterliche Schlußwendung baccio a la fronte hinzugefügt. Der Geschäftsherr zeigte sich davon höchlich befriedigt, verhieß nahezu sicher die Anstellung und bestellte Dietern für den nächsten Tag zur Besprechung der Abreise und zu weiteren Verabredungen. Im Kaffee Faltisek gab es einen Triumph. Toni war begeistert über die Aussichten seines Freundes, nach Livorno zu reisen, gewißlich würde er dort eine Italienerin heiraten, mit Korallen am Halse, Kastagnetten schlagend und ein Kopftuch über dem schwarzen Haar. »Und hat sie auch ein braunes Fell, so darfst du sie doch nehmen, wenn sie sonst schön ist, und eines Tages besuchst du mich, der als armer Schulmeister im Innviertel mit seiner Hedwig dasitzt, du der reiche Kaufmann mit deiner Italienerin, und deine Kinder sind Schecken, weißbraun gemischt, sie schwatzen italienisch und lachen deutsch, deine Frau Gemahlin schlägt Kastagnetten, und die meine singt dazu, ich geige was und du sitzest wie ein Türk' auf den Beinen und bläst den Rauch aus der Pfeife. Amor musica amicitia! Aber eine Negerin verbitt' ich mir, ob du in Indien ein Weib findest, das erlaubt ist, weiß ich nicht, ich kenne mich in den dortigen Rassenverhältnissen nicht aus.«

Am nächsten Tage fragte der neue Chef den Dieter, wie es mit seiner Militärpflicht stehe, er könne nur dienstfreie Leute aufnehmen; da war es mit Dieters Hoffnungen aus, welcher dem Staate noch seine Waffenfähigkeit vorbehalten mußte. Enttäuscht ging er zum »Faltisek«, wieder einmal versank Italien und Indien, Afrika und Konstantinopel in Nebel und Nichts.

Toni war bald getröstet: »So bleibst du wenigstens noch eine Weile bei mir und wenn du keine braune Italienerin kriegst, so darfst du ganz wohl eine blonde Weißgärberin oder eine Lichtentalerin heiraten; schlägt sie nicht Kastagnetten, so schlägt sie Zither und singt dazu auf wienerisch und unsere Gemahlinnen vertragen sich um so besser. Amor musica amicitia!« Und damit war es gut.

Aber endlich kam Dieter trotz allem zum Kommerz und zwar nach Hruschau in Schlesien, wo schon die wüste Polackei beginnt, in eine Chemikalienfabrik. Die Freunde nahmen Abschied mit dem feierlichen Versprechen, einander zumindest einmal in der Woche zu schreiben, und zwar wollten sie jeder eine ganze Zeitung liefern, in welcher alle Neuigkeiten und Nachrichten unter und über dem Strich verzeichnet waren, nach Art der feierlichen, öffentlichen Drucksachen. Ihre Art zu leben und zu denken bürgte für den Reichtum der witzigen, tragischen, traurigen oder ernsten Beiträge aller Gattungen. Tonis Journal sollte » Ama« heißen, was die Anfangsbuchstaben seines Wahlspruches bedeutete: Amor musica amicitia, dagegen Dieters Blatt »Der Verbannte in der Polackei«, ein schmerzlicher Hinweis auf sein trauriges Geschick in der Wüste der chemischen Produktion.

So reiste Dieter ab.

Er fuhr mit der Nordbahn durch das ebene, fruchtbare Mähren und malte sich seine künftigen Pflichten und Rechte möglichst bunt aus. Aber als er in das Ostrauer Kohlenrevier kam, das aus tausend Schloten rauchte und über den freien Himmel einen schlimmen, grauen Schleier legte, waren auch die Farben seiner Träume dahin. Er stieg in Hruschau aus, fand sich vor einem wüsten Boden, vor Schutthalden und Lachen, in einem unordentlichen, armseligen Häusergemenge unter Nebel und übelriechender Luft und seufzte: Also das ist der Kommerz.

Er war von Amts wegen in einem kleinen Wirtshaus einquartiert und bekam eine Stube, deren Fenster gerade auf die Gassenebene hinausging, durch das er also ebensogut wie durch die Türe aus- und einsteigen konnte. Im Kleiderschrank lag ein vergessenes Verzeichnis der Bücher des »Lesevereines Evviva« und wies etliche Jahrgänge der »Gartenlaube«, Romane von Dumas und Paul de Kock und einen Band »Aktstudien nach Naturaufnahmen« aus. Das war mithin die Bildung von Hruschau.

Am nächsten Tage machte er seinen Antrittsbesuch in der Fabrik und wurde als Großstädter mit vorsichtiger Neugierde, als jüngster Untertan mit zurückhaltendem Hochmut begrüßt. Der Oberbuchhalter empfing ihn mit einem langgezogenen Schnauben, das nicht so bösartig gemeint war, wie es schien, denn er konnte überhaupt nur schnaubend sprechen. Der Kassier, ein hochgewachsener, wohlgekleideter Herr, sah wie ein Graf aus und entstammte in der Tat einem alten bayrischen Adelsgeschlechte, er hieß »von der Aue« und war, weiß Gott wie, in dieses Nest und Geschäft verschlagen worden. Dank seiner Abkunft und guten Manieren erfreute er sich beim Inhaber der Firma, der aber zu Wien, nicht hier residierte, einer deutlichen Vorzugsstellung, wurde durch Einladungen der umwohnenden adeligen Grundherrn zu Jagden ausgezeichnet und hielt sich von den übrigen Beamten fern. Er begrüßte Dieter freundlich: »Es ist ja nicht sehr schön hier, aber auch nicht gar so schlimm, wie es aussieht; wenn Sie etwas brauchen, wenden Sie sich an mich, ich bin gern bereit, Ihnen beizustehen, Sie können alles von mir haben, nur kein Geld. Uebrigens, wenn's Ihnen auch anfangs schwer fällt, man gewöhnt's, es gibt ja auch allerhand Unterhaltung. Zum Beispiel hat der Herr Kleinert heiratsfähige Töchter.« Damit wollte er den Ankömmling offenbar vor den Fallen eines fürsorglichen Vaters warnen, was sich Dieter gesagt sein ließ, als der Herr Kleinert ihn bald darauf zu einem gemütlichen Abend im Familienkreise einlud. Er lehnte dankend ab, er sei ein Feind jeden Verkehrs und gewohnt, allen Umgang zu meiden, da er seinen Studien lebe.

Dagegen weihte ihn ein anderer kleiner, untersetzter, aber feuriger Mann in die schwärzesten Umsturzpläne ein, der Magazinverwalter Böß, welcher als Revolutionär schimpfend und drohend umherging, tat, als müsse das ganze Unternehmen in die Luft springen, dabei aber fleißig schaffte, als ein murrender Sklave. Täglich fürchtete er entlassen zu werden, schalt über ein neues Unrecht, das man ihm angetan, legte den Oberen neue Pläne zur gründlichen Umgestaltung des Betriebes vor, schrieb Beschwerdebriefe mit tausend Anträgen an den Chef nach Wien, bekam keine Antwort, war neu gekränkt, schimpfte unaufhörlich und schaffte weiter.

Daheim bastelte er an Erfindungen, hantierte an einem Werkzeugtisch, für welchen er teures Geld ausgab, um die besten englischen Sägen, Schraubenblöcke, Bohrer, Zangen zu erstehen, heute erfand er einen Pfeifenrost, morgen eine Mausefalle, oder einen Apparat zur automatischen Schuhmessung, oder einen zur Füllung von Flaschen aus dem Faß. Wenn die Feierstunde, sechs Uhr abends, schlug und die andern pflichteifrigen Beamten sich noch eine gute Weile im Bureau aufhielten, um den Einlauf zu lesen und wichtig zu tun, nahm er pünktlich den Hut und Mantel, schrie, damit es der Vorstand unbedingt höre: »Glaubt vielleicht wer, ich werde für mein Lumpengehalt noch länger dasitzen, gefehlt, hinaus ins Leben, solange der Dreck noch stinkt, hinaus mit Ihnen, junger Mann.« Und Dieter machte sich das Beispiel des knurrenden Böß zunutze und entschlüpfte still.

Zu Hause bei seiner sanften Gattin angelangt, verzehrte der mißvergnügte Revoluzzer, ohne ein Wort zu sagen, das Nachtmahl, und nachdem er eine Stunde seinen Erfindungen gewidmet, verschwand er ins Gasthaus, wo er mit etlichen Zechgenossen unermeßliche Mengen Bieres zu sich nahm, beim Morgengrauen erst vom Wirtshaustische aufbrach, gröhlend und mit immer neuen Schimpfreden durch die Schutthalden und Lachen oder durch die Gasse des Ortes strich, bis er sich endlich ruhiger in seine Wohnung zurückzog, wo ihm die Frau ein eiskaltes Bad bereiten mußte. Dann schlief er bis um halb acht, und erschien pünktlich und zu neuer Erbitterung gestärkt, im Amt.

Das war die Gesellschaft unseres Dieter.

Er kannte bald jeden aus dem Grunde und fühlte sich als »Verbannter in der Polackei« nicht gerade unglücklicher, als irgendwo anders, denn er hatte tausend freie Gedanken seiner Jugend zu verarbeiten und einen Freund, dem er sich mitteilen konnte. Im Bureau scherte er sich um das Geschäft nicht mehr als unerläßlich und schrieb während der Amtszeit ausführliche Journale für den Toni auf dem reichlich zu Gebote stehendem Geschäftspapier, frankierte sie mit den vorrätigen Marken und versorgte auch den Freund damit, wie mit Federn, Tinte, Löschpapier und allem, was dieser etwa zur Korrespondenz benötigte.

Aus dem kleinen Nichts ihrer Tage schufen sie die scherzhaften und bekümmerten, ausschweifenden und zufriedenen Berichte ihrer Briefe. Der Toni kannte keinen anderen Anfangsbuchstaben des Lebens, als das teure »H«, er berichtete von einem Glückwunschschreiben, welches er zu Neujahr ins Innviertel geschickt hatte. Tag um Tag hoffte er auf Antwort, doch vergeblich. Sie schwieg. Das mußte aber nicht bedeuten, daß ihr sein Brief unlieb gewesen sei. Er gedachte in einem herrlichen Album die schönsten »Wiener Lieder« zu verewigen, um sie der Angebeteten zu schicken. Er erbat Dieters Ratschläge für dieses heikle Unternehmen. Er lernte in der Lehrerbildungsanstalt mit Verdruß, aber ohne Schwierigkeiten und lächelte über alle diese pädagogischen Versuche. So kam der Frühling, dann die Reisezeit des Sommers, wo die Ferne dringlich mit Träumen von blauem Himmel und Wanderschaft zu winken beginnt. Im Prater fingen die Regimentsmusiken an, Toni zog allein durch die Stadt, in Hruschau winkte auch so etwas wie Wiesengrün. Unweit vom Ort führte eine Landstraße ins Preußische, zu Dörfern und Bauernwirtschaften, durch Wälder und am mißmutig strömenden, schmutzigen Oderfluß entlang. Dieter wanderte stundenweit, um reichsdeutsche Zigarren zu rauchen und sich als Herr zu fühlen. Es gab Mädchen und Spießbürger in Hruschau, er hatte das Bedürfnis, ihnen allen zu zeigen, daß er zu dem Troß und Gelichter ihres Schlages nicht gehöre. Darum legte er einen eigentümlichen Tiroler Wetterfleck malerisch um die Schulter, verschloß ihn mit einer bronzenen chinesischen Spange, die er von der ethnographischen Gesellschaft besaß, nahm ein Buch unter den Arm, strich verächtlichen Blickes an den Staunenden vorüber in den Wald, wo alle Spaziergänger vorbeikamen, suchte sich einen Felsen aus, der ihn den Blicken zugleich darbot und wieder hoch entrückte, erkletterte den unbequemen Sitz, streckte sich oben in seinem Mantel und Schlapphut malerisch aus und las, das Haupt auf die Hand gestützt und erwarb den beabsichtigten Ruf eines genialen Sonderlings. Heuer gab es keine Ferienreise, kein Schloß mit Baronen, kein Bauernhaus mit Anverwandten, keine freien Abenteuer, nur die Einsamkeit der Polackei und chemischen Wirtschaft.

Aber Toni mußte und wollte nach dem Innviertel. Leider hatte er kein Geld, kaum daß er von einer Privatstunde, die er einem unglücklichen Volksschüler erteilte, soviel bezog, um die nötigen Zigaretten, Schuhe, Kleider und Wäsche zu zahlen, denn sein Vater hielt es für übergenug, wenn er ihm Quartier und Kost gab. Heuer würde er ihn sicherlich nicht auf Ferien schicken. Dachte er nur daran, einen ganzen Sommer lang in dieser Wohnung unter seinen Geschwistern hausen zu müssen, an die öden Zeitungsromane und schreienden Kinder, so stieg ihm der Ekel bis an die Kehle. Draußen aber gab es ein schwarzes Posthalterkind, das lachte, sang und auf der Landstraße Arm in Arm mit der Schwester wanderte. Es war völlig zum Verschmachten vor Sehnsucht und Gram. Ihm schien's, als wachse die Begierde nach Leben, Freiheit, Sonne und Liebe aus allen seinen spröden Gliedern, er spürte sie im Rücken, in den Schultern, in der Kehle und dabei solchen niederträchtigen Hunger, der gar nicht zu stillen war. Er fraß Brot und rauchte bis zum Uebelwerden und sehnte sich. Der verdient seine Haut nicht, der nicht aus ihr oft und oft fahren gewollt.

Da faßte er sich ein Herz und schrieb in die Nummer der » Ama«, welche vor dem Schulschluß erschien, eine merkwürdige Legende. Irgendeine biblische Sage war mit vielen umständlichen, durchsichtigen Rätselworten auseinandergesetzt, die alle darum sich drehten, ob ein Freund dem unglücklichen Freunde nicht zum Ziel des Lebens verhelfen wolle, welche großherzige, christliche Tat in einem Darlehen von zwanzig Gulden bestünde. Damit konnte man eine Welt kaufen, ins Innviertel reisen, vierzehn Tage dort bleiben, Wunder erwirken, ein Weib gewinnen und ein Mensch werden. Aber ein solcher Betrag war auch so unerhört, staunenswert und unmöglich, daß er nur eben als Märchen genannt und gleich auch verspottet werden mußte. Zu denken, daß er gegeben und empfangen würde, schien toll. Aber war Toni Scharrers Leben selbst nicht lauter Tollheit?

Dieter las wohlgefällig diesen biblischen Pump, das erste journalistische Revolverattentat der bisher gänzlich unbescholtenen Zeitschrift, » Ama«, halb mit Sehnsucht nach einer gleichen, seinem kalten Herzen versagten Leidenschaft, halb mit Neid, daß der Toni zwei Ferienmonate vor sich hatte, während er bei den Chemikalien und beim Salda-Konto sitzen mußte, dann empfand er wieder mit Stolz seine eigene wirtschaftliche Selbständigkeit. Schaltete er doch über ein anständiges Salär und war ein fertiger Mann, indes der Toni noch manches Jahr um jeden Kreuzer betteln mußte. Sollte seine Freundschaft nicht einmal zwanzig Gulden erübrigen, einen Schmachtenden zu erlösen? Da war eine Seele zu retten und rief nach seiner Hilfe. Er kam sich wie der Kaiser Josef mit der bereitwilligen Brieftasche vor, doch versagte er sich den Spaß nicht, in der Antwortnummer des »Verbannten aus der Polackei« von allem anderen zu reden, als hätte er die Legende der » Ama« entweder gar nicht gelesen, oder gar nicht beachtet, noch verstanden, gab aber einen Tag später eine Postanweisung für zwanzig Gulden auf und malte sich Tonis Gesicht aus, der zuerst die Zeitung voll Begierde erwartete, im Vorzimmer schon dem Briefträger aus der Hand riß, enttäuscht durchflog und statt einer Antwort auf seinen Innviertler Wunsch und sein närrisches Geldgesuch vermischte Hruschauer Nachrichten erhielt, mißmutig durch den Prater stelzte und die ganze Freundschaft und Schriftstellern verfluchte, um in der Frühe des nächsten Tages von einer baren Geldsendung betroffen, sich aus der untersten Hölle in alle Himmel, dem schwarzen Engel an die Seite gerückt zu finden.

Die nächste Nummer der » Ama« war fünfzig Seiten stark. Freundschaft, Liebe, Reise, Dankbarkeit, Hoffnung, Vorbereitungen des glücklichsten Unternehmens setzten sich in mannigfachen Beiträgen auseinander. Das Titelblatt wies als Illustrationsprobe die Widmung des noch immer nicht übersandten Wiener Liederbuches auf, welches er der Posthalterstochter nun eigenhändig zu überreichen gedachte: »›Wiener G'sangeln‹, der Nachtigall des Innviertels in tiefster Verehrung gewidmet von Anton Raimund Franz Scharrer,« stand mit roten Lettern da, um welche ein Kranz blauer und goldener Schnörkel lief. Dann kam ein Dank, der aus aller Fassung der Worte brach und mit Ausrufungszeichen jauchzte: »Zwanzig Gulden hab' ich und einen Freund! Ich kauf' mir das Himmelreich und bleib' dir's schuldig.« Dann eine Phantasie an Hedwig: wie sie wohl aussah und ihm begegnen würde. Welche Qual, die ferne Geliebte sich nicht vorstellen zu können, er brachte kein Bild zustande, als könnten solche Züge von keinem hilflosen Gedächtnis behalten werden. Die Vollendung des zartesten Ovals eines vom Herrgott nur einmal in der ganzen Welt gerundeten Gesichtes kann kein Maler nachziehen, kein Wort vergegenwärtigen, keine Einbildungskraft wiedererschaffen. Schwarze Locken kräuselten sich an den Schläfen, am sanftesten Halse und schlangen sich in die Wangen hinein, als wollte der Schöpfer selbst seine feinste Kunst verspotten, denn das edle Rund eines rosigdurchhauchten weißen Gesichtes konnte nur Gottes Hand mit diesen tollen Schnörkeln schwarzer Haare stören und verzieren, welche das Ebenmaß der Bildung durch den lieblichsten Scherz unterbrachen, als lauere in jedem unbändigen Härlein der Wahnsinn der Liebe. Nur der Meister aller Dinge konnte solche verwirrende Glückseligkeit unbeirrt erschaffen, aber der Mensch zerstört in seiner Leidenschaft das in sich ruhende, im Ebenmaß der Vollendung schwebende Gebilde der Schönheit; seine Liebe und Sehnsucht beleben ein Angesicht und sinnen dessen Einzelheiten solche Macht an, daß sie das Ganze um des kleinsten Teiles willen vernichten und niemals in seiner unermeßlichen Herrlichkeit wiederherstellen können, denn jede Anschauung betet eine widerspenstige Locke, einen Zug des traurigen oder lächelnden Mundes, den Blick des dunkeln Auges an und verliert allzumal den unendlichen Zauber des Ganzen. Hedwig sich vorstellen, hieße Hedwig schaffen und das vermochte nur ein Gott. Der Toni konnte sie bloß ahnen. Er verlor sich in einer schwarzen Locke, während ihre Schönheit aus tausend Vollkommenheiten und Geheimnissen gewirkt war; das schönste Bild blieb durch die schönere Betörung verwirrt. Wie war Hedwig? Sind ihre Augen blau oder schwarz? Ihre Augen sind schwarz, wenn sie sinnt, blau, wenn sie lacht! Kann die Schönheit lieben, welche vollkommen ist und keines andern bedarf? Hedwig müßte lächelnd seine Leidenschaft zu ihren Füßen ausatmen sehen, wie einen Rauch, der in der Luft zergeht. Aber doch ist Schönheit nichts, wenn sie nicht gefühlt wird. Die Schöpfung bedarf des Geschöpfes, das Glück des Glücklichen. Schönheit wehre dich, wie bist du stark, aber in deinem Widerstande erhöhst du dich, mit dir ringend, selbst dich zerstörend, gebe ich dich dir selber! Du mußt dich Schönheit, mir verdanken. Ich bin ein Nichts vor deinem All. Aber dich begehrend, mach' ich dich zur Ewigkeit und bringe die Musik deiner Stille zum Klingen. Meine Liebe spielt um dein Haar, so daß deine schwarzen Locken singen, Hedwig, mein Wahnsinn erst macht deine Schönheit zur Vernunft!

Und dann kam wieder ein genauer Reiseplan.

Was wollte der Toni mitnehmen? Einen Plaid, worin die nötigsten Gebrauchsdinge gewickelt waren, samt Riemen, einen Vorrat von Herzogowina-Zigaretten. Warum gerade diese Sorte? weil sie mit »H« anfing, wie Hedwigs Name. Dann das Manuskript der besagten Lieder, ein Taschenmesser, Briefpapier, seiner älteren Schwester hatte er ein silbernes Ringlein mit einem blauen Türkis abgebettelt, das wollte er der Hedwig schenken, wenn . . Für alle Fälle, man konnte ja nicht wissen, doch hoffen. Aber an Unglück mochte er gar nicht denken. Daß er zu ihr gelangen durfte, war Erfüllung, die alles weitere Gelingen verbürgte. Und er war der Mann nicht, dieses Wesen sich entschlüpfen zu lassen; er wollte sie bezwingen, auf jede Art, er mußte sie erobern, ganz und gar, wie sie ging und stand, diese Sommertage mußten es entscheiden. Heuer wollte er nicht der kleinen Schwester nachlaufen, um die große zu meinen; er war kein Kind mehr, er würde gleich die Hedwig ergreifen, die er wollte. Und sie durfte sich nicht im Scherz ihm entwinden, denn er würde mit ihr fertig werden. Brust an Brust, und Herz an Herz, und Mund an Mund. Seine Tollheit war ebensoviel Vernunft, sein Wahnsinn Plan, seine Begierde Klugheit. Und im tiefsten Geheimnis: er hatte ein Buch gekauft, »Die Kunst, Weiber zu erobern«, und darin standen unfehlbare, wenn auch schreckliche Mittel, aber er mußte Hedwig gewinnen und stünde sein Leben drauf. Er mußte die Geliebte haben. Sie war doch ein Weib und hatte Blut, Lust und Leib, wie er. Sie mußte geben, wenn er nahm, denn er war der Mann, der will und sie das Weib, das soll. Wie war Hedwig?

Dieter schüttelte den Kopf und kannte den besonnenen, spöttischen Freund gar nicht wieder, er lächelte und sorgte sich um ihn. Ihm war eine muntere Freundschaft genug, was sollte man gar noch mit solchen Leidenschaften? Tonis Eifer machte ihn lächeln. Aber indem er spottete, schämte er sich. Was war er für ein wunderlicher, blöder Gesell', der einsam umherstrich und die Welt verachtete, zu bequem, oder zu feig, sie zu bezwingen; der Toni war besser und mehr als er, der wahrte sich nicht, sondern stürzte mitten hinein in den Wahnsinn und lebte das Leben, welches er, Dieter, bloß träumte. Kopfschüttelnd las Dieter diese Walpurgisnachtnummer der » Ama«, während er sein Geschäftsbuch mit sorgfältigen Ziffern und Eintragungen versah, lächelnd ging er am Abend ins Preußische und stellte sich Tonis Reise vor.

Zur Nacht aß er reichlich und hungrig auf Tonis Wohl. Aber als der Böß ihn zu weiterem Genuß von vielen Krügeln Bier aufmuntern wollte, »solange der Dreck noch stinkt«, dankte er entschieden, zog sich in seine Kammer zurück und schlief einen gesunden, traumlosen Schlaf, während sein Geselle in das wilde Wetter des Schicksals hinausfuhr.

Vom ersten Reisetage kam eine Karte. Sie sagte bloß von der glücklichen Abfahrt und jauchzte. Und am nächsten Morgen kam ein Brief, mit Bleistift unordentlich kreuz und quer übers Papier gejagt, in der Dachstube des Dorfwirtshauses geschrieben, wo der Toni am Abend angelangt war und die Hedwig getroffen hatte. Sie war tausendmal schöner, als alle seine Vorstellungen, die Wirklichkeit tausendmal herrlicher, als der Traum und dazu rein, fromm und selig, während die ferne Begierde ihn niedrig und schlecht gemacht hatte. Wo waren alle die Gedanken, mit denen er Hedwig beleidigt, wo war die Kunst, Weiber zu gewinnen? Wo es Weiber gab, und Weiber konnten ihre Verführer haben, aber wer verführte einen Engel? Sie hatten am selben Tische einander gegenübergesessen und er hatte ihr eine Zigarette angeboten. Die zündete sie an und blies die Rauchwolken durch die feinen Nüstern. Nach wenigen Zügen reichte sie ihm die Zigarette, er solle sie fertig rauchen. Oh, über seine glücklichen Lippen! Sie trank auch Wein aus seinem Glase und war das heiterste, ausgelassenste Kind. Doch lächelte sie zuweilen auch spöttisch und dann gab ihr Blick dem seinen keine willkommene Antwort. Als sie den Wein ausgetrunken hatten, stand sie auf, um nach Hause zu gehen. Die jüngere Schwester wäre noch gern geblieben, aber Hedwig verweilte nicht länger. Eine Viertelstunde Weges durfte er in der hellen Nacht auf der Landstraße neben den beiden Mädchen gehen. Es war warm, die Sterne leuchteten am Himmel. Die Hedwig nahm erhitzt ihr Seidentüchlein von der Schulter, um sich abzukühlen. Er riß es an sich, begehrte es zu tragen und hoffte, verborgen einen Kuß darauf zu drücken, denn es war an ihrem Halse gelegen. Sie wehrte ihm und wollte es nicht hergeben. Sie sagte, sie litte es nicht, daß er ihren Bedienten mache. Und er antwortete mit bedeutsamer Betonung. »Ihr Bedienter will ich nicht sein.« Und er verschwieg, was er ihr denn sein mochte, aber sie mußte es verstehen. Doch darauf entgegnete sie nichts. So kamen sie bis zum Posthause. Allein stelzte er zurück und schrieb bei einer Kerze diesen Bericht, bevor er schlafen ging. Und dann kamen keine Nachrichten, nach acht Tagen erst ein Brief, wirr und elend und aus Wien. Er erzählte wenig vom Vorgefallenen, nur daß seine Hoffnung aus war, die Hedwig gehörte einem andern. Dieter konnte bloß erraten, was es etwa gegeben. Das Mädchen hatte, die Leidenschaft des Knaben mit ernstem Mitgefühl erkennend, wohl durch die jüngere Schwester dem Toni andeuten lassen, daß sie verlobt sei und in den nächsten Tagen zu ihrem Bräutigam verreise. War's nun Teilnahme der kleinen Schwester, oder Wahrheit, wenn sie durchblicken ließ, die Hedwig sei zwar versprochen, aber ohne Liebe. Die Eltern hatten ihr zugeredet, den wohlbestallten Werber, einen »Dentisten« zu Linz, anzunehmen, und sie hatte ja gesagt. Wie hätte sie auch an den Toni denken können. Obgleich nicht älter als er, war sie, die Achtzehnjährige, eine reife, ihrem Schicksal entgegengeblühte Person, und er ein Knabe. Sie lachte mit ihm als ein Kind mit einem Kinde, aber daß er mehr, sein Weib von ihr verlangte, schien als das kindischeste Begehren gar unmöglich. Sie hielt sich für gebunden und mehr durch ihr Wort, als durch ein wahres Gefühl vor der Leidenschaft dieses Knaben geschützt, die zu teilen Torheit gewesen wäre. Eine frühere Reife läßt die Mädchen so überklug sich vor dem Feuer schützen und alle Gefahr erwägen, für die sie nun einmal doch bestimmt sind. So war der Toni zu früh und zu spät gekommen. Sie liebte zwar ihren Verlobten nicht, aber darum blieb ihr der Schwärmer doch immer noch zu jung und unannehmbar. Ein Jahr später hätte sie vielleicht schon gewußt, daß alles zu geben das einzige Glück und die ganze Weisheit der Frau ist, die ihrer Bestimmung gehorcht. Aber dies zu lernen, war sie jetzt selbst noch zu jung. Was weiß der Boden, der eben aufgrünt von den Lasten seiner Ernten, denen er gehört. Es erzürnte sie nur, daß dieser Bursch sie begehrte, und was sie vielleicht ein Jahr später erfreut hätte, das beleidigte sie heute und sie verschmähte den Kranz. Da sie nicht liebte, mißtraute sie der Liebe. Wer nicht die Weisheit des Gefühls erlebt, der opfert sich der unseligen Klugheit des Verstandes.

So fuhr sie zu ihrem Dentisten, der Toni hatte im Innviertel nichts mehr zu suchen und reiste zurück. »Gestern vor acht Tagen habe ich so viel geweint, mein Herr und Gott, mir war zum Sterben müde, zu müde zum Sterben, in der Eisenbahn mußt' ich mir die Augen wischen, im Wartesaal in Andorf bin ich einsam hinterm Ofen gesessen und habe nach Herzenslust geweint, im Wirtshaus in Passau hat's mich nur so geschüttelt, und ich hab' mich vor den Leuten so geschämt, die es doch merken mußten. Aber ich konnte mir nicht helfen.« Zu Passau stieg er ins Schiff mit ausgeweinten Augen und hielt sich am Verdeck in einem Winkel. Da näherte sich ihm ein freundlicher Offizier und begann ein Gespräch mit ihm. Und der Toni nahm sich zusammen und antwortete so vernünftig er konnte. Der Leutnant machte allerhand Späße und schenkte ihm eine gute Zigarre. So kam er nach Wien.

Dieter tröstete den Freund, wie er konnte. Wer nie geliebt, hat leicht von Torheit reden. Der Verbannte aus der Polackei schlug dem Toni vor, er solle das eine A nun endgültig von seinem Wahlspruch löschen, mit Amor sei es nichts, amicitia und musica genügten, und er schickte ihm sein Lieblingsbuch: Zimmermanns »Einsamkeit«, damit er die Lehren des Philosophen würdigte, daß die Einsamkeit das wahre Glück des Lebens bedeute. Der Toni wußte es besser und schalt. Wer je geliebt, der wisse, daß Amor über allem Alphabet stehe, nicht umsonst lerne der Gymnasiast das erste Zeitwort abwandeln: amo, ich liebe. Und ob er es auch unglücklich abgewandelt, sei er nicht so schlecht und boshaft, dieses schönste Gefühl darum zu leugnen und wegzustreichen. Von der Schrift, die das Schicksal auf die Tafel eines Menschenlebens schreibt, sei die Liebe das einzige bleibende Zeichen, selbst die unglückliche noch wert und herrlich und unauslöschlich. Was aber den Philosophen betreffe, so sei seine Einsamkeit ein armseliges zahnloses Altersgeschwätz, das nichts bedeute. Was weiß der jämmerliche Schönredner von der Einsamkeit! Wer will die Hand preisen, die den Hals würgt, die Unendlichkeit, die uns in Trümmer haut, die Kälte, die unser Herz einfrieren macht, so daß es noch schlagend weiß: ich bin tot. Das ist die Einsamkeit, ein fürchterliches Gewesensein, er wußte von ihr zu reden, der sie erlitt, der Philosoph aber, weise aus Mangel an Torheitsvermögen, sollte sein Maul halten.


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