Otto Stoessl
Morgenrot
Otto Stoessl

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II.

Langsam fuhr der Leiterwagen um die Ecke und kam in der Morgenfrühe des nebeligen Herbsttages an den Kindern vorbei, die gerade um die Schule schwirrten. Von seinem hohen Sitze sah Dieter stolz als ein Freier auf die Kameraden herab, die mit ihren Tüchern Grüße schwenkten. Und es traf sich, daß gerade auch der Lehrer Abel der schwankenden Arche begegnete, welche seinen Zögling von dannen trug. Er winkte und ließ den Kutscher halten; Frau Dieter hieß darauf ihren Buben hinabklettern, um vom Herrn Lehrer Abschied zu nehmen und sich zu bedanken. Sie selbst blieb auf dem Sofa sitzen und sah freundlich zu, so daß sie gar wohl einer der milden Mütter glich, die der fromme Erdensinn von Malern als Marieen auf ihr Kindlein herabblicken ließ, welches zu ihren Füßen dem Josef zutraulich die Hand reicht. So tat Josef Dieter dem Herrn Abel, der halb zu ihm, halb nach aufwärts zu der Frau freundliche Abschiedsworte sagte, sein Schüler möchte auch in einer andern Klasse und überall im Leben sich ordentlich halten und seinem ersten Lehrer Ehre machen. Wenn er brav und fleißig bleibe, wie bisher, könne es daran nicht fehlen, und so wünsche er ihm alles Gute. Damit streichelte er dem Kleinen die Wange, zog ehrerbietig vor der hohen Frau im Wagen den Hut und schwenkte ihn noch etliche Male, als Dieter schon wieder behend seinen Sitz neben der Mutter erklettert hatte und das Fahrzeug unter Hottohüh und Peitschenknallen langsam davonschwankte.

Es trieb nun in einem stetig anschwellenden Strom und Getöse von Wagen und Menschen und überließ sich dieser Flut, auf welche Dieter erstaunt hinabsah. So kamen die Reisenden auf den »Ring« und bogen in die Wipplingerstraße ein. Da wuchsen die hohen Mauern der Häuser zu beiden Seiten eng wie Schluchten, die Hufschläge der Pferde klirrten gegen das Steinpflaster. und die Gegend sah anders drein und roch anders, als die Marktgasse und das niedre Viertel um die »drey Husaren«. Dieter sah nach allen Seiten die steinernen Riesenreihen auftauchen, wandern, entschwinden, und als der Wagen über die »hohe Brücke« holperte, blickte er überrascht in die Tiefe einer solchen Schlucht und nahm unten wiederum Menschen und Rosse, Fahrzeuge und Läden wahr. Immer witterte der gleiche neue fremde Steingeruch der Häuserklüfte um die Reisenden. Dieter, der nicht Blicke genug hatte, diese Unendlichkeit zu durchmessen, zog mit neugierigen, erregten Nüstern den Atem der Stadt ein. Nun öffnete sich der Paß der Straße, und von entgegenkommenden, wie von querüberziehenden Fuhrwerken angehalten, stand der Leiterwagen auf dem hohen Markt, rollte dann langsam durch diesen Platz, an dem Viersäulenheiligtum vorüber, wo die Hochzeit des heiligen Josef mit der Maria in würdigen Gestalten dem Knaben begegnete. Aus den biblischen Geschichten kannte er gar wohl die Bedeutung der Darstellung und begrüßte sie als wahrhaft und lebendig und wunderte sich gar nicht, nach dem frommen Abel, der sein Lehrer gewesen, nun in der Legende weiter wandernd, das leibhaftige heilige Elternpaar anzutreffen, welches einander die Hände entgegenstreckte. So rollte der Leiterwagen von den »drey Husaren« zum »hohen Markt«, aus dem alten ins neue Testament und trug einen Knabensinn über die verschiedenen Lebensstufen und Glaubensformen wie in einer Wolke, die eilends mächtige Gebiete durchzieht. Das Geschäftsviertel hier überwältigte ihn vollends mit neuen, rätselhaften Gerüchen, indem der Duft der getürmten Steine besiegt schien, als der Wagen an der Drogenhandlung »zum schwarzen Hund« vorbeikam, aus welcher ein beständiger Spezereiodem schlug, dessen Elemente Dieter gar nicht zu deuten wußte, aber mit genußvollem Staunen einsog. Jedenfalls waren Kaffee und Ingwer, Gewürznelken und Pfeffer, Tee und Wacholder, Pfefferminz und Tausendgüldenkraut, Salbei und Fenchel, Anis und Schokolade daruntergemengt, aber wieviel unbekannte Düfte Arabiens hauchten drein! Er nahm sich vor, so oft er nur konnte, fortan in dieses Duftallerheiligste zu treten, das auch als wohlbeliebter Gnadenort erscheinen mochte, denn bis an die Tür gedrängt standen Leute drinnen, teilhaftig des vielfältigen Geruches, und jeder Heraustretende brachte ein sorgsam in Papier geschlagenes Kleinod mit auf die Straße, so durfte wohl auch Dieter einmal ein Pfund Salz oder ein Päckchen Kaffee, oder sei es bloß eine Schachtel Schuhwichse hier einkaufen.

Langsam verließ unsere Arche auch diese Stelle, kam wieder in einen Strudel ineinanderreißender Strömungen an eine Gabelung zweier Straßen, die aus dem Lärm unversehens in die friedfertige Stille führten. Der Wagen rollte weiter durch eine leere, schmale, alte Gasse wie durch eine Schlucht, in welcher kein Wasser mehr braust, sondern die mit stillen Felsen grau und einsam verdorrt. Der Laden eines Antiquars wies viele aufgeschlagene gelbliche Bücherseiten. Dieter bemerkte im Vorbeifahren auf diesen Blättern auch Figuren, die er demnächst genau zu besichtigen hoffte. Und nun machten sie endlich auf einem kleinen Platze vor einem Palaste Halt. Vor dem Portal, an dessen rechter und linker Seite zwei Brunnen plätscherten, stand schon der Vater und winkte seinen Leuten. Hier auf dem Universitätsplatze ragte das Festgebäude der Hochschule, deren Lehrsäle in altersgrauen Häusern ringsum verteilt waren. Die Jesuitenkirche mit ihren sacht ansteigenden Stufen, ihrer breiten von Nischen, Figuren, geschwungenen Gesimsen und anderen Zieraten belebten Front beherrschte den geschlossenen Raum, wie ihr Glaube selbst schon manches Jahrhundert lang alles Wissen und Wollen unterworfen hatte. Indes Vater und Kutscher die Möbel und Kisten vom Wagen hoben und in den Palast über die Treppen trugen, die Mutter erst dabeistand und den Umzug bewachte, dann den Männern folgte, um in der neuen Wohnung das nötige vorzukehren, blieb Dieter vor dem Hause und sah sich um. Von der Höhe der Kirche verkündigte die Turmuhr die goldene Zeit, nicht ohne ihr Geläut vorher durch ein strenges Räuspern und Schnarren anzukündigen: »Merkt auf, jetzt habe ich Euch etwas zu sagen«, Tauben flogen auf, ließen sich an den Gesimsen nieder, spazierten dort umher und kehrten in einer schimmernden Kette rauschend wieder zum Pflaster zurück. Dieter sah sie in der Nähe rucken, picken, zierlich wandeln, sich gelegentlich erheben und auf die Schultern der Brunnenfiguren, zweier nackter Knäblein setzen, welche zwischen den Beinen wasserspeiende Delphine eingeklemmt hielten. Ruhig war's hier, nur ein paar alte Weiblein kamen aus der Kirche oder gingen hinein, in braune oder graue Umhängetücher gewickelt, zuweilen zeigte sich ein und der andere hochaufgeschossene junge Mann in gelber oder roter Mütze, einen schwarzen Stock mit Elfenbeingriff in der Rechten schwingend. Was waren das für wunderliche Krieger? Erst später erfuhr Dieter, dies seien Soldaten der Wissenschaft, Studenten geheißen. Nachdem er das Geviert zaghaft abgegangen und durchmessen hatte, betrat er, eben als der Leiterwagen leer davonpolterte, den Flur des Palastes, atmete wieder den eigentümlichen, leisen Steingeruch der Halle, durch die er in die Höhe emporsah, wo Stiegen, Wände und Decke sich in einer blauen Dämmerung verloren und schritt über die Treppe langsam hinan, mit zaghaften Fingern über das glatte, gelbe Marmorgeländer streichend, das ihn mit Kühle durchdrang. Er kam ins erste Stockwerk vor große verschlossene Türen aus dunklem Holz mit glänzenden Schnallen und stieg, schon zuversichtlicher, weiter, um auch im zweiten Stockwerk vor stumme Pforten zu gelangen; er wußte auch ohne Führer, hier habe er nichts zu suchen, doch faßte er sich ein Herz, langte auf den Zehenspitzen nach einer Klinke, öffnete mühsam und fand sich in einem weißen Raume, wo um einen langen Tisch hochlehnige Stühle gereiht waren. Im leeren Saale schienen ihm Geister auf diesen Sitzen zu verweilen, die er nicht stören durfte, er schlich daher gleich wieder davon und ging weiter, wieder um eins mutiger, denn schon hörte er von oben her ein Poltern, Hämmern, Rücken und Schieben, dem er gelassen nachstieg, sicher, im dritten Stockwerke Vater und Mutter, Kisten und Kasten und seine neue Heimat zu finden. Hier war auch die Tür halb angelehnt und drinnen hörte er die Stimmen seiner Eltern; er schlüpfte durch den Spalt in einen Windfang, von da durch ein halb dunkles Vorzimmer in die Küche, wo die Mutter schon emsig Ordnung machte und weiter in eine helle geweißte Stube, zu ihrem Fenster, das hoch in der Wand angebracht war, führte eine Holztreppe hinan.

Aus der Küche trat man durch eine Glastür auf einen eisengeländerten Gang, von welchem man den Platz tief unten ruhen sah, indessen die Tauben ringsum flogen und der Blick die benachbarte Turmuhr ergriff und nicht weit zu den Wolken des Himmels hatte. Unten wandelten, spaßig anzuschauen, runde und breite Hüte oder flache, bunte Teller, während die Träger wunderlich verkürzt, als kleine schwarze Ameisen unter der Last ihrer Kopfbedeckungen einherzuirren schienen.

Das war nun das neue Amtsquartier des Vaters, der eine Stellung als Diener der ethnographischen Gesellschaft angetreten hatte. Die gelehrte Korporation war als Gast im stolzen Gebäude der Akademie der Wissenschaften untergebracht, verfügte über zwei hohe Bibliothekssäle und über die zwei Wohnräume für ihren Diener. Der Bub trat in die Bücherzimmer mit ihrem Papier- und Staubgeruch und damit zum erstenmal in die stille, grenzenlose Welt der Schriften und des stumm aufgehäuften Wissens. Sittsam auf einem Stuhle vor einem festen Tische sitzend, Seite um Seite aufschlagend, konnte man hier die ganzen Gegenden des Himmels und der vielbevölkerten Erde mit allem ihrem Durcheinander, wimmelnden Menschen, widerstreitenden Tieren und ragenden Gewächsen, die Gebiete der durchstürmten Meere mit ihrem räuberischen Unfrieden und ihren purpurstrahlenden tiefwurzelnden Korallenriffen an sich vorüberziehen lassen, gleichsam aus einer gläsernen, schwebenden Warte beobachtend. Doch erschien diese Gegenwart dem Knaben vorerst nur verschleiert. Er wanderte in wortlosem Staunen an den Glasschränken dahin und besah die Rücken der nebeneinanderstehenden Folianten: schweinslederne hellgelbe Buchgeschöpfe neben dunkelroten, oder schwarzen, oder braunen, die ihre Namen mit deutlichen goldenen Lettern auswiesen und mit goldenen Streifen, Ringen, Sternen bepreßt waren. Aus einem offenen Schrank zog er einen mächtigen Atlas hervor, roch den edeln Juchtengeruch des Einbandes und besah in aller Eile die Riesenblätter, auf denen mit geheimnisvollen, durcheinanderziehenden Umrissen im Käfig eines Liniengitterwerkes bunte, unregelmäßige Flecke saßen, während verständlichere Figuren am Fuße jeder Seite einen wohlgeschwungenen Schild emporhoben oder stützten, mit verschnörkelten Zeichen für den Kundigen.

Doch ist es heute noch zu früh für genauere Entdeckungsreisen durch diese Gebiete. Dieter kehrt geheimnisvoll angezogen, in das Stiegenhaus zurück. Er tritt wiederum an das marmorne Geländer und sieht nun die blaue Dämmerung unten wie eine Wassertiefe, die er früher hoch oben als ein Wolkendunkel wahrgenommen. Die Stiege, in einem schmalen Rechteck emporziehend, schloß diesen Raum in der Tat wie einen Brunnen ein, dessen Grund Dietern unermeßlich schien, obgleich er selbst von unten ohne Mühe hier hinaufgekommen war. Um aber sein Gefühl zu bestätigen oder zu überführen, blickt er sich verstohlen um, ob er nirgends einen Fremden entdeckt. Dann beugt er sich über die Marmorbrüstung, deren Kühle ihn bis ans Herz, doch freundlich durchschauert, spuckt rasch hinunter, wartet, zählt langsam bis drei und vernimmt endlich befriedigt ein leises Klatschen. So hatte er seinen Brunnen gemessen.

Am nächsten Tage führte ihn der Vater in die neue Schule. Da ging es lebendig zu. Der Lehrer hieß nicht mehr Abel und war auch kein biblischer, sondern ein irdischer Herr, freundlich, aber streng und gleichgültig, als sei er an diese jungen Dieter, oder wie seine Schutzbefohlenen sonst hießen, nachgerade gewöhnt. Und diese waren städtische Kinder, nicht halbe Dörfler wie draußen, sie trugen meist sorgfältige, ja zierliche Kleidung und benahmen sich als Söhne wohlhabender Bürgerfamilien zuversichtlicher, unbescheidener, als die schlichten Schüler vom Thury, denen die Armut als Zuchtmeisterin im Sinne saß. Dieter begehrte zwar nach Freundschaft mit einem Altersgenossen, aber es widerstrebte ihm, irgendeinen anzureden. Deshalb wich er etwa eine Woche lang jedem Verkehre aus und ging allein nach Hause, während die übrigen Kameraden paar- oder truppweis und in allerhand Abenteuer zogen.

Immerhin fielen ihm einzelne seiner Gefährten und eine Gruppe auf. Da waren einmal die Zwillinge Radinger, gleich gewachsen, gekleidet, gestimmt und gerichtet, blonde Blaßgesichter mit sauberen Halskragen und schwarzen Binden, deren Zipfel genau gleich gebunden waren, wie ihre Gesichter selbst gleich dressiert erschienen, so daß auf dem einen ratlosen Munde kein Zug des Unverständnisses sich zeigen konnte, ohne daß der zweite sich wehmütig nach derselben Seite der Torheit verzog, oder kein Lächeln, ohne daß der andere sich zur gleichen Heiterkeit auftat. Wenn der eine Radinger saß, konnte man den andern unfehlbar ebenso sitzen sehen, erhob sich der eine, so stand auch der andere gleich wie von einem geheimen Faden gezogen, stracks da. In der Frühstückspause, um zehn Uhr, gingen die beiden mit paarweisem Hungerschritte zu ihren Schultaschen, welche an der Wand hingen und entnahmen ihnen zwei Papierzwillingspäckchen, aus denen sie haargenau in einem Augenblicke zwei Buttersemmeln hervorholten und auf das gleiche, unhörbare Kommando mit zusammentreffenden Bissen zu essen begannen, im gleichen Mundbewegen fertig waren, einander verdutzt anschauten, um sich befriedigt wieder auf die Bank niederzulassen und der weiteren, vom Schicksal gleich zugewogenen Gemüts- und Geistesnahrung zu harren. Dietern behagte diese uhrmäßige Abgestimmtheit zweier Seelen und Leiber nicht eben sonderlich, nachdem er das erste Erstaunen überwunden hatte. Von Rechts wegen sollten diese doch zwei Menschen vorstellen. Sie blieben aber einen schuldig und machten eigentlich in ihrer paarweisen Unwillkürlichkeit nur einen halben aus, der vergeblich sein Gegenspiel verlangte und nur sein Spiegelbild fand. Dagegen billigte er die noble Kleidung der wohlhabenden Knaben und insbesonders ihre gestärkten Rundkragen und schwarzen oder bunten Halsbinden, denn er trug grobe Hemden, aus dem Leinen zugeschnitten, welches in der Heimat des Vaters an den Webstühlen der verschneiten Hütten bereitet wurde, und sein Lodenröcklein ließ eine einfältige weiche Krause hervorschauen, die offenbar nicht der städtischen Mode entsprach. Er nahm sich vor, gelegentlich die Mutter zu befragen, ob er nicht auch derlei feineres Zeug und gesteifte Kragen bekommen könne. Ein Bursch aber tat sich immerhin hervor, nachlässig, ja meist zerrissen gekleidet, doch lebhaften Blickes befehlshaberisch redend und mit einem langen Lineal bewaffnet, das er wie einen Säbel handhabte, nicht ohne beim Nachhauseweg ein paar Gehorsame wie eine militärische Truppe in streng gemessenem Schritt schwenken und auf Kommando alle Köpfe nach rechts oder links schauen zu lassen, wenn ein Offizier vorbeiging, den es nach allen Regeln des Heeres zu grüßen galt. Er selbst legte sein Lineal salutierend an die Mütze. Das war eine Art von Befehl und Folgsamkeit, welche Dietern einleuchtete. Da konnte er gelegentlich mittun.

Eine ganze Gruppe von Bürschlein aber saß, ohne daß der Lehrer dies etwa angeordnet, beisammen und fiel dem Beobachter durch eine Gemeinsamkeit des Benehmens und Aussehens auf. Die waren zwar nicht gleich wie die Zwillinge Radinger, aber doch verwandt und anders, als die buntgemischten Buben der übrigen Bänke. Erstens hatten alle wuschelige, meist schwarze, glänzende Haare und kugelrunde Köpfe, von denen rote Oehrlein wie Henkel abstanden, an denen man sie hätte ziehen mögen, zweitens waren alle aufmerksam und wußten ihre Sache schnell, brachten sie aber allzu dringlich an den Mann und wetzten unruhig auf der Bank, um ihr Wissen los zu werden, hoben die bittenden Schwurfinger und bewegten sie in der Luft dem Lehrer heftig entgegen, damit sie ihre Kenntnisse abschnellen konnten. Sie hatten alle malerische oder sonstwie bedeutende Namen, wie Rosenthal, Kornblüh, Mandler, Goldzieher, oder dergleichen, und eines hatten sie noch miteinander gemein: die Stiefel. Dieter war vom Hause her gewohnt, gerade auf die Schuhe zu schauen, weil er die seinen, seit er in die Schule ging, selber putzen mußte und der Vater ihn allmorgens genau visitierte, ob dies auch ordentlich geschehen, denn wer zu jeder Tageszeit glänzende und reine Schuhe hatte, der mußte gewiß seinen Gang anständig wahrgenommen haben und stellte einen ordentlichen Menschen vor. Unter den Knaben waren damals sogenannte Röhrenstiefel üblich, und auch Dieter trug solche, wie sein Vater, der als einstiger Jäger gar keine andern mochte, denn die hohen Stulpen schützen das Bein, und die Falten lassen das Gelenk frei beweglich. Auch die schwarzlockigen Knaben hatten solche Röhrenstiefel, doch dehnten sich deren Falten nicht lose, nach der Willkür des Schnittes, sondern blieben streng gepreßt, wie der Balg einer Ziehharmonika und bildeten um den Knöchel ein mehrklappiges Viereck. Die Stulpen aber waren nicht aus dem matten Leder der Schuhe, sondern aus glänzendem Lack. Das gab den Röhrenstiefeln etwas sowohl Hervorstechendes, als Fragwürdiges und Dieter hegte einiges Mißtrauen gegen diese Galafußtracht.

Er berichtete zu Hause der Mutter seine Eindrücke, sie saß oben auf der Holztreppe am Zimmerfenster, von wo sie den Universitätsplatz überschaute, vor einer Nähmaschine, welche eben damals von mühsam zusammengepreßten Kreuzern gekauft worden war, die jahrelang gebraucht hatten, sich in Gulden zu sammeln. Heute ist ein solches mechanisches Wunderwesen wohlfeil und selbstverständlich, damals war es selten und für die Armut kaum erschwinglich. Gleichwohl hatten Vater und Mutter sich dieses hohe Gut erwirtschaftet und hielten es in Ehren. Dieter konnte stundenlang dem steten Fußtreten der Mutter, dem summenden Laufe des Rades, dem Surren der Nadel durch den Stoff lauschen und sich wundern, wie getrennte Stücke rasch verschwistert waren und zu einem Ganzen zusammenwuchsen. Am Abend aber saß wieder der Vater vor der Maschine und machte gelegentlich derbere Stücke, worauf er sich wohl verstand, zum Beispiel tüchtige Unterhosen, reinigte, wenn er fertig war, die Maschine mit weichen Tuchlappen, nachdem er aus dem Schnabel eines Blechkännchens Petroleum in den Mechanismus geträufelt und hielt sein Tagewerk erst für getan, wenn er diese kostbare eiserne Dienerin versorgt und mit dem hölzernen Truhendeckel verschlossen hatte. Vor dieser Nähmaschine stand Dieter und meldete die Erlebnisse des ersten Schultages. Er begann mit dem Kragen und seiner minderwertigen Halskrause. Da lächelte die Mutter und sagte, die andern Kinder trügen eben Sachen, die fertig gekauft und ohne Liebe gemacht, freilich nach reicherem Vermögen und vielleicht auch nach besserem Geschmack gewählt seien, aber seine Krausen säßen richtig am Hemde und nicht ängstlich daran geknöpft, wie diese Rundkragen, und sein Hemd wieder sei aus kräftigem Leinen, nicht aus künstlich gebleichter, heißer Baumwolle, und sie habe jedes Stück selbst genäht und ihm angepaßt, so daß er dabei immer der Mutter gedenken könne, die sich Mühe gegeben, um ihn anständig zu kleiden, während die fertig gekaufte Wäsche der andern Buben immer nur an einen Laden und an ein Heidengeld erinnere. Dann brachte Dieter das Gespräch auf die Stiefel mit den seltsamen viereckigen Harmonikafalten und lackierten Stulpen. Die Mutter antwortete:

»Ja, so sind die Stiefel, die man beim Juden kauft« und setzte ihm die Unterschiede zwischen der bloß aufs Aussehen zusammengeschufteten Fabrikware und den richtigen, ordentlichen Erzeugnissen eines aufmerksamen Handwerks auseinander. Diese Harmonikafalten seien nämlich aus bezogenem Pappendeckel gepreßt und die Stulpen aus gesteifter Wachsleinwand, nicht aus wirklichem Leder, welches sich gar nicht so zierlich falten, streng legen und auf den Glanz bügeln lasse.

Nun fiel es dem Knaben, der bisher von Juden und Christen gar nichts gewußt, erst auf, daß die schwarzlockigen Burschen alle beisammensaßen, er kannte sie nun als Judengemeinde, weil sie allesamt Stiefel trugen, die »beim Juden« gekauft waren. Und da ihm die Stiefel mißfielen, verachtete er auch ihre Träger. Und da die Träger als eine geschlossene Gruppe zusammenhielten, blieb er ihnen um so lieber ferne und hatte über all ihr Tun, Reden, Wissen und Benehmen nur das eine widerstrebende Urteil der Verachtung: »Die Juden tragen Stiefel, die beim Juden gekauft sind.« Und als er weiter wahrnahm, daß die Harmonikafalten fransten und löchrig wurden und die Stulpen Sprünge zeigten, unter denen schmutzig weiße Baumwollfäden hervorkamen, schien ihm seine Meinung rechtskräftig bestätigt.

An den soldatischen Knaben, der Heinrich Kundl hieß, schloß er sich an, erwies sich anstellig beim Kommando, ging besser im Schritt, wandte mit schleunigerem Ruck den Kopf nach rechts, als die übrigen Krieger und zog die Aufmerksamkeit des geborenen Führers derart auf sich, daß dieser ihm eines Nachmittags, als die übrigen sich schon davongemacht hatten, um ihren Kaffee nicht zu versäumen, mit einem nachlässigen Kopfnicken zurief: »Du darfst mit mir kommen.« Geschmeichelt, aber ohne sich durch eine Gegenrede etwas zu vergeben, schritt Dieter stumm neben dem Vorgesetzten einher, der den Weg zur Ringstraße einschlug und plötzlich vor einer großen, aus roten Ziegeln burgartig gebauten Kaserne stehen blieb: »Da wohn' ich.« Dieter staunte, und beide verweilten vor der Toreinfahrt, durch die man auf weite Exerzierplätze sah, um welche die Häusermasse in Höfe und Flügel gegliedert, sich hinzog. Im Flur hallte es von Leuten, die kamen und gingen, und leuchtete von Säbeln, Gewehren und bunten Uniformen. Da waren rotbehoste Reiter mit dem Pallasch und blaue Infanteristen und Kanoniere mit kurzem Seitengewehr und Herren Offiziere mit gelben Feldbinden; der Friedrich Kundl erklärte seinem Genossen alle Waffengattungen und Rangstufen und wurde sogar von dem und jenem Kriegsmann freundlich gegrüßt, denn sein Vater war Feldwebel und hauste hier als Unteroffizier wohlgefürchtet in der Kaserne. »Du kannst mit mir kommen,« bewilligte Kundl herablassend, und Dieter schlich beklommen mit. Auf dem Exerzierplatze beobachteten sie eine geraume Weile die Bewegungen von Rekruten, die gedrillt wurden, dann führte der Kundl seinen neuen Freund durch ausgedehnte geweißte Gänge, an deren Wänden kleine, buntgemalte Figuren von Soldaten zu Pferd oder zu Fuß umliefen und farbige Bilder von allen Truppengattungen hingen. Wieder wehte ein neuer beizender Geruch über allem. Dieter schnupperte zum ersten Male den Kasernenatem von feuchten Ziegelmauern, Mannschaftszimmern, von Urin, Karbol, Pferdemist und Rauch und sah erstaunt Tür an Tür, Zimmer an Zimmer, Gang an Gang, überall saßen und standen hemdärmelige Burschen, die einen mit Reinigungsarbeiten beschäftigt, die andern zigarettenrauchend oder mit der Pfeife, singend, brotkauend, johlend, wobei sie Worte in unbekannten Sprachen riefen. Dieter hatte Angst vor dem allem, seine Neugierde überwand seine Verdrießlichkeit und ließ ihn geduldig mitgehen. Der Kundl blieb vor einer halbangelehnten Tür stehen, nahm seine Schultasche vom Rücken und warf sie in den Raum hinein, daß es nur so schallte, zog ein Stück Kommißbrot aus der Hosentasche, setzte sich wieder gemächlich essend in Bewegung und schleppte seinen Gefährten abermals über Gänge und Stiegen durch leere und bewohnte Räume, in Bettenmagazine und Ordonnanzzimmer, über Höfe und Böden, bis sie endlich wieder auf der entgegengesetzten Seite des ungeheuren Durcheinanders vor der hohen Dominikanerbastei mit ihrem gelben Klostergebäude standen. Dieter empfahl sich eilig und machte sich davon. Daheim war der Kaffee, der auf ihn wartete, schon kalt geworden und die Mutter sah ihn still fragend an, was er aber lieber gar nicht bemerkte, indem er sich hungrig in den Genuß seiner Jause vertiefte.

In den nächsten Tagen wußte Dieter es so einzurichten, daß die Truppe statt zu exerzieren, etwas anderes unternahm, denn er war der Meinung, von der Dominikanerbastei müsse ein unterirdischer Gang geradewegs in die Schatzkammer seines Palastes führen, wo ungezählte Kostbarkeiten vergraben lägen. Heinrich Kundl, der noch nie von einer alten Universität und von unterirdischen Gängen etwas gehört hatte, fügte sich diesmal dem Dieter, welcher nun seinerseits kommandierte. Am nächsten Tage kamen sie mit Schaufeln und Hacken und gruben ernstlich und im Schweiße. So ging es mehrere Tage, und immer wurde Dieters Jausenkaffee kalt. Das Werk am Damm geriet nur langsam, denn die ausgestellten Wachen meldeten allzuoft einen herannahenden Polizeimann, vor dem man sich hüten mußte, und Dieter hatte vielerlei Anfeindungen zu bestehen, weil er immer neue Bohrstellen vorschlug, wo man den Gang finden sollte. Bei einem solchen Meinungsaustausch, der eben leidenschaftlich zu werden begann, stand plötzlich, wie aus der Erde gewachsen, die große Gestalt seines Vaters da und sah dem Treiben zu, ohne etwas zu sagen. Dieter blickte ihn an. Der Vater nickte bloß, ging langsam weiter und blieb nach ein paar Schritten stehen, so daß der Sohn wußte, er werde erwartet und ohne Abschied von seinen Gesellen folgte. Der Vater ging ruhig weiter, der Bub, bis an seine Knie reichend, still nebenher. Dann fragte der große Mann scheinbar beiläufig, was sie denn da anstellten und wer der Heinrich Kundl sei. Dieter verriet seinen geheimen Plan mit dem Gange nicht, sondern gab nur über den Feldwebelbuben Bescheid, worauf der Vater nach einer Weile nachdenklich meinte, der könne ja in Gottes Namen lieber in die Aula kommen, als daß sie sich da draußen umhertrieben. »Soldatenwirtschaft ist nichts für unsereinen, Schmutz, Gestank und Unordnung, hast dich wohl schon in der Kaserne umgeschaut, gefällts dir vielleicht?« Dieter verneinte von Herzen, denn der Vater hatte ihm aus der Seele gesprochen. Weiter war von der Angelegenheit zwischen den beiden nicht mehr die Rede, aber Dieter hielt dieses Dazwischentreten einer höheren Macht für einen bedeutenden Wink, da er längst stille Bedenken gegen den Kundl gefaßt und ihn bisher von seinem heimlichen Palast geflissentlich ferngehalten hatte. Nun wollte er den Soldatenbuben einmal in seine Heimat führen, und wenn er sie richtig würdigte, dann war alles gut, wenn nicht, dann mochte er fortan lieber in seiner Kaserne bleiben. Am nächsten Tage war es an Dieter, dem Kundl nachlässig, aber geheimnisvoll zuzunicken: »Du darfst mit mir kommen.« Der Feldwebelsohn zuckte die Achseln und folgte mit gelangweilter Miene. Dieter führte ihn mit Absicht, von der lärmenden Wollzeile auf den Universitätsplatz durch den geheimnisvollen Schwibbogen unversehens vor die stille Herrlichkeit. Der dunkle Schwibbogen selbst hauchte einen Grabesschauer aus, der Kundl pfiff dazu. Der Universitätsplatz eröffnete sich, der Soldatenbub schaute gleichgültig drein und kaute an seinem Kommißbrot. Dieter zeigte auf die Aula: »Da wohn' ich.«

»Das muß aber fad sein,« antwortete der andere. Dieter schwieg. Der Platz war leer, nur die zarten Tauben spazierten wie sonst auf und nieder und flogen auf die Schultern der Brunnenfiguren. Nicht einmal Studenten mit bunten Mützen gab es um diese Zeit. Dieter ging verlegen weiter und ließ den Kundl in das Stiegenhaus eintreten, dessen reiner Steinhauch und dämmernde Höhe ihn immer wieder überwältigten. Der Kundl pfiff vor sich hin. Dieter, der hier noch nie ein Wort gesprochen, geschweige denn etwas gesungen oder gepfiffen hatte, schämte sich seines Begleiters. Aber da der Kerl einmal hier war, so wollte er ihn zum ersten- und letztenmal noch über die Stiege hinaufführen. Er ging an dem marmornen Geländer und streichelte wie immer den kühlen Stein. Der andere folgte stumm. Dieter stand vor den verschlossenen Türen im ersten Stock, vor den Messinggriffen, der andere ging weiter, der hatte noch nie vor einer Türklinke Ehrfurcht gehabt. Im zweiten Stockwerk blieb Dieter abermals stehen und wies stumm auf die hohen, schön gefladerten dunkelbraunen Pforten in den steinernen Rahmen. Der Kundl sagte: »Was ist da weiter dabei?« und stapfte vorwärts. Endlich waren sie oben. Aber jetzt beschloß Dieter, ihn gar nicht erst in seine Wohnung zu führen, denn was sollte er dort mit ihm anfangen? Am besten, man rutschte gleich über die glatten Treppenwangen, so war man wenigstens bald wieder unten und draußen. Wortlos setzte sich Dieter also auf den Marmor und fuhr absatzweise voran, das gefiel auch dem Kundl, welcher mit einem lauten Hallo folgte. Dies machte Dieter vollends vor Wut und Scham erbeben, so daß er in seinem Herzen flehentlich zu Gott bat, es möge nur niemand diese Lästerungen vernehmen und etwa herbeikommen, nicht weil er die Strafe für das verbotene Rutschen, sondern nur die Schmach fürchtete, mit einem solchen Gesellen betreten zu werden, der hier brüllte. Das Schicksal hatte Einsicht und ließ die beiden ungestört zu ebener Erde ankommen. Der Kundl bemerkte nicht einmal die Eile, mit welcher er wieder davongeschoben wurde, als Dieter ohne jede andere Mitteilung einfach »Servus« sagte, die Türe öffnete und ihn entließ. Pfeifend schlenderte der Feldwebelsohn davon, während Dieter im Flur angstvoll den Atem anhielt, ob der »Lausichl« nicht etwa zurückzukommen wagte. Als eine Weile verstrichen war, seufzte Dieter erlöst auf, stieg langsam wieder die drei Treppen hinauf. Oben angelangt, lehnte er sich an die Marmorbrüstung, sah still in die dämmrige Brunnentiefe und spuckte endlich hinab. Er zählte langsam bis drei und vernahm befriedigt die leise Antwort von unten.

So waren die ersten Weihnachten in der neuen Heimat gekommen, und Dieter hatte besonderen Grund, sich auf dieses Fest zu freuen, denn da kam aus des Vaters Landschaft ein hoher Tannenbaum und duftete tagelang durch die schöne Wohnung. Die Mutter briet und buk Süßigkeiten und kräftiges Eßwerk aller Art, und es gab Geschenke. Dieter brauchte sich nicht vor Enttäuschungen zu fürchten, daß man ihm etwa einen nötigen Anzug oder dringend erforderliche Wäschestücke verehrte. Derlei hätte ihn erzürnt und gekränkt, denn die Weihnachten sind nicht dazu da, das Notwendige zu bringen, das eins ohnehin braucht und bekommen muß, sondern für das Ueberflüssige, für alle stillen Wünsche, die auf diese Zeit vertröstet werden und dann von Rechts wegen auch erfüllt werden sollen.

Heuer gab es aber ganz neue Weihnachten, und der Vater hieß Dietern sich bereits früh am Nachmittage ordentlich anziehen, denn er sollte den Abend nicht in der Küche der Mutter, wo der Tannenbaum stand, sondern beim Herrn Professor unten im zweiten Stocke feiern. Dietern klopfte das Herz, weil er endlich auch die Geheimnisse des verschlossenen zweiten Stockwerks kennen lernen sollte. Dort wohnte nämlich in der Nachbarschaft der Sitzungssäle der Akademie der Wissenschaften der Sekretär der historischen Klasse, Herr Hofrat und Professor des deutschen Rechts und der deutschen Reichsgeschichte, Dr. Friedrich Ronge. Dieser vornehme Mann, der seinem Ehrenamt als gewählter Sekretär der historischen Klasse der Akademie die geräumige Dienstwohnung verdankte, betrachtete sich in der Bescheidenheit, welche jeder wahren Würde verschwistert ist, nicht als Herr, sondern nur als Gast dieses Hauses und hielt sich darum für verpflichtet, auch Gastfreundschaft zu üben. Die bestand aber nicht in Festen und Zusammenkünften gleichgestellter städtischer Großleute, denn er lebte zurückgezogen seinen Studien und amtlichen Aufgaben, sondern darin, daß er einmal im Jahre, eben zu Weihnachten, sein Haus den Kindern des Palastes öffnete. Er lud die Jugend der alten Aula zu sich, alle die Knaben und Mädchen der Diener und Beamten der Akademie und der Universität, von dem Kind der Wartefrau bis zu den Buben des Kanzleivorstandes. So fand beim Herrn Hofrat eine jährliche Heerschau dieser Rekruten der Aula statt. Dieter wußte gar nicht, daß sie so viele Leute seinesgleichen beherbergte, denn sie hielten sich das ganze Jahr lang verborgen, wie er, und er bekam immer nur ein paar Diener mit Amtsmützen und gelegentlich den breiten Portier zu sehen, welcher an gewöhnlichen Tagen meist in schäbigem Alltagskleid, zeitunglesend und pfeifenrauchend in seiner Loge saß und nur bei besonderen Anlässen mit goldgerändertem Dreispitz, ein breites glänzendes Bandelier um die Schulter, Medaillen an der Brust und einen mannshohen Stab in der Rechten, vor dem Tore stand. Einmal im Jahre sollten alle Pfleger des schönen Hauses für ihre Mühe Dank haben, indem ihren Kindern ein Fest gegeben wurde. Das aber war sicherlich das schönste Werk des Hofrates Ronge. Seine gelehrten Arbeiten sind wohl längst überholt worden. Der Herr Professor prüft nicht mehr die jungen Kandidaten über die Schilde des Sachsenspiegels und über Herrn Eike von Repkow oder über des Hugo Grotius bedeutende Auffassung. Der gelehrte Mann schrieb ein altertümliches Deutsch, das die Würde seiner gehaltenen bildhaften Sprache aus der reinen Quelle der deutschen Vergangenheit schöpfte, und mancher Student, der den ersten Flaum auf der Lippe noch ängstlich hervorzupfen mußte, hatte was zu lächeln, wenn der aufrechte, ungebeugte Professor auf dem Katheder in altmodischem, blauem, langem Rocke, mit blondem, doch schon stark weißdurchschimmertem Haar und Bart von der Volljährigkeit nach deutschem Rechte zu sprechen »anhub«, die bei den Jünglingen begann, wenn sie »zwischen zween Bärten sich gürten«. Als Herr Professor Ronge den Katheder für immer verließ, war wohl auch sein gelehrtes Tagwerk abgetan. Aber er blieb immer noch mehr als ein gelehrter Hofrat, nämlich ein braver Mann, indem er zu Weihnachten seine Tür vielen, erstaunten, unweisen Kindern öffnete. Die sind seither viele Wege gegangen, als Studenten in die neue Universität, denn die alte Aula hatte bald mit dem Lehrbetrieb nichts mehr zu schaffen, als Soldaten ins Feld, als Handwerker in Stadt und Land, als Dienstmädchen in Häuser, als Mütter in Ehen, kurz sie sind wie geflügelte Samen in alle Welt verweht. Die einen haben in gutem, die andern in schlechtem Boden Wurzel geschlagen, wieder andere sind gestorben und haben kein Reis hervorgebracht. Aber alle behielten das Andenken der festlichen Weihnachten beim Herrn Hofrat, und wo immer sie stecken mochten, fiel ihnen zu dieser Zeit sicherlich der Professor Ronge ein und die Freudenwirtschaft des 24. Dezember im Palaste. Und diese Erinnerung haben sie weitergegeben, so daß heute schon Kinder und Kindeskinder davon erzählen gehört haben. Ein solches Erinnern aber bleibt nicht eine dürre Tatsache, sondern wird, je weiter es zurückliegt, desto großartiger und wunderbarer und steht den späten Enkeln wie ein hochschattender, duftreicher, gabengeschmückter Weihnachtsbaum selber vor Augen. Herr Hofrat Ronge hat ihn gepflanzt, und dieser Baum überlebt ihn als sein bescheidenstes, aber schönstes Werk, aus der wahren Quellengeschichte der deutschen Seele erwachsen, aus dem Grunde des Lebens, wo er am fruchtbarsten ist: aus einem einfachen, guten Gefühl.

Da war also der große Tag. Dieter hatte seinen schwarzen Anzug angelegt, und heute durfte schon das Mittagessen: Schweinsbraten mit Specklinsen als feierliche Einleitung gelten. Dann führte ihn der Vater zum ersten Male in den Festsaal, der von Kerzenlicht erhellt, ein farbenstrahlendes Wandgemälde, alle Fakultäten in mannigfachen Sinnbildern versammelt, darstellte. Der Knabe verstand zwar die Bedeutung dieser Figuren nicht, wohl aber die Macht dieser freudigen Geisterwelt, welche alles Sinnen des Menschen als Lust und Herrlichkeit vergegenwärtigte. Der Vater führte ihn dann noch durch die stillen Sitzungssäle und erklärte ihm, wer auf diese hohen Stühle gehörte, die an langen gelben Eichentischen vor weißen, überlebensgroßen Kachelöfen standen und, selbst unbesetzt, die Würde des edlen Rates zeigten, der sich gelegentlich hier versammeln durfte. An die großen Bogenfenster tretend, sah Dieter schon in der beginnenden Dunkelheit den Schnee fallen, der mit Flockensilber, mit hohen weißen Säumen und mit lärmdämpfenden, geheimnisvollen Decken alle Dächer und Gesimse verkleidete, Bänder um die Jesuitenkirche, Hauben auf die Heiligen setzte und weiße, einspinnende Fäden in der Luft webte. Weiß war das Pflaster unten, der dunkle Himmel sandte weißen Schein zur Erde, und die Geräusche der Wagen und Pferde und der Menschen drangen nur mehr leise hinauf, durch einen Schleier von Flocken, die als Vorhang zwischen der Welt und dem Fest schwebten.

Das Vorzimmer des Herrn Hofrates war hell erleuchtet und wimmelte von einer bewegten Kinderschar. An den Kleiderstöcken hingen Hüte, Mäntel, Tücher. Jeder neue Gast wurde von freundlichen Mägden, welche weiße Schürzen und Häubchen trugen, empfangen, seiner Ueberkleider entledigt und auf eine kurze Weile vertröstet, bis alles vorbereitet war. Auch Eltern waren da, Waschfrauen, Zimmeraufwärterinnen, Diener, es roch nach nassen Schuhen und Röcken, die in der Wärme behaglich dampften. Dieters Vater hielt sich nicht gerne zu einer Schar von Fremden, schärfte daher seinem Buben nur noch ein, daß er sich ordentlich benehmen und schönen Dank sagen solle und verschwand dann unbemerkt, wie er eingetreten war.

Während die Kinder zusammengedrängt wie ein Rudel Schafe der kommenden Dinge harrten, vernahmen sie in den Zimmern ringsum geheimnisvolles Schieben und Rumoren, da wurden die Dienstmädchen mit Namen gerufen und eilten hin und her; eine Tür öffnete sich, und zwei junge Damen, die Hofratstöchter, stürzten lachend in weiten Pudermänteln wie zwei märchenhafte Festgestalten ins Vorzimmer, rüttelten die halbfrisierten Locken, schrieen einander etwas zu, das Dieter nicht verstand, verschwanden in der Küche, kamen wieder, eine wohlriechende Wolke von Gebackenem strömte aus der Eßwerkstatt, sie hatten sich davon zum Naschen geholt und verschwanden wieder, etwas Knuspriges knabbernd, mit streitbarem Lachen und einander aus den weiten weißen Umhängen mit erhobenen Armen drohend. Eine Weile blieb es noch still, die Kinder traten von einem Fuß auf den andern und flüsterten, dann scholl ein helles Klingeln, die Flügeltür zum Eßzimmer wurde von unsichtbaren Händen geöffnet, und noch vor dem Eintreten gewahrte man den hohen, bis an die Decke reichenden Baum, von Lichtern und von Gold und Silberfäden funkelnd, weiße Watte wie Schnee auf den Aesten, von roten, blauen, gelben Papierlampions durchleuchtet, beladen in seiner wohlgeordneten Fülle und in der Wärme des hohen Raumes seinen harzigen Atem weithin ausatmend. Das Zimmer stand in der duftenden Dämmerung ganz unter der Herrschaft dieses Helden. Die brennenden Kerzen schwelten ihren Wachsgeruch in den des Harzes hinein, und in der dunkeln Ecke saß eine alte Dame am Flügel und spielte. Aber nur wer nähertrat, sah sie. Die Kinder, die sich um den Baum drängten, hörten bloß, und auch nur wie aus der Ferne einer verschneiten Einsamkeit, Spiel und Gesang. Hinter der Hofrätin standen ihre beiden Töchter, die mit den Pudermänteln, jetzt in rosenfarbenen Falbelkleidern und mit feinfrisierten blonden Locken, so daß sie zwei musizierenden Engeln glichen und sangen zu den gehaltenen Akkorden »Stille Nacht, heilige Nacht«.

Das Lied dauerte glücklicherweise nicht lange, dann begaben sich die Damen zu den kleinen Gästen und verteilten die Gaben. Und hier war es die weibliche Güte und mütterliche Sorgfalt, welche die Geschenke geordnet und an jeden Bedachten auch wirklich gedacht hatte, indem jedes einzelne Kind nach seinen Umständen und Bedürfnissen, soweit dies mit beschränkten Mitteln anging, auch richtiges und geeignetes empfing. Ein kaiserlich königlicher Hofrat und Professor ist zwar schön betitelt, aber darum kein reicher Mann, auch stünde ein Uebermaß von Gabeneifer als unbescheiden nicht an, so wurden nicht lauter neue und teure Dinge verteilt, sondern mancherlei gebrauchte, denen die Familie des Gastherrn etwa entwachsen war, aber kein einziges Zweckloses oder Widerwärtiges, keines, dessen sich die Schenkenden etwa aus Ueberdruß entledigten, sondern lauter Passendes und Richtiges und alles wieder dem rechten Empfänger bestimmt. Da gab es Kinderkleidchen und Wäsche, Schuhe und Schirme und all das Um und Auf der Tracht, von den Strümpfen, bis zu den Haarkämmen. Das bekamen kleine Mädchen und Knaben, von denen man wußte, sie gingen sonst barfuß, und die Eltern könnten so gute Sachen nicht beschaffen. In anderen, schön hergerichteten Paketen lag anderes. Ja, nicht zu vergessen, jedes Geschenk war in rosenfarbenes Seidenpapier aufs sorgfältigste eingewickelt und mit goldenem Bindfaden zierlich zusammengehalten. Das kam auf die beiden Hofratstöchter. Schenken allein ist nichts, die Gabe muß in bescheidener Anmut doch die Freude des Gebers zeigen, seine Achtung vor dem Empfangenden, und den goldenen Faden, der eine Sache von geringem Wert umschließt, sieht das Kind sein Leben lang leuchten, wenn es das armselige Spielzeug längst vergessen hat. So bleibt mit einem schmalen glänzenden Faden Güte Mensch an Mensch gebunden.

Den Leutchen, deren Eltern selbst Schuhe, Kleider und Wäsche ordentlich beschaffen konnten, wurde das eigentlich Ueberflüssige bereitet. Da zog einer ein kleines, wohlerhaltenes Schachspiel hervor, Bausteine der andere, Bücher aller Alter und Arten, kein wertloses und kein unordentliches darunter, keine unnützen Prachtbände, sondern lauter ehrbare Werke, handliche Naturgeschichten, Grimms Märchen, Gustav Schwabs »schönste Sagen des klassischen Altertums«, Hebels Schatzkästlein und dergleichen mehr. Dieter bekam eine schmale Schachtel mit großen Dominosteinen, deren Schwarz-Weiß ihm wohlgefiel.

Nachdem alles verteilt war, stürzten die vorhandenen Eltern hinzu, umringten die Hofrätin und die beiden Töchter mit Handküssen und Danksagungen, die Weiber besahen und verglichen genau die Geschenke der fremden mit denen ihrer eigenen Kinder und waren wohl schamlos genug, als rechte Menschen, noch im selben Zimmer, wenn auch im stillen zu widerbellen, wenn ihnen die Verteilung nicht gerecht, oder nach Wunsch vorkam. Aber je schlimmer sie waren, desto lauter beteuerten sie ihren Dank und schickten immer wieder ihre Kinder zum Händeküssen ins Treffen.

Dieter, von Natur schweigsam und selbständig geraten, vermochte bei diesem Dankbarkeitsausbieten nicht mitzutun. Er bekam daheim, was er brauchte, und seinen Eltern fiel es nicht ein, für ihre Pflicht und Schuldigkeit besonderen Dank zu verlangen, er nahm, was er erhielt, bescheiden an, aber er konnte dafür keine großen Worte machen, Hände küssen und sich aufgeregt geberden. So stand er auch hier abseits, sein Dominospiel in der Hand und betrachtete das Gedränge.

Langsam löste sich dieser Taumel, die Herde wurde in ein zweites Zimmer an einen vollbesetzten Tisch getrieben und nach Herzenswunsch gefüttert. Duftender Kaffee und mächtiger »Gugelhupf« wurde gereicht, und vor jedem Gedeck stand ein gehäufter Papiersack mit Aepfeln, Nüssen, Malagatrauben, Krachmandeln und knusprigem Backwerk.

Als die Kinder genug gegessen und getrunken hatten, von der Hausfrau und den beiden Töchtern bedient und nach jedem Wunsch gefragt, hieß es: »Nun ist es Zeit zum Schlafengehen.«

Die Hofrätin sagte: »Jetzt wollt ihr wohl noch den Herrn begrüßen.«

»Ja,« riefen die älteren Stammgäste, welche diesen Abschluß des Festes bereits kannten.

Die Kinder mußten sich hintereinanderstellen und im Gänsemarsch durch die Wohnung nach dem Studio des Hofrates ziehen, welches von dem Lärm weitab lag. Die ältere Tochter führte sie, einen Leuchter in der Hand, durch das Zimmer mit dem Baume, das nun schon ganz verfinstert war, durch das Schlafgemach der Eltern, durch ihre eigene weiße Mädchenstube, durch einen schmalen Glasgang an eine ledergepolsterte Türe. Durch diese trat man endlich in einen hohen Raum, dessen vier Wände bis an die Decke mit Büchern bestellt, in einem blauen Rauch dalagen. An einem Riesenschreibtische in der Ecke saß vor einer kleinen Studierlampe der Hausherr, den Kopf über ein Buch gebeugt, in einem braunen Sammetrocke, aus einer langen Pfeife qualmend. So schien er unserem Dieter ein Weihnachtsmann selber. Er hatte über seiner Arbeit wohl die festliche Zeit, wie die ganze Welt vergessen, denn als diese Kinderreihe an ihm vorüberzuziehen begann, blickte er ganz erstaunt und verlegen auf. Aber sitzend richtete er sich doch rank empor und ließ lächelnd seine Gäste passieren, ohne die einzelnen anzusprechen. Jeder sagte sein »Küß die Hand« und empfing ein freundliches Nicken als Gegengruß, und Dieter, welcher als letzter vorüberkam und beim Ausgang noch einen Blick zurückwarf, sah ihn gleich wieder das Buch vornehmen und das greise Haupt über die gedruckten Seiten beugen.


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