Otto Stoessl
Morgenrot
Otto Stoessl

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IV.

Nach dem Leichenbegängnisse, welchem außer dem Vater und Buben nur eine jüngere Schwester der Verstorbenen, die in einem Wiener Bürgerhause als Magd diente, sowie der Onkel Philipp anwohnten, schrieb der Witwer oben im Bibliothekssaale mit Kopiertinte auf schwarzgerändertem Papier eine Todesanzeige und vervielfältigte sie selbst: »Lieber Freund. Hiermit gebe ich bekannt, daß meine Frau Franziska am neunundzwanzigsten Juni nach langem Leiden und nach elfjähriger Ehe gestorben ist. Ich bin sehr betrübt.«

Nur wenige Tage blieben Vater und Sohn in der verwaisten Wohnung. Der Knabe war nun zehn Jahre alt und sollte im Herbst das Gymnasium beziehen. Sein Vater wollte sich und sein Kind dem düstern Anblick aller der vertrauten Dinge entziehen, welche an die Mutter erinnerten. Auch war der Uebergang zur höheren Schule eine so entscheidende Wendung, daß es ihm gerecht schien, dem Buben vorher eine Stärkung und Erholung zu vergönnen. Darum beschloß er, ihn in die Heimat zu führen, ihm die ganze kleine, große Landschaft zu zeigen, aus welcher seine Familie stammte, und wo sie zum Teile noch versammelt war. Seit seiner Freierschaft war er nicht daheim gewesen, nun wollte er sein Geburtshaus wiedersehen und sich bei seinen Leuten so gut es gehen mochte, der herben Notwendigkeit des Schicksals getrösten.

Als Dieter mit dem wohlgeratenen Volksschulzeugnisse heimkehrte, machte er ihm von der bevorstehenden Reise Mitteilung. Am kommenden Tage sollte sie angetreten werden.

»Da hast du Geld,« sagte er »vielleicht brauchst du dies und das. Abends werden wir einpacken.«

Welche Fülle und Herrlichkeit versprach sich dem Ueberraschten, der zum erstenmal in die Welt hinaus sollte! Höchste Zeit, das Nötige zu besorgen! Sein Vater war, weiß Gott, ein braver Mann, ihm diese paar Sechser in die Hand zu geben, ohne weiter zu fragen, was damit angeschafft werden sollte. Hat doch auch ein Bub seine besonderen Ausrüstungsgegenstände und Reisenotwendigkeiten, die einen Alten nichts kümmern, weil er davon nichts versteht. Wenn ein Alter dies aber weiß und sich eben darum auch nicht weiter dareinmischt, versteht er es doch wohl aufs beste. In aller Eile, aber mit allem Behagen, ging Dieter nun auf seine Besorgungen aus, recht als wohlhabender Privatmann, dem die Gassen freundlich zuschauen und der keine Schule hat. Er verdankte die Kenntnis entlegener Stadtgegenden einer eigentümlichen Gepflogenheit seiner Eltern. Sie meinten nämlich für verschiedene Waren die besten und wohlfeilsten Bezugsquellen zu kennen und blieben den erprobten Geschäften treu, wo immer sie wohnten. So wurde der Essig immer aus dem Laden in der Marktgasse, das Rauchfleisch immer von einem Selcher in Hernals und das Brot, echtes Olmützer Schwarzbrot, von einem Händler in der Praterstraße bezogen, welche Einkäufe, seit er allein fortgeschickt werden konnte, stets unser Dieter zu besorgen gehabt hatte. Besonders das Brot holte er gern von der Praterstraße, weil sich nebenan ein wunderbares Geschäft befand, das alle Schätze seiner Welt in einem hohen Auslagefenster enthielt und darstellte, ohne daß er sie, selbst eine ganze Stunde davorstehend, völlig ergründen konnte. In diesem Laden nahm er auch stets seine eigenen, tagelang erwogenen, mit den gesammelten spärlichen Kreuzern zu bestreitenden Einkäufe vor und betrat ihn niemals ohne Schauer und Demut, denn der Inhaber genoß als Besitzer solcher unermeßlicher Herrlichkeiten und als gestrenger, würdiger Mann seinen höchsten Respekt. Es war keineswegs leicht, alles zu erlangen, was man begehrte; der Kaufmann ergab sich nicht jedem beliebigen Wunsch, sondern prüfte auch dessen sittliche Berechtigung, und andererseits mußte, bevor sich das teuere Geld aus der fest geschlossenen Hand löste, auch unter den erwünschten Gegenständen die genaueste Wahl getroffen werden, sollten sie doch tunlichst wohlfeil, aber möglichst kostbar, ja unersetzlich sein und bleiben. Kurz, es war eine arge Lust, hier als Käufer zu bestehen.

Diesen Laden suchte Dieter auf und stand, bevor er eintrat, eine geschlagene Stunde vor dem Schaufenster.

Es sei vergönnt, Herrn Hermann Schreiers Auslage hier so eingehend zu beschreiben, wie der junge Dieter sie sah. Das war im Grunde ein Zehn- und Zwanzigkreuzer-Geschäft, denn nur wenige Gegenstände erfreuten sich höherer Preise, vielmehr sollte alles, was begehrt werden konnte, vorhanden und jedem erschwinglich sein.

Zur Vorsorge für Käufer fremder Nationen fehlte übrigens nicht einmal die Inschrift: On parle français und English spoken here. An dem großen Schaufenster war unten ein schmaler Aushängekasten befestigt, der bis zum Erdboden reichte, so daß auch jene Kleinsten auf ihre Rechnung kamen, die noch an der Hand der Mutter oder Kinderfrau vorbeispazierten und, um stehen zu bleiben, den Rock der Begleiterin festhielten. In diesem Erdgeschoß der Wunderauslage waren Holzschachteln mit Häusern, grünen Bäumen und Kisten, Holzdominospiele, eine Holzspritze um vier Kreuzer, Puppengeschirr aus Blech und Ton, ein Kegelspiel, Soldaten auf Holzfüßen oder aus buntlackiertem Zinn, für ländliche Wirtschaften gab es Butterfässer und Melkeimer, ferner Bausteine, dann Schellen mit Handhabe aus Veilchenholz, welches den Zahnwuchs fördert, Peitschen aus Leder, Katzen, Hunde und Hasen aus Fell, höchst naturgetreu, eine Blechlokomotive und Nudelwalker, nackte kleine Porzellanpuppen, die man baden und bekleiden kann, ein Kaleidoskop, Glas- und Steinkugeln, Kanonen und Zinnpfeifchen. Höher oben begann die eigentliche Auslage, vom Inhaber so angeordnet, daß in der verschiedenen Augenhöhe der Betrachter gerade diejenigen Gegenstände auffielen, welche dieser Größe und diesem Lebensalter besonders wichtig scheinen mußten. Darin dürfte sich Hermann Schreier als Menschenkenner und Geschäftsmann wahrscheinlich kein einziges Mal getäuscht haben.

Da hingen Angeln, hingen Christbaumkerzen, fünf Stück zu einem Kreuzer, Nachtigallflöten um einen Kreuzer, Stehaufmännchen, Gummiköpfe, welche auf einen Druck die Zunge zeigen, Gummibälle, Reibschalen für Farben und Farben selbst, drei Stück um einen Kreuzer, Maultrommeln, Kreide, bunte Bleistifte, Räucherpapier, größere Puppen mit blonden oder schwarzen Haaren, in Kleidern und Hemden, eine Laterna magica, Revolver mit Kapseln, Notizbücher um einen Kreuzer, winzige Märchenbücher »Hänsel und Gretel«, »Dornröschen« oder »Aschenbrödel« um einen Kreuzer pro Stück, Eintrittskarten-Blocks für Kindertheatervorstellungen, Fahrkarten für Reisen, Schüler-Kalender zu acht Kreuzer, Federn in allen Formen. Noch höher Brillen, Kneifer und Monokel aus Fensterglas, falsche Goldketten, Magnesiumbänder, welche entzündet, das herrlichste elektrische Bogenlicht erzeugen, Federmesser, Zigarettenhülsen, schwarze Jettperlen-Ketten für Frauenzimmer, Ordenssterne aus Papier oder Blech gepreßt, Schwämme, Figuren für Krippenspiele, Gebetbücher aller Bekenntnisse; Herr Schreier war als Jude duldsam, als Geschäftsmann weitblickend. An den Seitenfächern stand, was ein armer Soldat oder ein Dienstmädchen etwa braucht, zum Beispiel Porzellanschalen mit gold- oder buntbemalten Namen: Katharina, Pepi, Josef, Wäsche aus Trikot oder Chiffon, gesteifte Vorhemden, Kragen aus Leinwand oder Zelluloid, Manschetten und Knöpfe, Kragenhalter, Krawattennadeln mit den Wappen und Farben aller Staaten der Welt, ein Universalkitt, Schuhwichse, Fleckseife, Zahnpulver, Seifen, Gasglühnetze, Maulkörbe, Tragriemen, Reitpeitschen, Kindergeigen, Säbel, Kaffeemühlen, Gesellschaftsspiele, Kämme, Haar- und Kleiderbürsten, ein Erdglobus, Klarinetten, Rechenmaschinen, Glaswaren, Leuchter, ein Hutschpferd, Lampions, Eßbestecke, Reisetaschen aus Leder, Wachsleinwand oder Pappe von einer Krone aufwärts, Gamsbärte für Jägerhüte, Thermometer, Dampfmotoren für Spielbetrieb, Trompeten, Schlittschuhe, Vorhängeschlösser; in Schmalfenstern: Kalender, Ansichtskarten mit zärtlichen Figuren und komischen oder höhnenden Versen und noch vieles, was man etwa nicht gleich wahrnahm oder würdigte, alles, was man brauchte und noch um tausend Dinge mehr, aber um kein einziges zu wenig.

Als Käufer stolz und doch befangen, trat Dieter in den Laden. Er hätte sich gerne nach dessen inneren Herrlichkeiten umgesehen, doch gönnte die Gegenwart des strengen Ladeninhabers keine Zeit zu solchen Umschweifen. Dieter sagte beklommen und höflich »Guten Tag«. Herr Schreier gab es zurück und fügte hinzu: »Was willst du?«

Nach kurzem Besinnen entschloß sich Dieter, seine Wünsche nicht auf einmal, sondern der Reihe nach bekannt zu geben und verlangte zuerst ein Federmesser. Hermann Schreier führte allerdings Federmesser mit mehreren Klingen und mit Heften aus Bein oder Horn, aber weil er Dieters Zahlungsfähigkeit gering einschätzte, legte er ihm nur Taschenfeitel zu vier Kreuzern mit rotem Holzheft und einer simpeln Eisenklinge vor. Schüchtern äußerte Dieter, er möchte ein großes Messer mit Hirschhornheft und zwei Stahlklingen bekommen. Herr Schreier runzelte die Stirn und rügte dieses Verlangen, wobei er jedes im Gaumen geborene Wort langsam über die Zunge gehen und noch von deren Spitze zurückhalten ließ, was einen zögernd, aber gewichtig mißbilligenden Zischlaut bewirkte. »Was brauchst du zu haben ein so großes Messer? Das hängt dir in der Hosentasche so schwer, daß es ein Loch macht, und die Buben werden einseitig davon.«

Mit Mühe bestand Dieter auf seinem Begehren. Achselzuckend zeigte der Kaufmann das Gewünschte und nannte stirnrunzelnd den Preis, nicht ohne streng auf die Höhe solcher überflüssigen Ausgabe hinzuweisen. Er vermutete offenbar, sein Kunde hätte gar nicht Geld genug und würde schließlich doch auf den Taschenfeitel zurückkommen müssen. Aber diesmal hatte er sich getäuscht, Dieter bemängelte weder den Preis, noch zeigte er sich darüber besonders erstaunt, sondern er prüfte die Ware, besah die Klingen und ihre Marke und legte eine ganze Reihe von Messern vor sich hin, bis ihm Herr Schreier wieder Stück um Stück entzog und in die Lade zurückräumte, so daß nur das erstbesehene übrig blieb: »Du wirst das da nehmen, es ist das beste sag' ich dir.«

Und dann wollte Dieter ein Notizbuch.

Herr Schreier brachte eines in blauem Pappendeckel mit Golddruckaufschrift: »Notes.«

Dieses Wort mißfiel Dietern sehr, er verlangte eines ohne Aufdruck.

»Was heißt das?« brummte Herr Schreier, »eigens für dich wird man eines machen ohne Notes? Notes ist schön, Notes ist englisch, Notes ist von Gold, nimm es nur.«

»Aber es ist ja liniiert,« wendete Dieter ein.

»Natürlich ist es liniiert.''

»Aber die Linien sind schief.«

»Grad liniieren wird man's, eigens für dich, mein Kind und alles um fünf Kreuzer. Und dann sind die Linien doch gar nicht schief.«

Dieter fürchtete, der Herr Schreier würde ihm bei langem Sträuben auch dieses Exemplar entziehen, daher nahm er es schließlich doch noch an.

Weiter benötigte er einen Kalender.

»Jetzt, im Juli willst du einen Kalender? Was für ein Unsinn, wenn das halbe Jahr schon um ist. Warum hast du nicht zu Neujahr einen gekauft?«

»Ich möchte einen Kalender um einen Kreuzer.«

Herr Schreier lachte ingrimmig: »Kostet in dem Dreckstaat für jeden Schmarrn ein Stempel mindestens seine fünf Kreuzer, und so ein Jüngel will haben einen ganzen Kalender um einen Kreuzer. Zehn kostet er, meiner Seel'.«

»Weil das halbe Jahr schon um ist, heut' haben wir ja bereits Juli. Alle Tage bis zum heutigen gelten doch nicht mehr,« wendete Dieter ein.

»Nein, mein Lieber, der Kalender ist für das ganze Jahr, und du kannst vielleicht einmal brauchen, nachzusehen, was für ein Tag der zehnte Februar gewesen ist, oder sonst etwas und wirst es genau finden.«

So wurde auch der Kalender genehmigt.

Der letzte, aber wichtigste Wunsch: eine Angel.

»Wozu eine Angel?«

»Zum Fischen.«

»Natürlich, zum Vogelfangen brauchst du keine Angel! Aber in Wien wirst du damit herumstreichen, wo es verboten ist, und sie werden dich hoppnehmen mit deiner Angel, und dann werden sie dich fragen, wo du sie her hast, und es wird heißen, der Hermann Schreier hat sie dir verkauft und du hast damit was angestellt, was nicht erlaubt ist.«

Erst als Dieter versichert hatte, er werde nur in Böhmen damit fischen gehen, durfte er die Angel an seinem Daumennagel prüfen und die allerfeinste auswählen.

Nun war er ausgerüstet; am Abend legte er alle diese kleinen Gegenstände beiseite, da sie der Vater nicht zu sehen brauchte, der seine eigenen Habseligkeiten in ein großes, die seines Buben in ein kleines Bündel schnürte, und am Morgen zogen sie ab und fuhren nach Prag, wo sie einen ganzen Tag spazieren gingen. Die alte, merkwürdige Stadt fiel dem Knaben nicht sonderlich auf, denn derlei Gassen mit dunkeln Palästen und unheimlichen Winkeln gab es ja auch in Wien und man mußte wo zu Hause sein, um ein solches Durcheinander mit Muße zu ergründen. Aber etwas anderes entdeckte und würdigte Dieter zum erstenmal: den Wert des Lesens. Daß die Buchstaben und ihre Zusammenstellung zu Worten, Zeilen, Sätzen, die Begriffe des Gedruckten oder Geschriebenen, eine lebendige Bedeutung hatten und wirklich notwendig waren, ergab sich ihm jetzt erst, als er beim Umherstreichen die unzähligen Tafeln und Firmenschilder, Plakate und Anzeigen las und jedes einzelne erwog. Fürwahr: Prag war die »geschriebene Stadt«, denn jedes Firmenschild wies zwei Sprachen, damit der Deutsche und der Tscheche es verstand und sich einprägte. Dazu war es gemacht, dazu dienten die Lettern. »Adam Müller, Optiker«, daneben war gleichberechtigt zu lesen: »Adam Müller, Optikaž«, und jetzt wußte jeder, woran er war, abgesehen von der großen, blauen, goldgeränderten Brille, die als Ladenzeichen aushing.

Hernach fuhren sie die Nacht durch und kamen bei Morgengrauen in eine kleine tschechische Stadt, am Fuße jener allmählich ansteigenden Wälder und Wiesenhügel, von deren Höhe eine erbgesessene deutsche Bauernbevölkerung auf die »Bihmschen« herabsieht.

So nennt sie die Tschechen, die in der Ebene angesiedelt, die Festung des bescheidenen Hochplateaus rings umlagern, nicht ohne da und dort vorzudringen. Nun wanderten sie früh am Tage durch einen mächtigen alten Wald von Tannen und Fichten, aus welchem hier und da weiße Birkensäulen schimmerten. Viele Wege führten in die Kreuz und Quer. Jezuweilen öffnete sich eine Lichtung, und dann sah man auf schön ineinander übergehende Wiesenkuppen, die dem großen Himmel eine gewölbte Fläche eng anzuschmiegen schienen. Aber der Vater belehrte den Jungen, daß in Wahrheit zwischen diesen Kuppen enge, waldige Täler verborgen seien, an kleinen, raschen Bächen, und daß diese Täler nach allen Richtungen hinzögen, so daß man unversehens aus einem weiten einerlei der waldigen Höhe in die mannigfachen Winkel gerate, wo geschützte Nester von Bauernhöfen und Mühlen am Wasser lägen, von welchen man aber wieder hinaufsteige, wo der Himmel der nächste Nachbar sei und wieder in ein neues Tal und so fort, auf und nieder, so daß ein kleiner Umkreis Landes sich recht merkwürdig gleichsam um den wandernden Menschen drehe und wende und von allen Seiten besehen lasse.

Nach einigen Wegstunden kamen sie ins »Stadtla«, so heißt ein Marktflecken, welcher die kleine Landschaft beherrscht, indem er sie mit den Gütern versorgt, die in der Ferne erzeugt und doch von der Wirtschaft hier gebraucht werden, aber der Ort blieb gleichwohl ein Dorf, die Rückseiten der Häuser stießen unmittelbar an Felder und Obstgärten, und verließ man den Hauptplatz, so stand man auch schon mitten in der freien Welt. An einem Wohnhause sah man Bretter lehnen und hörte Hämmern und Sägen aus der Werkstatt.

»Da gehst du hinein«, befahl der Vater, »und fragst: wohnt hier ein gewisser Josef Dieter? das ist nämlich mein Brudersohn, dein Vetter.« Gehorsam ging der Junge in die Werkstatt, wo der Meister, eine qualmende Pfeife im Munde, vor der Hobelbank stand, während etliche Gesellen und Lehrlinge gehorsam schafften.

Der Bub blieb bei der Türe stehen und sagte wie ihm geheißen war: »Wohnt hier ein gewisser Dieter?« Der Meister nahm langsam die Pfeife aus dem Munde und schien erst den unbekannten Frageburschen ergründen zu wollen, ehe er sein erstauntes »Ja« sagte, aber bevor er noch etwas weiteres hervorbringen konnte, hatte Dieter schon kehrt gemacht und war bei der Tür draußen neben dem Vater, der ihn ansah.

»Hab's ausgerichtet.«

Der Vater dachte, man wird ja sehen und ging weiter, der Sohn neben ihm. Nun schritten sie schon ein Stück vom Städtlein weg bergauf unter den Ebereschen und Ahornen, welche die Straße einsäumten, als sie plötzlich hinter sich etwas schrittweis klappern und endlich den Ruf hörten: »Herr Onkel, Herr Onkel.« Das war der gewisse Josef Dieter, der Brudersohn, der im grünen Schurz und in den Holzpantinen hinter ihnen herlief. Der Meister hatte ihn unverzüglich gerufen und ihm gesagt, ein kleines Bürschlein habe nach ihm gefragt, sei aber gleich auf und davon gegangen. Nun habe er um Erlaubnis gebeten, nachzuschauen, wer ihn denn aufgesucht. Der Vater Dieter begrüßte den Neffen und wollte ihn wieder zur Arbeit zurückschicken, der aber, froh, auf so schöne Art einen freien Tag zu kriegen und mit einem unverhofften Onkel durchs Grüne zu streichen, ließ sich nicht abfertigen. Er wolle mitgehen, der Meister werde ihn schon entschuldigen. Also trabte er in seinen Pantinen zur Linken, Dieter zur Rechten des Mannes, und der Alte fragte den Tischlerbuben um alles, was der von der Heimat wußte und stand seinerseits dem eigenen Sohne Rede, der sich auch um alles erkundigte, was es da unter der Sonne zu sehen gab.

So kamen sie selbdritt in das erste Dorf, wo der Vater des Tischlerbuben hauste; das war ein Schneider, wie weiland der Vater der Dieters. Mit dem Handwerk war auch das Häuschen der Eltern auf ihn übergegangen. Es stand in einem Tal an einem Bache und hatte ein paar Aecker rechts und links und eine baumbestandene Anhöhe im Rücken.

Die Gäste traten über eine kleine Holzstiege in einen schmalen holzgedeckten Vorraum, dieser führte nach hinten in den Stall, während man durch eine Tür gleich in einen schmalen Gang kam, welcher das Haus der Tiere und der Streu von dem der Menschen trennte. Zur Rechten des Passes klinkte man wieder eine Tür auf und war mitten in der Werkstatt und im Wohnzimmer, in der Küche und im Schlafsaal des Dieterschen Ahnenschlosses, in einem niedrigen Raume, der nach Holz und Heu, nach Rauch und Tuch roch und aus dessen niederen Glasfenstern man über das ganze Tal schauen konnte. Vor einem dieser Fenster saß auf einem Stühlchen ein kleiner, gebückter, grauer Meister über der Näharbeit.

»Ei, der Herr Bruder,« rief er erstaunt, als er den hochgewachsenen jüngeren Mann eintreten sah, zu welchem er in jeder Beziehung emporschaute als zu einem, der es weit gebracht, dem er in keinem seiner seltenen Briefe seine demütige, aber treuherzige Reverenz zu bezeugen unterließ, indem er stets als »dein hochachtungsvoll ergebener Freund und Bruder Leopold« schloß. Das war eine Freude des Wiedersehens, und daß gar der Herr Bruder seinen Herrn Sohn mitgebracht hatte! Und welch ein Glück, daß er gerade heute eine so dringende Arbeit zu Hause besorgte, denn im Sommer pflegte er sonst nicht zu nähen, sondern, da sein eigener Acker bald bestellt war, bei den größern Bauern auf Taglohn im Felde zu schaffen. Und gleich bedeutete er auch seinem Sohn, dem Tischlerbuben, dies und jenes zu holen, denn seine Gäste müßten bei ihm wohnen und ihm die Ehre geben.

Der Vater Dieter wehrte ihm vergeblich, und auf die Frage, ob sie denn hier Platz finden könnten, schaute ihn der ergebene Bruder Leopold vorwurfsvoll an und sagte: »Haben wir denn nicht als Kinder mit den Eltern allesamt hier gewohnt?«

»Freilich wir sechs Brüder, und jeder Bruder hat noch zwei Schwestern gehabt. Wie viel Kinder waren wir also?« wandte er sich zu seinem Sohn, welcher zaudernd die Unzahl erwog. »Acht. Du Rechenmeister.« Der Bruder Leopold lächelte still in sich hinein. Der Tischlerbub mußte den Herrn Onkel und Neffen auf die »Bühne« führen, so hieß der Dachboden, der als Gastraum verwendet wurde. Da duftete das gute Holz des alten Hauses und das trockene Heu, aus dem offenen Fenster sah man auf die Baumwipfel und hörte deren Rauschen, durch welches das gluckende Murmeln des Baches flüsterte, wie eine schalkhafte und schwatzende in eine tiefe und brausende Stimme.

Drunten wurde ein Mahl gerüstet, und man verzehrte eine großartige Eierspeise, in welche Dieter der Aeltere eine mitgebrachte gute Wurst spendierte, dann ging man spazieren und besah den kleinen Umkreis der engeren Heimat und brachte den Nachmittag hin und legte sich zeitig auf der Bühne nieder und vernahm schon im Einschlafen das leise, unablässige Zwiegespräch von Baum und Bach, während der Wohlgeruch von Heu und Holz einen Dufttraum ausbreitete, in welchem man schlummernd wie in einer wehenden Höhe schwebte, und erwachend sich glücklicher wiederfand, als ringsum die Hähne krähten und ein Himmel voll Gold durch das kleine Dachfenster leuchtete.

»Auf!« rief der Vater und sprang empor, der Sohn ihm nach, die Holztreppe hinab, aus dem Haus an die Quelle, wo der Vater das Hemd abwarf und ins Wasser sprang, Dieter tat gehorsam das Gleiche und schauerte lustig im kalten Bache. Damit war man für die strengste Wanderschaft bereit. Der Vater gedachte heute alle Orte und Winkel und Leute aufzusuchen, die er kannte. Zur Feier des Tages sperrte auch der stille kleine Onkel Leopold das Ahnenschloß zu und ging in seinem schönsten schwarzen Rocke, eine Tuchmütze auf dem grauen Haar, einen Stock in der Hand an der Seite des Bruders, ja, er gestattete sogar seinem Sohne, dies einemal blau zu machen und mitzuziehen, aber ohne Feiertagskleider, in Hemdärmeln, grünem Schurz und Pantinen, damit er gleich wieder an seine Arbeit zurückkehren konnte und für die Hobelbank bereit war.

So wanderten sie zu viert weiter. Da sprang der Bach längs der Straße und nahm bei jedem neuen Weg einen neuen Bruder auf, die Hähne riefen einander triumphierend ihren Morgen- und Trotzgesang zu, und im Wald gab es manchmal das hellste Durcheinander von Vogelstimmen.

»Was haben wir denn für Vögel hierzuland?« fragte Dieter der Vater, mehr um sich zu besinnen und seinem Buben das Richtige zu sagen, als weil er es nicht etwa selbst genau genug wußte.

Und der Onkel Leopold zählte auf: »Da haben wir also die Grasmücke und die Lerche, und wir haben den Finken und die Bachstelze, und die Drossel haben wir, die singt aber erst, wenn das Laub ganz dicht ist, damit sie die andern nicht finden, denn sie ist ein Lauervogel, und viele Vögel haben wir.« Aber dann schwiegen die Alten wie die Jungen. Der Onkel Leopold überlegte nämlich in seiner Herzensfreude, womit er den Bruder und Neffen so recht ehren könnte, bis er, wie es sich für einen Handwerker geziemt, endlich auf sein Handwerk kam, denn dieses allein bezeugt mit dem geschicktesten und liebevollsten Tun das beste Herz selber. Und als er solches beschlossen hatte, fragte er den Bruder bescheiden, ob dieser wohl gestatte, daß er seinem lieben Neffen eine Hose nähe, welche aus gutem Tuch gefertigt, ordentlich halten und stattlich aussehen solle. »Freilich, freilich, und schönen Dank sollst du dafür haben,« bekräftigte der Vater Dieter, sein Bub brauche ohnedies mehr Hosen als recht, eine neue sei immer erwünscht, und gar eine Hose von daheim. Da nickte der Onkel Leopold und lächelte zufrieden und schwieg wieder, und schweigend stiegen die vier die Straße hinan.

Was schritt dort höher oben für ein wunderlicher Gesell vor ihnen, man sah ein schiefes Hütel auf blondem, glattem Haare sitzen, der Mann aber ging eigentlich nicht, sondern sprang und hüpfte und schlug sich mit einer Weidengerte auf die Schenkel, als triebe er ein Pferd an! Wahrlich, der trabte auf Schusters Rappen!

»Den sollt' ich kennen,« rief der Vater Dieter. »Das ist wohl der Schuster-Siebert-Vetter, irr' ich nicht.« »Ja, ja, wird's wohl sein,« bestätigte Onkel Leopold. Der edle Renner stand still und wurde begrüßt.

»Alle Schuster haben Quecksilber in den Beinen,« sagte Dieter der Aeltere.

Der Siebert-Schuster lachte. »Das wohl, das wohl, aber keiner hat Geld in der Tasche.«

Den Schustern ist draußen unter den Bauern kein dankbares Handwerk beschieden, sie müssen talauf und -ab auf die »Stör« traben, das heißt, sie kehren in den Höfen ein, wo es gerade ein paar Schuhe zusammenzuklopfen oder zu flicken gibt, essen ein, zwei Tage mit und ziehen weiter, wenn alle Stiefel versorgt sind. So war auch der Siebert-Schuster wieder einmal unterwegs und trieb sich mit seiner Gerte an, damit seine hungrigen Beine weitermachten. Aber nicht bloß das Handwerk, auch die Laune und das ganze Wesen des Gesellen war beweglich und auf ein stetes Abschnurren gerichtet; wenn er irgendwo saß, brauste es ihm in allen Gliedern, so daß er sicherlich irgendein Teufelsfeuerwerk eines tollen Streiches aufsteckte und sehr bald wie eine Rakete, nicht ohne Hinterlassung eines übeln Nachgeruches verduften mußte. Hatte er irgendwo unten im »Bihmschen« etwas gar zu Arges angestellt, so pflegte er auf seinen Rappen durch den großen Wald hinaufzujagen und sich in seinem Häuschen zu verkriechen, denn er besaß in dem stillsten und tiefsten Talwinkel auch ein allerkleinstes, freilich recht unwohnliches und armseliges Anwesen, das doch ein Bett und einen Ofen hatte, wo man den Winter und die Vergebung der Sünden abwarten konnte. Dorthin flüchtete er denn und lugte aus, ob etwa die Gendarmen ihn suchten. Denn seine Taten kamen gelegentlich auch mit der strengeren Auffassung der Gesetze in Widerspruch. Wurde er betreten, so brummte er ein paar Tage im Loch, um dann recht befreit und auch der Reue enthoben, von neuem seiner Schalkheit mit seinem Gewerbe nachzugehen. Der Vater Dieter besann sich gleich auf einen wohlbekannten Spaß dieses Vetters. Der habe sich einmal von einem armen Häusler und Weber, der gar inständig bettelte, als Firmpate für dessen sechsten Buben anwerben lassen. Der Siebert-Schuster war damals in der Tat bei Gelde, führte sein Patenkind ins »Stadtla« zur Firmung, bewirtete es anständig und schenkte ihm schließlich eine goldene Uhr samt Kette. Das Zifferblatt zeigte, wie er dem überglücklichen Knaben unter Vergleich mit der Kirchenuhr dartat, genau die gegenwärtige Stunde. Aber er dürfe das kostbare Werk nicht immer aus der Tasche holen, oder gar aufziehen, denn es sei recht zart angefertigt und leicht beschädigt, vielmehr solle er es abends dem Vater abliefern, damit dieser es aufbewahre und nur an Feiertagen ausfolge, denn eine goldene Taschenremontoiruhr müsse ihren Eigentümer von Rechts wegen um mehrere Geschlechter überleben. Gehorsam hängte der Firmling die Uhr in die Westentasche ein und blickte nur verstohlen aber beseligt auf die baumelnde Kette nieder. Abends lieferte der Siebert-Schuster seinen Schützling den Eltern ab. Der Knabe deutete entzückt auf seine Kette und wollte schon die Uhr vorweisen, doch ließ er gleich davon ab, wie von etwas Brennendem, als sein Pate mit erhobenem Finger warnte. Auch den Gevattersleuten schärfte er, wie dem Knaben, die größte Schonung des feinen Uhrwesens ein. Das fanden die Armen, welche niemals ein so zartes, schlagendes und lebendes, goldenes Ding gekannt, geschweige denn besessen hatten, durchaus in der Ordnung. Und als Menschen, welche wußten, was sich schickt, bezähmten sie ihre Neugierde und versparten sich den Anblick auf später, bis der gütige Spender fortgegangen wäre. Unterdes nötigten sie ihn zu einem bescheidenen Schmause, womit sie sich für die hochherzige Mühewaltung erkenntlich zeigten. Der Siebert-Schuster tat sich gütlich; endlich empfahl er sich bei Anbruch der Dunkelheit, von den Segenswünschen der Leute begleitet und verschwand in der schützenden Nacht.

Kaum war er draußen, als der Knabe die Uhr zog und auf den Tisch legte. Aber sie ging nicht und zeigte noch immer die gleiche Stunde, wie in der Frühe vor der Kirche. Die Eltern fürchteten, sie sei von dem Ungeschickten etwa beschädigt worden, und der Vater zog das Werk auf, hatte jedoch kaum zu drehen begonnen, als der Deckel, von einer Feder emporgeschnellt, absprang. Statt eines Schweizer Räderwerks wies sich ein uhrförmiger, echter, reifer Olmützer Quargel im Gehäus und stank.

Der geprellte, geschenkgierige Vater stürzte vors Haus und schalt mit voller Stimme in die Nacht hinein. Aus der Weite lachte es zurück: »Hast du sie richtig aufgezogen?« Als der Vater Dieter dies erzählte, lächelte der Siebert-Schuster stillzufrieden Bestätigung.

Der Siebert-Schuster wanderte mit.

Drauf kamen sie in ein einsames Häuslein, wo eine Muhme Weberin saß. Sie hatte dem Vater Dieter, als er von der Heimat wegging, ein schönes, kristallenes Trinkglas geschenkt, auf welchem ein bescheidenes Phantasielandschäftchen mit zwei Figuren und einer merkwürdigen Aufschrift eingraviert war. Ein Jägersmann hielt, einen Vogelkäfig in der Hand, vor einem Fräulein. Darunter las man: »Nach mein' Verlangen tu ich Vögel und Mädchen fangen.« Dieser Becher war mit dem Wandernden allenthalben treu und unbeschädigt mitgezogen, bis er zu Wien im Schranke eine hochgeehrte Ruhe fand. Für dieses Erinnerungszeichen, durch dessen klare Wände, hielt man's gegen das Licht, die Sonne doppelt strahlend, wie eben nur in der Heimat schien, hatte der Vater Dieter längst ein passendes Gegengeschenk ausgesonnen, wenn er die Spenderin einmal wieder aufsuchen und lebendig antreffen würde. Nun saß sie, obschon recht gealtert und gebückt, doch noch ganz munter an dem Webstuhle, dessen Lade sie auf und nieder schlug, ihr vorgeschriebenes Stück Oxford anfertigend. Als der unerwartete Besuch, fünf Mann hoch, in die kleine Stube eintrat, erhob sie sich ganz überrascht, sah erstaunt die Gastschar an, stand verdutzt vor dem erwachsenen, bärtigen Neffen und seinem Sohne, bis sie den Inhaber ihres Kristallglases erkannte. Da begann sie zu schluchzen und zu lachen und in der eigentümlich gedehnten Mundart, welche jedes freundliche Wort gleichsam liebkost und mit allem Schmuck der zärtlichsten Gesinnung hinausschickt, zu stammeln: »Schön willkommen, Dieter-Sephes-Sohn, daß ich das noch erleben darf. Hätt' ich ja gar nie geglaubt, daß ich dich noch wiederseh', und das ist am Ende gar dein Sohn, so ein großes, liebes Bürschlein, nun so setzt euch alle.« Dieter und sein Bub nahmen gleich auf der Fensterbank Platz, welche um die ganze Stube lief; der Siebert-Schuster-Franz, als ein unbesorgter Mann von Welt, tat desgleichen, aber der Onkel Leopold und sein Tischlerkind blieben bescheiden bei der Tür stehen, denn es schien ihnen nicht geziemend, so ohne weiteres sich niederzulassen und breit zu machen. Der graue Schneider murmelte: »Ich hindre wohl, ich hindre wohl.«

»Ei, was dir nicht einfällt, du hinderst nicht, setz' dich gleich,« nötigte ihn der Bruder Dieter, und die Alte fragte, was sie denn ihren Gästen vorsetzen dürfe.

»Ich habe dir einen Kaffee mitgebracht, den kennst du vielleicht nicht, gibt ein gutes Getränk, Milch hast du wohl, nun koch uns einen braven, warmen Kaffee.« Damit händigte er ihr einen Papiersack mit feinen Jamaika-Bohnen ein, denn, so unglaublich es schien, in dieser Webergegend kannte man damals das Allerarmenweltsgetränk noch gar nicht, welches nachher binnen Kürze in den schlechtesten und gefälschten wohlfeilen Sorten alle Gebiete des Elends und Hungers als Hauptnahrungsmittel eroberte. Zu dieser Zeit behalf man sich noch mit Einbrennsuppen, Milch und Kartoffeln. Die Muhme ging mit ihrem Papiersäckchen in die Küche nebenan und ließ ihre Gäste in der Stube. Der junge Dieter besah den Webstuhl, dessen weite Holzarme wie die drohende, kümmerliche Arbeit sich ausstreckten, während an der Stubenwand ein altes Uehrlein tickte. Sein Zifferblatt stellte ein finsteres Gesicht dar, dessen Augen mit jedem Schlag des Zeigers sich drohend öffneten und wieder schlossen. Die Erwachsenen schwatzten, schwiegen, begannen wieder zu sprechen; die Augen der Uhr rollten lange Zeit, und es war wohl eine Stunde vergangen, ohne daß die Muhme wiederkam. »Was ist denn mit unserm Kaffee?« sprach Dieter der Vater, und ging in die Küche, um nachzusehen. Er fand die Alte, wie sie vor ihrem Herde in einem Wassertopfe über dem Feuer verzweifelt umrührte.

»Die Beeren wollen und wollen nicht weich werden,« sagte sie.

Da mußte Dieter lachen: »So weißt du nicht, wie man den Kaffee macht? Freilich, ich hätte mir's denken sollen, hast auch keine Kaffeemaschine, aber wir werden gleich Rat schaffen. Tu die Körner aus dem Wasser, röste sie trocken und gib mir einen Mörser.«

Dann zerstieß er die Bohnen und bereitete selbst den Kaffee, der endlich wohlriechend auf dem Tische dampfte. Nachher schieden sie von der Muhme und stiegen wieder aus dem Talspalt zur Höhe hinauf nach einem Ort. wo weiland die Wiege des Dieterschen Geschlechtes gestanden war. Eine Kirche sah weit über zerstreute, kleine Holzhäuser; im Pfarrhof kehrten sie ein, und der würdige alte Geistliche begrüßte Dieter mit freundlichem Anstand. Er führte die Gäste in seine Kirche. Da gab es ein braunes, dunkles Gestühl, einen kleinen Altar und an der Wand ein wunderliches, unbeholfenes, altes Oelgemälde, das den Ort mit seiner Kirche darstellte, zu welcher von den Wiesen und Anhöhen ringsum die Leute ab- und anstiegen. »So hat es hier vor hundert Jahren ausgesehen, so sieht es heute noch aus,« sagte der Pfarrer, und zum jungen Dieter gewendet: »Hier sind deine Voreltern zu Hause gewesen und haben ihren Namen brav getragen und vererbt. Hier in diesem Hause hat der Gott deiner Leute gewohnt, es ist auch der deine; siehst du, auf dieser Bank ist noch der Name deines Großvaters zu lesen, der seinen Stuhl hier hatte.«

In der Tat fand sich auf der Lehne noch ein Täfelchen, worauf »Dieter« gemalt war, so daß dem Enkel der dauernde Name seiner Familie in lebendigen Gestalten, wie in geschriebener Erinnerung, allenthalben entgegentrat.

»Und diesen Altarhimmel hat dein Großvater genäht, ein sehr geschickter Mann, welcher darum der Paramentenschneider-Dieter-Sephe genannt wurde.«

Dann aß man am gastlichen Tische des Pfarrers. Es entspann sich zwischen dem Geistlichen und dem Vater Dieter ein angeregtes Gespräch über alle Angelegenheiten der großen Welt, aus der dieser Gast wie ein seltener Bote gekommen war. Der würdige Herr interessierte sich für alle Dinge, von denen die Zeitungsblätter nur eine dürftige und mittelbare Kunde in seine Einsamkeit getragen hatten, während er nun durch den Bericht eines sachverständigen Zeugen Bestätigung und Erklärung erhielt.

Der Bruder Leopold konnte an solcher gebildeten Wechselrede nicht wohl teilnehmen, sondern lauschte nur bescheiden, um wieder still sich in seine eigenen Gedanken zu vertiefen, der kecke Siebert-Schuster warf gelegentlich ein Scherzwort hinein, der Knabe Dieter und der Tischlerbub schwiegen ihr Teil dazu. Als aber das Gespräch in seinem Hin und Her für ein paar Augenblicke rastete, sah der Onkel Leopold, welcher im Geiste wohl die ganze Zeit an sein bevorstehendes großes Werk gedacht hatte, zu seinem Bruder schüchtern auf, rückte näher an ihn heran und fragte zaghaft: »Und einen recht großen Arsch werd' ich ihm in die Hose hineinmachen?«

»Freilich, freilich, das tu nur,« bekräftigte der Vater Dieter.

Und dann zog man weiter in die Hammermühle, wo man beim Müller und Gastwirt zu nächtigen gedachte, hinab in einen schattenden Bachwinkel. Die Mühle stand unter Bäumen, ihr Wasser scholl den Besuchern rauschend von weitem schon entgegen. In der Stube versammelten sich außer unsern fünfen der Wirt, der Sägemüller, der Messerschmied, lauter Jugendfreunde des Vaters Dieter; eine kleine Petroleumhängelampe erleuchtete den Raum, auch sie galt schon als sehenswerter Luxus, denn sonst brannte man noch allenthalben Kienspäne. Die waren in den Stuben beim Herde vorgerichtet, wurden angezündet, in Eisenringe gesteckt, und wenn sie rasch verglommen waren, gewechselt. Kannte man doch damals draußen nicht einmal die schwedischen Hölzer, sondern bereitete die Zünder selbst, kleine Späne in dickflüssigen Schwefel getaucht. An der Türe hing ein Feuerstein über einer Schüssel mit Holzmehl. Morgens stand die Hausmutter auf, schlug mit dem Feuerstein Funken aufs Holzmehl, steckte in die glimmende Masse das Schwefelholz, welches aufloderte und entzündete mit ihm die Wachskerzen und Oellampen. Das Anschlagen des Feuersteines aber erweckte das ganze Haus, gab das Zeichen zum Beginn des Arbeitstages. So bedeutete eine Petroleumlampe in der Hammerschenke immerhin einen modernen Fortschritt.

Dem Vater Dieter fehlte aber noch ein Jugendfreund unter den Anwesenden. »Wo ist denn der Fingerschlosser?«

Der Hammerschenke sandte nach dem Vermißten, der unweit der Mühle seine Werkstatt und einen kleinen Handel mit Bedarfsartikeln betrieb. Nach kurzer Frist trat der Fingerschlosser ein. Welch ein Riese! Gut um einen Kopf größer als Dieters stattlicher Vater, so hoch, daß er sich bücken mußte, um nicht an die niedere Decke der Wirtsstube zu stoßen! Der schwarzgelockte Riesenschädel saß auf breiten Schultern, und das Antlitz hatte den hellsten Ausdruck der Aufgewecktheit. Ein schwarzer Knebelbart wuchs an dem Kinn. Eine geschwungene Nase mit beweglichen Nüstern gab dem vollen Gesicht einen kühnen, leidenschaftlichen Zug. Und ebenso feurig wie die Blicke der dunkeln Augen war das Benehmen des großen Mannes, der so recht zum Rädelsführer geboren schien. Er schüttelte dem Vater Dieter die Hand und auch dem Sohne so fest, daß diesem die Gelenke krachten, aber so freundlich, daß der kleine fortan keinen Blick von dem großartigen Schlosser abwenden konnte.

Der nahm nun breitspurig neben dem Vater Dieter Platz, es begann ein bedeutendes Zechen und Bescheidtun und wieder ein Gespräch von der weiten Welt ringsum, in welcher der Fingerschlosser trotz seiner Einsamkeit sich gar wohl auskannte, und von der er so viel zu erzählen wußte, als sei er eben noch in Paris gewesen oder in der Stadt Neuyork.

Bei dem ganzen Lärm und inständigen Wechselgespräch war der junge Dieter an der Seite des Vaters doch müde geworden und hatte sacht entschlummernd seinen Kopf an dessen Schulter gelehnt, als er plötzlich durch einen heftigen Schlag auf den Tisch geweckt wurde.

Den tat der Fingerschlosser mit voller Faust und rief: »Wo in der Welt gibt es noch ein Wirtshaus oder eine Restauration, ein Hotel oder Café mit einer so dreckigen Beleuchtung,« wies dabei auf die blakende Petroleumlampe und spie aus.

Die armselige Lampe erlosch wie vor Schrecken, und im Dunkel hatte der Vater Dieter seine Mühe, den aufgeregten Schlosser zu beschwichtigen, während der gekränkte Hammerschenke flüsterte: »Ich sag's immer, mit dem Menschen nimmt's kein gutes Ende.« »Hier nicht, hier nicht!« donnerte der Schlosser. »Mich soll der Teufel holen, wenn ich noch einmal bei dieser Stallbeleuchtung sitze, das magst du nur glauben.«

Dann wurde die Tafel aufgehoben, der Vater Dieter und der Fingerschlosser teilten die Zeche untereinander auf, der Fingerschlosser genehmigte fluchend noch einen Extraschnaps, und man ging auf die Bühne der Hammerschenke schlafen.

Im Heu dachte der junge Dieter noch lange an den zornigen Riesen, der so weit herumgekommen war, als ein Schlosser, welcher aller Welt Riegel auftut und durch aller Welt Türen eindringt, als ein Gewaltiger, der aber doch gute Sitten kennt, denn er war der einzige, welcher hier in der Heimat zum Vater »Sie« sagte und über Politik und Maschinen sprach, als hielte er seine Hand am Rade des Steuers aller Reiche.

Am nächsten Morgen trat Dieter, während der Vater noch weiterschlief, vor die Hammerschenke. Da kam ihm schon der Fingerschlosser entgegen und rief ihn mit seiner lauten Stimme an: »Grad' hab' ich dich holen wollen, jetzt gehst du mit mir.« Dieter folgte ihm. Sie schritten auf der schmalen Straße längs des Baches. Plötzlich blieb der Riese stehen und lachte den Buben königlich an: »Willst du Fische?«

Dieter wußte nicht, was er antworten sollte. Der Schlosser beugte sich über das Wasser, zog mit einem Griff eine glänzende Forelle heraus und sprach: »Das ist ein Fisch,« drehte seiner Beute, welche sich in der Faust umherwand, mit einem Griff die Kiemen um und tot war der Fisch. So fing er eine zweite und dritte und vierte und tat das Gleiche und sagte jedesmal: »Das ist ein Fisch.« Dann ging er weiter, und nun standen sie auch schon vor seinem Hause.

»Jetzt wollen wir sie braten.«

In seiner Werkstatt entfachte er das Feuer an der Esse, er holte eine Pfanne, tat ein großes Stück Butter hinein und hielt das Geschirr über die offene Flamme; die Forellen begannen zu schmoren. Mit geschicktem Schwunge schmiß er sie hoch empor, bis sie fast an die Decke flogen und auf die ungebratene Seite in die Pfanne zurückfielen, mit welcher er sie unfehlbar auffing. Derart wendete er sie mehrmals um, bis sie gar wurden und sah dabei seinen Gast mit einem eigentümlich drohenden Lächeln unverwandt an, so daß Dieter den Spaß fast ernst nehmen mußte, als könnte auch an ihn die Reihe kommen, wenn es den Riesen nach Menschenfleisch gelüstete.

Dann möchte er etwa sagen: »Das ist ein Mensch.«

Nun stellte der Fingerschlosser die Pfanne auf den Tisch und griff nach einem Kalender, der dort lag. Geschickt riß er die zwischen den gedruckten Monaten eingefügten leeren, weißen Vormerkblätter heraus.

»Das ist der April,« rief er, »für die erste, das ist der Mai für die zweite, das ist der Juni für die dritte, der Juli für die vierte und heute haben wir den August für das Ganze. So, da nimm,« und reichte zwei knusprige Fische, in das Papier geschlagen, seinem Gast, während er die zwei anderen selbst verspeiste. Dann entließ er den Knaben mit besten Empfehlungen an den Vater.

Die beiden Dieter verbrachten noch einen Tag und eine Nacht in der Hammerschenke. Am anderen Morgen kam eine heulende Frau herbeigestürzt, die Fingerschlosserin, und erzählte, ihr Mann sei auf und davon gegangen und wies einen Zettel, es war das Vormerkblatt des Monats September aus dem wohlbekannten Kalender. Da war aufgeschrieben, der Fingerschlosser lasse alle schön grüßen, er mache nach Amerika.

Das Schmoren der Forellen über der Esse war sonach seine letzte Amtshandlung in der Heimat und in seiner Werkstatt gewesen. Der Mann soll zu Chikago ein reicher Maschinenfabrikant geworden sein, aber er ließ nichts weiter von sich verlauten. Nur einmal sandte er seiner Frau ohne jede Zeile sechshundert Gulden, damit sie sich nicht zu beklagen brauchte.


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