Otto Stoessl
Morgenrot
Otto Stoessl

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IX.

Nun lebten Dieter und der Toni als ein Freundespaar, wie es die Heldenlieder als das schönste Bild der Jugend selbst überliefern. Sie verrichteten Taten des Friedens. Dieter brachte einen Vorrat sorgsam zugeschnittener Zettel, welche daheim für den Bibliothekskatalog der ethnographischen Gesellschaft bestimmt waren, in die Schule, versah sie mit verschnörkelten Wertaufschriften und verschaffte ihnen unter dem Namen »Papyros steifikos« Münzgeltung dadurch, daß er zuerst nur wenige verteilte, welche wegen der Neuheit und Seltenheit beliebt waren. Er löste sie mit Verlust als Geldwert ein, indem er dafür Marken, Muscheln, Federn in abgestufter Zahl auswechselte. Nachher aber handelten er und Toni ihren eigenen Bedarf an wichtigsten Tauschartikeln ein und gaben dafür »Papyros steifikos« wie Banknoten her. Die Empfänger machten freilich bald böse Mienen zum guten Spiele, aber sie wurden handgreiflich genötigt, diese Scheine anzuerkennen, was man eben Zwangskurs nennt und auch in den lebensgroßen Staaten und Geschäften nicht anders betreibt. Allerdings wurden die Zettel mit dem wachsenden Umlauf bald ganz entwertet, und man mußte andere Zahlungsmittel schon deshalb suchen, weil auch die übrigen Herrschaften zwar mehr oder minder begehrte Gegenstände in natura, aber wenig wirkliches Geld besaßen. So überzog man alte Hosenknöpfe mit Gips und preßte von einer römischen Münze, welche ein Schüler irgendwo ergattert hatte, den Kaiserkopf darauf. Diese »lateinischen Kreuzer« verdrängten denn auch die Zettel. Man richtete den Postverkehr und das Abschreibe- und Einsageverfahren auf verläßliche Weise ein und bildete, aller sonstigen Scharmützel und Parteiungen ungeachtet, eine geschlossene Schar gegenüber den Erbfeinden, den Professoren. Die Werke des Krieges aber bestanden in ernstlichen Schlachten, welche in den Seitengassen der Landstraße, nahe beim Schüttel, bei den Ufern des Donaukanals mit den Gewerbeschülern ausgetragen wurden, mit Lehrlingen und angehenden »Sozis«. Denn diese Feinde hatten es auf die Gymnasiasten abgesehen. Man begann mit Schneeballwerfen im Winter, mit dem Schleudern von Kieselsteinen im Frühjahr. Zu den Gymnasiasten rückten die Realschüler, zu den Gewerblern die Volks- und Bürgerschüler als Bundesgenossen. Aber an manchen Tagen tauchten bei den »Sozi« verkommene und zerlumpte drohende Gestalten von »Pülchern« und »Strizzis« auf, die überall hinzutreten, wo es Unordnung, Streit und »Hetz« gibt. Die pfiffen zwischen den Fingern gellende Signale, auf welche hin aus allen Ecken neue Feinde hervorwuchsen. Man hatte Bauplätze wegen ihrer Schlupfwinkel und Deckungen aufgesucht. Plötzlich flogen Ziegel, und die bedrohten Gymnasiasten bekamen Staubwolken ins Gesicht und Geschosse am Leibe zu spüren. Dieter verwendete den Toni wegen seiner Ungeschicklichkeit und Zartheit bloß als Boten und Kundschafter. Einmal traf aber den Dieter ein Stein an der Brust und machte ihm Schmerz. Sie wären allesamt gründlich, ja gefährlich verhauen worden, wenn nicht berittene Sicherheitswache mit Helmen und Säbeln, von vier Seiten heranrückend, den Platz gesäubert und Entsatz gebracht hätte. Im Prater, dem Sammelort aller Buben von der Landstraße und Leopoldstadt, waren die Wiesenstücke und Waldbestände in Reviere, als in Königreiche geteilt, und Dieter erlangte die Herrschaft über ein ansehnliches Gebiet, nicht durch lauten und vordringliche Ehrgeiz, sondern durch ein unmerkliches Aufrücken des wahrhaft Berufenen zur Macht. Wenn nämlich die Schar der Kameraden durcheinander schrie, der eine dies, der andere jenes beantragte und mit Lärm behauptete, pflegte Dieter ruhig inmitten der übrigen zu stehen und kein Wort dreinzureden. Bald aber machte das Gedränge der Meinungen einer verwirrten Ratlosigkeit Platz, indem kein Vorschlag ausreichende Unterhaltung und Erfolg versprach. Nun begann Dieter: »So, jetzt laßt mich auch etwas sagen.« Und traf mit wenig Worten das richtige.

Dann vertraute man ihm das Königreich der Huronen am rechten Ufer des Heustadelwassers an und die wechselnde Kriegs- und Friedenspolitik gegenüber dem auf der andern Seite gelegenen, angesehenen Irokesenstaate. Diese Machtgebilde waren von der herrschenden Klasse der Gymnasiasten geschaffen, die auch alle Führerstellen innehatten. Da man aber zur Herrschaft und besonders in den Kämpfen das sogenannte Volk und Heer nicht entbehren konnte, mußte man Volks- und Bürgerschüler in großer Zahl aufnehmen, ja die Menge dieser Untertanen entschied eigentlich über den Besitz der Gebiete. Denn die Gymnasiasten genügten nicht, früh am Nachmittag die betreffenden Wald- und Wiesenplätze zu besetzen. Waren keine gemeinen Soldaten da, so kamen andere Horden aus anderen Gegenden und nahmen einfach das Königreich weg. Nur wenn man also das niedrige Volk beisammenhielt, vermehrte, durch Versprechungen köderte, durch gute Behandlung bei Laune erhielt, konnte man sich behaupten. Dieter verfehlte nun nicht, als Herrscher und oberster Richter in allen Streitigkeiten, welche sich etwa zwischen den Adeligen, den Gymnasiasten, und der Plebs, den Volks- und Bürgerschülern, jeden Tag ergaben, mit weisem Cäsarismus stets dem gemeinen Manne Recht zu geben, seine Forderungen nach Billigkeit zu erfüllen, gewissen Eitelkeiten Rechnung zu tragen, allzu große Härten der Hohen gegen die Niedrigen zu mildern, um diese an ihre Dienstbarkeit zu fesseln. Insgeheim wußte er dann schon die Aristokratie, seine Kollegen, durch wirkliche Güter, Ehrenstellen, kühne Unternehmungen zu entschädigen, wobei Toni als eine Art von Staatsminister, Gesandter, Kundschafter, Friedensvermittler eine unentbehrliche Rolle spielte. Aber es gab auch andere Zeiten, wo die beiden Genossen sich von aller Gemeinschaft entfernten und eine stille Gegend des Praters aufsuchten, wo es einen niedrigen Ahornbaum gab, dessen Aeste wie eine natürliche Treppe den bequemsten Aufstieg zum Wipfel gewährten. Oben, mitten im Grün der Blätter saß man auf zwei benachbarten Zweigen in einer sonnendurchschimmerten verborgenen Laubhöhle. An den kleinen Aesten ringsum hatte Dieter eine sogenannte stumme Aeolsharfe angebracht, indem er ausgebrannte Zigarettenhülsen, also die bloßen Mundstücke, an Zwirnfäden eng nebeneinander aufhing, so daß sie wie weiße kleine Orgelpfeifen schwebten. Jedes Lüftchen brachte sie in die zierlichsten Schwingungen, und man konnte ihrer regelmäßigen, gehaltenen oder lebhaften und ausschwingenden Bewegung zuschauend, gar wohl ein hohes oder tiefes Tönen einer unhörbaren, darum desto wohlklingenderen Musik sich einbilden und eine Zigarette langsam rauchend, mit lauschender Ruhe genießen.

Indes der Toni daheim durch das argwöhnische und mißmutige Wesen seiner »Alten«, durch die Störungen seiner fleißigen Schülerarbeit und den Lärm seiner Geschwister immerhin an manchem eigenen inneren Leben behindert wurde, richtete sich Dieter in den Stunden, da er vom Freunde getrennt war, seine besondere geheime Welt ein, und mehrte sie jeden Tag mit neuen Dingen. Die Freundschaft lieferte ihm zwar wertvolle Anregungen, aber die Kraft seiner Einbildung, alle kleinen Wirklichkeiten zu großen Wundern zu erheben, deutete das Gegebene ständig um, sein Auge erblickte es im hohen Glanze von Abenteuern und Gesichten, führte alles in tausend Verwicklungen und löste sie gleich auch wieder zu schließlicher Ordnung, in deren Mitte er als bewegender und gestaltender, leben- und todgebietender Machthaber saß, welcher alles nach seinem Gefallen lenkte.

Dem Toni gegenüber fand er sich in einem merkwürdigen, bald übergeordneten, bald unterworfenen Verhältnis, denn dieser, vom Unglück der umgebenden Gemeinheit geschärfte, in seinem schwächlichen Zustande früh reife und sozusagen aufgeweckte Bursch stellte mit der Entschiedenheit seines Urteils, mit der grausamen Heiterkeit und Entschlossenheit seiner am Wirklichen geübten Vernunft die stete Forderung der Wahrheit an Dieters Phantasieüberredungen. Wenn dieser schwungvoll ins Grenzenlose fabelte, warf Toni ein gutmütig gemeintes, aber kühles Witzwort hin, das auf die Hitze wie ein kalter Wasserstrahl fuhr und zischte. Da mußte Dieter klein beigeben und lachte mit, manchmal aber zog sich sein ganzes Wesen in einer unmerklichen Bewegung schmerzlich berührt zusammen und verschloß sich, er verstummte, aber ohne Groll und sie gingen schweigend nebeneinander her. Ueberhaupt bestand bald ihre beste Unterhaltung in einem wortlosen Wandern. Sie stimmten in Wahrnehmungen, Urteilen, Ausdrücken so sehr überein, daß sie nicht einmal mehr der Rede bedurften. Trat ihnen irgend etwas Neues entgegen, so schauten sie einander an, lächelten und wußten, was sie beide dachten. Sie konnten stundenlang spazierengehen, ohne aufzublicken, wobei ihre Füße von selbst den vertrauten Weg fanden, ihre Gedanken aber innerlich zusammenklangen, wie ein paarweis tönendes, schön ineinander läutendes Glockenspiel. Sie wußten mit aller Bestimmtheit, wenn ihre Gehirne in einem Augenblick hinter durchsichtigem Glas die Folgen ihrer Einfälle hätten zeigen können, so hätten diese zueinander gepaßt und wären ineinander verflochten gewesen, wie Schraubengewinde und -gang. Darum dünkte es sie jedesmal, wenn sie nach vielen Stunden vor Tonis oder Dieters Wohnung Abschied nahmen, einander wechselweis auf die Schulter schlugen, ins Auge sahen, an die Mütze griffen, sie hätten sich wunderbar wie noch nie verstanden.

Toni las viel. Dieter hatte sich hingegen bisher um Bücher nicht sonderlich gekümmert. Er hatte immer viel zu viel zu tun gehabt, um Zeit zum Lesen zu finden, seine Erfindungen und Träume schienen ihm ungleich wertvoller, als was er aus Geschichten etwa gewinnen konnte. Dagegen herrschte in der Familie Scharrer mit der Langeweile, dem Lärm, Schmutz und Hunger auch die Gier nach Lektüre. Dietern hätte der Tag selbst mit achtundvierzig Stunden nicht ausgereicht, aber bei den Scharrers war die Zeit mit ihrer Not, ihrem Mangel, ihren ständigen Mahnungen an allen Verdruß ein böser Feind, den man vertreiben mußte. Und so las man recht eigentlich als »Zeitvertreib«, was die wahre Wurzel allen Bücherunheils, aller faulen Romane und erlogenen Geschichten bedeutet. Man las nicht, um irgend etwas Schönes zu erfahren, oder an dem feinen Spiel geistiger Gebilde mitdenkend sich zu erfreuen, indem man alle vielverschlungenen Gänge der Erfindung verfolgte, sie aus eigenen Kräften mit Farbe und Umriß ergänzte und sich selbst nach dem Sinn und Ton des Gegebenen stimmen ließ, sondern man las um des groben Stoffes willen, dessen Brocken man als Nahrung hungrig aufnahm, ohne ihn zu verdauen, den man darum gleich wieder vergaß, um nach neuem zu verlangen. Jenes stille, freudige Nachsinnen über das Gelesene, welches zarte Gedankenfäden zu einem schimmernden, durchscheinenden Schleier, wie zu einem Nebelglanze webt und über die Wirklichkeit ausbreitet, war ihnen so fremd, wie einem hungrigen Bettelmann das Gastmahl der Götter. Sie verschlangen Lesefutter. Und erst als Toni lange mit Dieter verkehrt hatte, begann er wie dieser zu lesen, als erfinderischer, mitträumender Genosse des umherschweifenden Dichters.

Daheim bei ihm besaß man kein einziges Buch, dazu langte das Geld nicht, sondern man entlehnte da und dort irgend einen Band, schleppte ihn nach Hause und stürzte sich darüber, nicht ohne daß den Tag über Kämpfe geführt wurden, in welchen einer dem andern den Bissen abjagte. Kaum saß der Toni dabei, so kam der Vater heim und verlangte das Buch, der Sohn bettelte, es bis zum Schluß des spannenden Kapitels zu behalten. Der Vater murrte. Toni las weiter und konnte sich nun erst recht nicht davon trennen, bis ihm der Band mit groben Scheltworten weggerissen wurde. Zwischen ihren häuslichen Geschäften flüchtete sich auch die Stiefmutter gelegentlich zur Lektüre und erzwang sie wieder vom Gatten, dann verlangte die Schwester den Roman, und selbst die Kleinen balgten sich um die Bilder, da sie den Text noch nicht verstanden. Da gab es alte Jahrgänge von Familienblättern, die ungefähr für ähnlichen häuslichen Frieden berechnet, schon auf dem Titelkupfer die sinnige Teilnahme einer zahlreichen Häuslichkeit mit verlogener Sentimentalität abschildern, indem der Vater mit seiner Pfeife, das ehrbare Mütterlein mit ihrer Handarbeit, die Söhne unter der Studierlampe, die Töchter mit ihren Verlobten versammelt sind und jeder einzelne von den fürsorglichen Blättern Unterhaltung, Rührung, Belehrung, Rätsel, Gesellschaftsspiele, Kochrezepte, häusliche Ratschläge, zweckdienliche Anweisungen bezieht. In Wahrheit mochte aber das sinnige Heim wohl meist so aussehen, wie bei den Scharrers, und um das Futter wird gebalgt.

Es gab Dorfgeschichten aus allen Gegenden des lieben Viehs, und wo der Pflug geht, oder die Berge eine bessere Welt einschließen. Gerade die Städter in ihrer schlechten Luft und unnatürlichen Lebensführung voll Sorge, Lüge und Verdruß erbauen sich an solchen Gemälden einer Einfalt und beschönigenden ländlichen Treuherzigkeit, wo alle urwüchsige Roheit des Bauernvolkes, seine unbekümmerte Dreschflegelhaftigkeit, sein dreistes Ja und Nein auf alle Fragen als ersehnte Einfalt, Jodler, Schnadahüpfl und nackte Kniee als edelster Zustand des Menschentums ernsthaft aufgeredet werden. Der ländliche Misthaufen scheint besser zu stinken, als alle Kanäle der Stadt und die ungewaschene Treuherzigkeit leuchtet allen Lesern ins Gemüt, welche in Wien schmutzig bleiben. Die heimliche, unausrottbare Sehnsucht der Menschen nach der Einfalt natürlicher Zustände, nach der Sicherheit der festen Erde, nach Pflug und Heumahd, welche noch ihren Vorfahren irgend einmal auferlegt gewesen, befriedigt sich in diesen wahren oder verlogenen Geschichten und fühlt mit geheimem und lustvollem Schmerz an jene Zugehörigkeit gerührt, die jeden an diese Vergangenheit der Geschlechter bindet. Irgendwann ist jedem ein Großvater draußen wo ein Bauersmann, eine Großmutter Bäuerin gewesen, irgendeine verwandte Sippe lebt jedem irgendwo auf einem Stück Ackerboden. Und jeder hat in den Städten ein Erbteil reiner Luft, gesunder Arbeit, frommer Erbauung an den schönen Gotteswerken der Wiesen, Wälder, Berge und des lieben Viehs verscherzt. Jeder ergötzt sich nun an den Schilderungen solcher Dinge wie an Luftspiegelungen und erwacht von den betäubenden Gedanken dieser Lektüre, durch ein hartes Muß gestoßen, zur alten, doppelt öden Pein seiner friedlosen Existenz. In anderen rührenden Romanen wetteifert die Tugend der schönsten Gestalten, das Böse tritt schwarz und ruchlos der Unschuld entgegen und dient nur dazu, sie desto reiner erstrahlen zu lassen. Die Liebe waltet als eine Macht körperlicher und geistiger Anmut und bewegt das begrenzte Teichlein eines Menschenlebens mit einem Gekräusel von beschränkten Leidenschaften und Gefühlen, welches von weitem etwa einen Sturm vortäuschen soll, der sich schließlich wohlgefällig glättet. Alle Begebenheiten der Historie, alle vom Kostümschneider der Geschichte zugerichteten Prachtgewänder der fernen Zeiten geben eine Theaterdekoration her, Haupt- und Staatsaktionen werden aufgeboten, damit ein Liebespaar zusammenkommt, »sich findet«, wie das zarte Wort lautet, als sei der Zweck der völkermordenden Kriege immer der gewesen, daß schließlich vor einem Brautbett der Vorhang zugezogen wird.

Auch diese Stoffe und Rührungen entspringen den still gehegten Instinkten der Leser, die, obgleich schlecht und schwach, töricht oder roh, eine geheime Sehnsucht nach eigener Erhebung, nach zartsinnigem Edelmut, nach opferwilligem Heldentum, nach großen Handlungen empfinden, aber ohnmächtig, sie aus eigenem zu verwirklichen, derlei Vorräte in den Romanen suchen und sich damit endgültig zufrieden geben, daß, was ihnen versagt ist, dort reichlich feststeht. Sie finden in solchen Geschichten eine Art Erlösung und göttliche Stellvertretung, auch dürfen sie in ihrer Armeleutephantasie sich wenigstens bei der Lektüre in einer Gesellschaft bewegen, die ihrem bitteren Neide sonst verschlossen ist. Hier haben sie Erlaubnis, in den Wohnzimmern der Könige sich zu bewegen, in den Salons des Adels mitzuschwatzen, an Jagden teilzunehmen und überall ihr Urteil dreinzugeben, wo keiner ihnen wie sonst im Leben, aufs vorlaute Maul schlägt.

Erst durch den Toni erfuhr Dieter von der Existenz solcher Bücher. Vordem hatte er bloß den Lederstrumpf und andere Indianergeschichten, oder die ernsthaften geographischen Werke gewürdigt, welche in der Bibliothek der Gesellschaft aufgestapelt lagen, er hatte seinen Robinson Crusoe gelesen und mit der Belehrung eines Knaben, der diesen Zustand schöpferischer Einsamkeit allemal selbst nachlebt, die Schicksale dieses verschlagenen Abenteurers genossen. Denn so mußte auch er inmitten einer gefährlichen, fremden Welt alle Bedingungen gedeihlichen, erkennenden, wachsenden und freien Daseins sich selbst schaffen und ausnützen. Er hatte ferner etwa als verbotene Lektüre gewisse zweideutige Kapitel der Bibel gesucht, aber nicht verstanden und wegen der schwierigen Sprache und des heiligen Geruches, der selbst an den Menschlichkeiten der Urväter haftete, wieder weggelegt und abgelehnt.

Nun lernte er, daß es eine unübersehbare Zahl von Büchern gäbe, daß man in ein Meer von Erfindung untersinken und darin allerhand fischen könne und daß es nur vom Taucher abhänge, welche Beute er gewinne. Da er jede neue Erkenntnis nach Vermögen ausschöpfen wollte und in diesem Drange des Lebens fleißigster Schüler blieb, stürzte er sich gehorsam in die Lektüre. Auch in die Bibliothek der ethnographischen Gesellschaft waren ähnliche Familienzeitschriften als verirrte Fremdlinge geraten, so daß er mit solchem Lesefutter versorgt war. Er wählte daraus, was nach dem Titel irgendeine besondere Erbauung versprach, unter dem Namen »Humoresken« vorerst gewisse komische Intrigen, welche sich unter fortwährenden heiteren Zufällen ineinander verwickelten, um sich mehr oder minder sinnreich aufzulösen. Dann aber gewisse alte Wiener Romane, zum Beispiel: »Kaiser Josef und die Mucker«. Das waren historische Erzählungen, in welchen der sogenannte Wiener Freisinn einer alten, geduckten und knechtseligen Zeit alle seine gehorsamst versteckten Forderungen dort präsentierte, wo es nicht darauf ankam, sie wahr zu machen und vor Leuten, die nur die Macht hatten, an fremden Gesinnungen die eigenen zu wärmen. In lauter dreist erfundenen Begebenheiten zeigten sie Mut und Tugenden eines längst in den Nebel der Geschichte hinabgetauchten Mannes einem Publikum, das es von jeher gerne sah, wenn ein anderer sich mit Gesittung und Strenge abquälte. Da erschien der Kaiser Josef, als Sagenheld einer verschleierten Vergangenheit und als Träger aller Wünsche und Träume des Volkes, ihm wurde alles Gute, Edle, Schöne beigelegt, ohne daß man die Mühe hatte, seine erfundenen Wohltaten ernstlich zu verdienen, es genügte die bequeme poetische Zumutung: er hätte alles schon recht gemacht, wenn er nur gekonnt hätte, wie er wollte, wenn nicht die vermaledeiten »Mucker« gewesen wären, die er bekämpfte, verscheuchte, bezwang, und die immer wieder hervorkrochen. Für jeden niedergetretenen wuchsen zehn neue auf. »Mucker« brachten ihn ins frühe Grab. Die freimütigen Erfinder dieses Sagen-Kaisers wollten es freilich nicht Wort haben, daß es immer das ganze Volk ist und die ewige Gemeinheit der schnöden Welt, welche zu allen Zeiten ihre Helden hinwürgt, und daß wohl auch die braven Wiener zur Gänze, nicht einzelne Spukgestalten, sondern die gutmütigen, raunzenden, sentimental verlogenen, gefühlsselig rohen, den Herrgott einen braven Mann sein lassenden, mit Worten begnügten, im Tun gleichgültigen Backhändelfriedhofsdiener, die im Lügenfett wollüstig schmorenden, allem Geistigen von Natur aus zuwideren Walzer- und Heurigenkarpfen, diese selbstgefällig ihre Oedigkeit angrinsenden, gemeinplatztriefenden Philisterfischmäuler von einst und jetzt die wahren Mucker bleiben, denen niemals ein Licht geboren wird, ohne daß sie es in ihre Finsternis und gemütlose Gemütlichkeit verschlucken und sich noch beklagen, daß sie es nicht angenehm verdauen können. Von den ganzen aufgeregten Begebenheiten dieser schönen Gesinnungen hinterher, dieser freien Auffassung, die dem Ideal nachschaut und sich freut, daß es auf sie nicht angewiesen ist, behielt Dieter nur gewisse Worte, Namen und Farben, welche er dazu benützte, sein eigenes Leben auszumalen. Etwa daß der Kaiser Josef die eigentümlichen, von der verborgenen Sonne durchschimmerten Herbstnebeltage über alles geliebt habe. Seither verstand Dieter das besondere Antlitz der Gebäude, Kirchen, Schlösser und engen Gassen in dieser Jahreszeit. Sie schwammen allesamt im Dufte eines ringsum flutenden grauen Silberlichtes, wenn der September kam und von dem aufglühenden Laub der Wälder um Wien der feuchte, herbstgeruchschwangere Wind aus dem Westen herwehte mit Wolken, die sich nicht ballten, sondern über den ganzen Himmel durchscheinend ausdehnten. Und dieser Nebel legte sich als Schleier und Licht zugleich auf alle Dinge, beglänzte sie und nahm ihnen alle Härten, hellte die Schatten sacht auf und ließ die Umrisse verschwimmen, die starken Gebilde von Stein und Erz wurden geschmeidig wie Fleisch und Bein. Jede Ecke, jedes Gesims und jede Heiligengestalt in den Nischen bekam etwas Schwebendes, hing wie vom festen Grund gelöst zwischen Erde und Himmel, Marmor wurde zu Sammet und Seide, Wolken sammelten sich zu Stein, Säulen verloren den Boden, tropften von der Höhe nieder und gingen im Himmel auf, gedrängte Fassaden reckten ihre Glieder wie Wesen, die im Traum ausfahren. Dazwischen lachten unten auf dem Universitätsplatz leise die Brunnen und flogen die Tauben und schlug die alte Uhr der Jesuitenkirche den goldenen Schlag der Stunden in die verhüllte Ewigkeit. Jetzt konnte der Mann mit den Kniehosen und der Adlernase, mit dem streng geschlossenen Mund, der zürnend schwieg und mit den offenen grauen Augen, die lächelnd sprachen, mit Schnallenschuhen, einen Spazierstock mit Elfenbeinknauf in der Rechten halb drohend, halb gefallsam schwingend, auf einem seiner Spaziergänge den Dieter, wie aus dem Boden gewachsen, antreten: »Hast du keinen Mucker gesehen. Ich möchte mir wieder einen ausleihen?« Und da konnte ihm gleich auch etwa ein Naderer, ein Krötenmauliger in den Weg kommen, ein schwarzschleichender Jesuit und eine von Klostergeistlichen verfolgte, geflüchtete Unschuld und so weiter. Das waren die silbergrauen Wiener Nebeltage des Kaisers Josef. Bei diesen ersten Schwimmversuchen im seichtesten Wasser der Literatur wurde dem Dieter doch auch ihr ungeheures Meer allmählich bewußt und gehörte nun mit zu den irdischen Elementen, die ihn verlangten. Denn wie er als Kind geglaubt hatte, alle Menschen in den Photographien des Doktor Zarfschen Vorhauses beisammenzufinden und gemach ergründen zu können, war er noch heute der Meinung, alle Erlebnisse und Anblicke, Gebiete und Inhalte der bewohnten Erde warteten auf ihn, daß er sie durch und durch erlebe und nach seinem Belieben auskoste. Wenn er nur die rechte Zeit dazu hätte, welche er vorderhand mit den unnützen Schulgängen und Gegenständen verzetteln mußte, als ob er ein Riesenvermögen mit kleinen Kreuzern einzuwechseln genötigt würde.

Fortan aber begann er die bisher verachteten Bücherläden zu mustern. Denn auch dort lag ein Teil der Welt zur Schau. Es gab noch andere Werke, als die friedlich in den Glasschränken der ethnographischen Gesellschaft nebeneinander hingestreckten Folianten der Erd- und Völkerkunde, zahllose Geschichten, welche in Erfindungen und Gestalten die Kunde vom gegenwärtigen Menschen, das Gefühl des wirkenden Daseins lehrten, in einer Sprache, welche das Tatsächliche ins Sinnreiche brachte, aus dem Wirklichen Wunder herausstellte, die Ueberfülle bewegter Herzen und waltender Erscheinungen in Formen zwang, wobei die Worte oftmals Flügel zu bekommen und wie Lerchen emporzurauschen schienen, so daß sie den Blicken gar entschwanden und man nur mehr die Silberstimmen in der fernsten Höhe leise mit den glänzenden Wolken des Himmels und mit dem funkelnden Tag selig schwatzen zu hören vermeinte. Aber wie jedem Sehnenden, und sei es der Aermste, eine Hand sich bietet, wenn er die seinige nur recht begehrend ausstreckt, so fand auch Dieter eine Hilfe, in dieses Paradies der Lektüre zu kommen, das ihn anfangs von den kostspieligen Goldschnittbänden und Prachtwerken ganz und für alle Zeiten verrammelt dünkte. Es gab einen unscheinbaren, aber geraden Schelmenweg zu dieser Herrlichkeit, und er segnete ihn noch viele Male, seit er ihn entdeckt hatte: der hieß Reklams Universalbibliothek.

Bei dem nächsten Antiquar auf der Wollzeile hingen in der Auslage kleine, fleischfarbene Heftchen mit verlockendem Aufdruck zum Preise von einem Silbergroschen. Dazumal bedeutete diese verschollene Reichsmünze in österreichischer Währung grade zehn Kreuzer, oder wie man wienerisch, gleichfalls nach einer bereits halb vergessenen Rechnung sagte: ein Sechserl, ein dünnes, abgeschabtes, fleckiges Silberscheibchen, das so recht als rundes Rad ausgeworfen, in die entlegensten Spalten und Winkel der Glückseligkeit hineinfand.

Nun ließ Dieter sein seltenes Sechserl nach solchen Büchlein ausrollen, und zwar nach dem Titel, der ihm gerade besonders verlockend erschien. Den Inhalt aber ermaß er nach dem Umfang, denn nur was ihn lange ergötzte, schien dieser übergroßen Ausgabe wert. So muß es zu seiner Schande gesagt sein, er lernte bei Reklams Universalbibliothek alles Dramatische verachten. Er las nur ein Lustspiel, nichts weiter von dieser Gattung, denn welch ein Betrug entzog ihm gleich die Hälfte des verfügbaren Raumes durch unnötige Szenenbemerkungen, durch die vertrackten Namen der jeweils sprechenden Personen und durch den breiteren freigelassenen Rand! Wenn ein Dialog richtig ist, weiß man doch ohnehin gleich, wer da redet, und weiß man's nicht, so lohnt es sich doch den Teufel, eine Minute länger bei dem Geschwätz zu verweilen. Dann wird noch in Prosa allerhand Unnützes, in Versen allerhand Ueberflüssiges besprochen, was eine Erzählung in einem Satze abtut, verlangt hier Seiten, in deren Mitte der magere Inhalt sich recht als ein verlogener Sünder und Prasser auf einem weißen Lotterbette wälzt. Seit er einmal mit einem solchen Drama war betrogen worden, hütete er sich vor der Gattung. Das gab denn ein endloses Wählen, Suchen und Vorherverkosten, wenn er im Laden nach langer Zeit wieder einmal ein neues Büchlein suchte, jeder Titel spielte ihm tausend Möglichkeiten des Inhalts vor, und er schuf zehn Romane für den einen, dessen Würdigkeit er auskundschaften wollte. Vier Sinne wandte er auf, zu forschen, ob das Zeug etwas tauge. Zuerst das Gesicht: wie der Titel hieß, wie viel Seiten und Kapitel da waren und ob der Druck reinlich geraten, dann aber den Geruch. Wenn ein Band alt war und sich lange im Schrank des Buchhändlers aufgehalten hatte, roch er nach staubigem Papier und war sicherlich nichts wert, weil sich niemand um ihn beworben hatte. Vielmehr mußte jeder Band frisch als ein neugebackenes Brot, nach der Druckerschwärze riechen, sich noch feucht anfühlen und in ungebleichter Fleischfarbe wie ein lebendiges Geschöpf hell leuchten. Dann fragte Dieter noch, ob der Band wirklich erst jetzt herausgekommen sei.

Eines Tages nun fand ein Buch, so feucht, frisch, hell, wohlriechend, schwarz und weiß, wie es sich gehörte, in seinen Besitz, von dem er sich viel versprach: »Aus dem Leben eines Taugenichts«, Novelle von Joseph Freiherrn von Eichendorff. Dieter kostete den Wohlgeschmack dieser ersten Seite. »Aus dem Leben«. Das besagte: einer hat so viel und so mannigfaches erfahren, daß kein Dichter alles erraten und festhalten kann, was zwischen den Zeilen, Fingern und Gedanken hindurchschlüpft; wenn er nur einiges erzählt, läßt er ebensoviel noch und neues, besseres ahnen, verspricht und erfüllt es wohl auch ein andermal. Das ganze Leben eines Taugenichts in einem so dünnen Bande wäre eine Lüge gewesen, auf die er, Dieter, wohl zu allerletzt hineingefallen wäre, »aus dem Leben« aber war die bescheidene Wahrheit, an die man sich getrost halten durfte, man bekam ein paar gute Früchte aus einem großen Obstgarten. Schön! Und dann nicht aus dem Leben eines Herrn Soundso, sondern gerade eines Taugenichts. Das war unsereiner, wir wollen sehen, wie ein Taugenichts sich gebärdet, und prüfen, ob er auch den Namen verdient, denn das verstehen wir, da lassen wir uns keinen Dunst vormachen und um uns selbst betrügen. Wenn ein Dichter den Mut hat, seinen Helden einen Taugenichts zu nennen, dann muß er ihn wohl kennen und vielleicht selbst einer sein oder gewesen sein, alle Achtung, Hüte dich, Freiherr von Eichendorff, wenn du gelogen hast! Wie konnte aber einer, der so hieß, wohl betrügen? Eichendorff! Ein Mann, der nach einem solchen Ort genannt war, mußte aus einer Welt herkommen, als ein freier Herr, die gar wohl auch Taugenichtse hervorbrachte und von den Stämmen herabschüttelte.

Novelle! Der Name schlüpfte zierlich hinter dem Taugenichts herein wie eine leichtfüßige, schönhäuptige, schwarzäugige Frauensperson. Das war aber auch das einzig verdächtige an diesem Titel, da Dieter die Weibsbilder verachtete und mit einigem Mißtrauen von sich fernhielt. Ein Roman war ein breiter, standfester Mann, bewaffnet und wohlbeschlagen in allen Stücken, dagegen verhieß eine Sache, welche Novelle getauft war, allerhand Schnickschnack und ziersüchtige Possen, ein weibisches Gedreh und Geäugel, das einen mit jedem Worte narrte. Aber schließlich, die Novelle mag zu dem Ding gekommen sein, wie ein Zubehör, lautete der eigentliche Titel doch »aus dem Leben eines Taugenichts«, und ihm wollte er vorderhand vertrauen, mochte die Novelle eben mittanzen und mittun, man kann den Frauenzimmern nun einmal nirgends in der Welt ganz ausweichen. Schließlich war er, Dieter, gewiß ein Taugenichts, wer wollte es ihm bestreiten, und auch er hatte seine Veronika, oder die Baronesse Tinka gefunden, die oder jene Novelle spielte immer mit, wenn ein Mann etwas erlebte, da die Weiber überall den Leuten vor die Beine liefen. Sei's drum.

Also Joseph Freiherr von Eichendorff. Der Mann führte Dieter-Sephes Vornamen, irgendwie macht auch das eine Seelenverwandtschaft aus, denn niemals kann ein Theodor einem Joseph, ein Toni einem August gleichen, aber jeder Joseph gehört auf geheime Weise allen jetzigen, einstigen und künftigen Sephes zu als einer Brüderschaft ehrbar schlauer Pilgrime, deren Stammvater es verstand, ohne eigene Plage eines Herrgöttleins biederer Vater und noch heilig dazu zu werden.

Mit diesem Schatz in der Tasche begab sich Dieter in einen zweiten geschätzten Laden der Wollzeile, der hieß »zum Freywilligen von anno 1809« und führte wohlfeiles Zuckerwerk, insbesondere aber eine Art Sandschokolade, von welcher man um ein Vierkreuzerstück ein großes Trumm bekam, das langsam, dauerhaft und wohlschmeckend sich beim Lesen im Munde aufhielt. Kam noch eine Zigarette zu einem Kreuzer dazu, so hatte er für sein heutiges Abendvergnügen ein stattliches Vermögen geopfert, das sich hoffentlich nutzbar erweisen würde.

Daheim hatte er, seit er nach des Vaters zweiter Ehe wieder bei ihm hauste, sich völlig neu eingerichtet und sozusagen selbständig gemacht. Seine Stiefmutter sah zwar, wie die Leute behaupteten, ihrer verstorbenen Schwester sehr ähnlich, aber er fand kein Gefallen an ihr, sei es, weil sie eben des Vaters zweite Frau war und er jede Nebenbuhlerin der verstorbenen Mutter von vornherein mißachtete, sei es, weil sie schwach und demütig mit einem so eigenwilligen Sohne nichts rechtes anzufangen wußte. Wie immer sie sich gegen ihn benahm, erregte sie seine Mißstimmung; kümmerte sie sich um ihn, so fiel sie ihm lästig, kümmerte sie sich nicht um ihn, so entbehrte er, ohne es Wort zu haben, die mütterliche Fürsorge. Der Vater, welcher das schiefe Verhältnis der beiden wohl bemerkte, griff, wie immer, mit stiller Sicherheit ein, indem er dem Knaben eine räumliche Unabhängigkeit verschaffte. Er ließ ihn nämlich bei Tage im Bibliothekssaal der Ethnographischen Gesellschaft lesen und schreiben. Das geschah bei Dieters Wanderhaftigkeit ohnedies selten genug und nur für recht kurze Zeit, denn seine Schulaufgaben mußten sich eigentlich von selbst und im Handumdrehen machen, wurden in den Zwischenstunden vom Nachbar abgeschrieben oder in aller Eile morgens ins Heft geschleudert, zwischen Aufstehen und Milchtrinken. Saß er aber einmal eine Stunde im Vereinsraum, so traf er nur selten einen Besucher und störte den sicherlich nicht. Abends, nach sechs, war die Bibliothek geschlossen und gehörte ganz dem Dieter. Hier schlug er, nach des Vaters Unterweisung, sich auch sein Nachtlager auf. Unter den Gaslampen in der Mitte des Zimmers standen zwei langgestreckte Eichentische, an denen bei Tage die Gäste lasen. Auf einen dieser Tische wurden Matratzen gelegt, darüber das Leintuch, Kissen, und eine Wolldecke und das Bett war fertig, hart, aber auch sicher, und in einem weiten Raum, der durch hohe Fenster aufs beste konnte gelüftet werden. So besaß Dieter ein Studio, um welches ihn der reichste Privatgelehrte beneiden durfte. Draußen auf dem Universitätsplatze sah man die Umrisse der stillen, alten Häuser, an dem Gesimse die vorüberwandelnden, abends beisammenkauernden Tauben, jede vergangene Viertelstunde bekam ihren goldenen Glockensegen von der Turmuhr, und wenn in der Nacht die einsame Lampe brannte, schien draußen die schwarze Welt ein gläsernes Schiff hoch auf ihren Wellen und schwebend zu halten, in welchem ein Taugenichts schaukelte.

Heute aß Dieter geschwind bei den Eltern in der Küche sein Nachtmahl und zog sich dann mit einem Gläschen Bier in den Saal zurück, da er noch viel zu tun hatte, wie er dem Vater sagte. Im hohen Raume schraubte er zunächst die Gasflamme auf, deren Summen wie eine ferne Musik zu brausen begann, dann baute er von den Atlanten und großen Foliobänden der Bibliothek rund um seinen Lesetisch einen förmlichen Wall, der ihn von der Welt abschied. Innerhalb dieser Festung breitete er Lehrbücher, Hefte, Tinte, Federn, Löschblätter aus, um gegen einen etwaigen Ueberfall gesichert zu sein, während das Büchlein in jedem Augenblick hinter die Schulsachen geschoben werden konnte. Zur Rechten stellte er sein Gläschen Bier auf ein Stück Zeitung, damit es auf dem Eichentische keinen feuchten Rand hinterlasse, zur Linken die Schokolade und die Zigarette.

Und nun konnte das Fest beginnen.

Er steckte die Zigarette unangebrannt in den Mund, denn auch der Duft des trockenen Tabaks ist voll Annehmlichkeit und besonderer Verheißung, und während er mit seinem Federmesser die Seiten des Büchleins aufschnitt, verkostete er den Vorgeschmack des Rauchens, wie der Abenteuer des Taugenichts in einem.

Erst nach diesen Einleitungen entzündete er die Zigarette, beugte sich über das Buch und begann zu lesen und las, und las mit solchem Eifer und solcher Hitze, daß er selbst an das Gläschen Bier und an die Schokolade nur selten dachte, gefangen, getragen und entrückt durch dieses Buch, dessen Worte, jedes freilich allein schon blühend und duftend, wie Sommerblumen einer fernen Heimat, in ihrer Reihenfolge und Bedeutung ein ganzes neues Leben herbeibrachten. Oder besser zu sagen: kein neues, sondern das eigene, längst gewohnte und freigewählte, aber mit einer holdesten Rechtfertigung und Verherrlichung seines eigenen Traumwandels über die schöne Erde. »Das Rad an meines Vaters Mühle brauste und rauschte schon wieder recht lustig, der Schnee tröpfelte emsig vom Dache.« Da hörte er die Hammermühle gehen und sah den weißen Schnee, der winterlang auf Dächern und Bäumen lag und sah ihn rinnen, »emsig«, Tropfen auf Tropfen, voll sich selbst lauschender Lustbarkeit, drunten vor der Aula mahnte das leise Lachen der Brunnen an das fröhliche Wasser, das wandert und geht und gleichwohl immer gegenwärtig bleibt. Der Vater aber hatte daheim »rumort«, hieß es weiter und schalt, die Schlafmütze schief auf dem Kopfe, seinen Jungen: »Taugenichts«. Da sah man doch einen Mann, der wußte, was er sagte. »Rumoren«, das tat wirklich auch sein Vater den lieben langen Tag, und wenn er einmal in üble Laune geriete, könnte der Dieter auch einen Taugenichts an den Kopf bekommen und würde sich's nicht zweimal sagen lassen und in die Welt gehen, sein Glück zu machen. Und was nun alles um einen solchen jungen Kerl rundherum passierte und sich zutrug, keine einzige Begebenheit, die man nicht hätte selbst erleben mögen und können, kein Schmerz, der nicht auch üppige, sammetweiche Lust war. Da fuhr ein Taugenichts auf dem Wagentritt einer vornehmen Karosse. Das kennen wir aus eigenem! Wie oft sitzen wir auf den Achsen der schön federnden Kutschen, welche von der Sophienbrücke her in den Prater rollen, und wenn neidische Gassenjungen dem Livrierten auf dem Bocke den ungebetenen Passagier verzünden: »Da hinten sitzt einer«, schreit man frech »das Radl dreht sich«, als mache man den Kutscher auf ein wichtiges Gebrechen aufmerksam, damit er verwirrt wird und nicht weiß, um was es sich handelt und die ganze Sache für einen Lausbubenscherz hält und weiter fährt. Gelegentlich schlägt er freilich mit der Peitsche hinten aus, die saust um die Ohren, aber kein Taugenichts läßt sich durch sie stören, denn er gehört zu einer Praterfahrt und Staatskarosse dazu, so recht als das arme romantische Widerspiel zu der zierlichen Novelle, die vorn im Wagen auf den Seidenkissen neben einer alten Dame sitzt. Und dann der strenge, mürrische Portier mit dem betreßten Zweispitz, dem goldverzierten Stab und Bandelier, der vor dem Schlosse auf- und niederwandelt wie das gehende Uhrpendel; ist's nicht unser guter Bekannter von der Aula unten? Und das Straßeneinräumerhäuschen mit seinem bunten Garten, dem Schlagbaume davor und dem Einschreibebuch, über dessen Ziffern das Sonnenlicht tanzt! Das wäre eine Beamtenstelle! So wollen wir einmal wohlbestallt sein als Taugenichts und mit fixen Bezügen, mit einem Sack voll Launen, einer Geige unterm Arm und einen Tag voll Lust, Nächte voll Mondschein vor und um uns. In tollen Streichen der Sehnsucht und treuen Liebe, von wechselnden Abenteuern genarrt, wollen wir durch das Leben springen, kein Land der Welt darf uns versagt sein, keine Frucht von irgendeinem Baume hängen, die wir nicht verkosten, von den tiefen Mühlen im Hammergrunde bis nach Italien, man kennt den Weg. Da braucht man sich immer nur südwärts zu halten, die Berge kommen einem entgegen; wo die Alpen wandern, gleiten die Ströme in immer vollere Täler und einmal hören plötzlich die Tannen auf; die Weiden und Obstbäume, Erlen und der Wein schlagen hellgrün den Auftakt zur Musik der himmelblauen Herrlichkeit, die Häuser tragen keine hohen Hüte mehr, sondern flache Dächer und die Sonne glänzt heiß, schmutzige Wäsche hängt von den Balkonen, schwarze Frauenzimmer heben in Kupfereimern das Wasser von den Brunnen und schauen einen an, dazwischen wandelt ein Abbate mit schwarzem, staubigem Filzhut vorbei und im Nu ist man in Roms schimmernder Sonnenebene unter den glänzenden, breithörnigen Ochsen. Man hört die Messe in St. Peter und sieht den heiligen Vater vorüberschweben. Man sehnt sich nach Abwechslung, besonders wenn man einen Messerstich in die Brust bekommt, der einem andern gegolten hat und wandert, wer weiß wie, nach Deutschland zurück, wo alles reinlicher hergeht, wo die Liebste besser gewachsen ist und etwa als Kammerjungfer einer Baronesse dient, wie die Josephine Wacha, deren Kölnischwasser man sorgsam aufbewahrt hat. Und wenn einen die Treue verdrießt, gibt es ein weites Meer und eine neue Welt und man läßt sich nach Amerika schaukeln. Wir haben es immer gewußt: so soll unser Leben sein, aber endlich hat's einer gesagt, erkannt. Das war ein Mann, ein freier Baron, mit dem sich reden ließ. Was sind alle Romane sonst doch für ein Geschwätz von lauter Dingen, die uns nichts angehen, da kommen Männer und Frauen vor, welche Sorge haben, Geld verdienen und Ehrgeiz umhertragen, hier gab es nur junge Menschen, die tun, was sie wollen, oder ganz alte, die zuschauen und freundlich verdrießlich räsonnieren, wie der Brummbaß zur hochflötenden Geigenstimme. Hier war von uns die Rede, die wir das Hauptstück der Erde ausmachen, ihr junges Laub, von uns Taugenichtsen und Mordssackerlotern, die neunmal weiser sind als alle erwachsenen Armesünder und Sorgenherren. Um uns handelt es sich, um uns dreht sich das große Rad und wir drehen es, das große Rad der Welt. Das war ein Buch, und nun konnte man verstehen, was ein Dichter sei. Einer, der die Wahrheit sieht und sagt, aber nicht die griesgrämige Grausamkeit des alten, sondern die helle Einsicht des jungen Tages, welche von Sonnenlicht leuchtet, grün überschimmert von Laub, hold durchklungen von Vogelrufen, bekränzt von Sommerblüten. Die Wahrheit ist ihm zur Seite, wie ein schönes Mädchen mit dunkeln Augen. Und wenn sie traurig blickt und Schmerzen verkündet, dann geschieht es immer noch in einer Nacht voll von Sternen und Nachtigallen, und wenn es zu sterben gilt, dann ist's ein Traum von hier nach einem neuen Wunderland hinüber. Unter allen Menschen bleibt man einsam und glücklich, und fern von allen ist man in Gesellschaft der schönsten Gestalten. Niemand gehört man, das Leben fließt durch Leib und Seele wie das Geheimnis der quellenrauschenden Erde, und man geht durch Wasser, Feuer, Stein und Luft unversehrt und durchsichtig wie ein Kristall, in welchem sich der Schein mit Spiel und Leuchten spiegelt.

Dieter las und las, bis er das Büchlein ausgekostet hatte. Er war eben daran, wieder anzufangen: »Das Rad an meines Vaters Mühle brauste und rauschte schon wieder recht lustig«, als er ein leises Rumoren vernahm, das ging von seinem Vater aus, der in Filzschuhen nachsehen kam, ob sein Sohn nicht etwa beim Licht eingeschlafen sei. Hurtig schob Dieter das Heftchen unter sein Schreibwerk und studierte emsig. »Ja, was hast du denn gar so viel zu tun heut'? Es ist Schlafenszeit: Ein Uhr. Morgen ist auch noch ein Tag.«

Der Vater machte sich leise wieder fort. Dieter verlöschte die Lampe, erstieg sein Bett auf dem Tische und träumte und hörte das Rad der Mühle gehn, den Schnee in Tropfen fallen, und in seinem schwebenden Schlummer klang das Lachen der Brunnen unten aufs artigste mit dem Rauschen der Wasser dieser Geschichte zusammen.


 << zurück weiter >>