Otto Stoessl
Morgenrot
Otto Stoessl

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V.

Im Herbst rückte Dieter ins Gymnasium ein und vergaß in der neuen Umgebung unter den Kameraden und bei der lateinischen Grammatik auf kurze Zeit seine bisherigen Wanderschaften und Abenteuer.

Die neue Schule in der »Landstraße« war ein einfaches, trauriges Gebäude, so recht vom armseligen Aussehen der meist von Beamten und kleinen Leuten bewohnten Vorstadt. Es gab in der Klasse zum Glück auch keine sonderlich vornehmen Schüler aus den sogenannten guten Häusern, also keine, die mit Kleidern, Geld und Festen groß tun, auf die Aermeren hinabsehen, oder sie verführen, vielmehr waren fast alle gleich dürftig, bescheiden und in ihrer Art munter, so daß Dieter für einige Zeit genug zu tun fand, sie zu beobachten und die Sitten der höheren Schule sich anzueignen. Unter seinen Kameraden waren die urwüchsigsten, Söhne besserer Arbeiter, Schwerfuhrwerker und Tramwaybediensteter von Simmering und Erdberg. Der Unterricht bewegte sich langsam und geduldig vorwärts und machte Dietern vorläufig keine sonderliche Mühe, während die andern Buben, welche entweder die gröbste Wiener Mundart oder gar nur ein tschechisch entstelltes Deutsch sprachen, für die lateinische Sprache wenig Sinn hatten.

In einer Bank der letzten Reihe saß ein stiller,. kränklich aussehender Knabe, der Maschek hieß und ein ungeschicktes, schüchternes, tschechisches Deutsch redete, aber wenn er gefragt wurde, immer zu wenig, wobei er ein erstauntes und betrübtes Gesicht zeigte und zufrieden blieb, wenn man ihn im Hintergrunde der Klasse ruhig leben ließ.

Eine Woche lang fehlte er beim Namensaufruf. Als man am neunten oder zehnten Tage zu Beginn des Unterrichts abermals den Maschek als abwesend angab, erhob sich der Klassenvorstand, ein ruhiger und guter Mensch, welcher Geographie, Dieters Lieblingsfach, mit interessantem Vortrage lehrte und sagte zu den aufhorchenden Schülern: »Mit dem Maschek hat es eine eigene Bewandtnis, er fehlt heute nicht mehr, aber er schämt sich ein wenig vor euch und wartet darum draußen auf dem Gange. Ich muß euch also auf ihn vorbereiten, damit ihr ihm anständig begegnet und ihn seinen törichten Streich nicht übel fühlen laßt. Er hat wohl etwas Dummes angestellt, aber nichts eigentlich Schlechtes. Verrückte Bücher, dummes Zeug von Abeuteuern und Durchgängerreisen und so weiter, was ihr alle lest, wie ihr hier beisammen seid, hat er sich in den Kopf gesetzt und ist ohne Erlaubnis seiner Eltern mit seinen ersparten Kreuzern abgefahren. Er kam freilich nur bis nach Triest, und von dort hat ihn sein Vater wieder abgeholt. Nun steht er vor der Türe und bittet um seinen alten Platz. Gleich wird er kommen. Daß ihr ihn nicht auslacht. Während ihr alle eure dummen Streiche mit Raufen und Schimpfen in der Zehnuhrpause ausblaset, ist er doch, wie er es sich eben vorstellte, mutig in die Welt gezogen und hat das wirkliche Meer gesehen, das wir anderen vielleicht nie zu Gesicht bekommen. Und einer, der ernsthaft etwas Ernstes mit eigenem Willen erlebt hat, verdient immerhin, daß man ihn ernst behandelt.« Nach dieser Anrede holte der Lehrer den Maschek herbei, welcher zaghaft, das traurige Gesicht über und über rot, den Kopf hängen ließ und an der Türe stehen blieb.

Dieter wußte nicht einmal, wie es ihm geschah, und was er nun tat. Er saß in der ersten Bank, und sei es, daß er zunächst den Helden des Tages genau sehen, sei es, daß er ihn irgendwie ehren wollte, kurz, Dieter erhob sich mit plötzlichem Ruck, als der Maschek eintrat und blieb stehen. Und ebenso rasch stand die ganze Klasse auf, daß ein lautes Rauschen durch den Raum ging und blieb stehen, bis der Maschek langsam und zaghaft seinen Platz erreicht hatte.

Auch der Lehrer oben auf dem Katheder stand und schaute ganz gerührt und zufrieden auf diese spontane Ovation. So verging eine lange, stille Minute, bis der Professor sich niedersetzte, die Klasse dröhnend folgte und der Mann das Buch aufschlug: »Wir haben also in der letzten Stunde von Zentralamerika gesprochen.«

Der Maschek blieb aber, nach seinem fehlgeschlagenen Abenteuer doppelt beklommen, trübselig und demütig einsam und hielt sich von den Fragen und Spielen der Schüler fern. Für alle andern galt dies Ereignis mit der Rede des Lehrers und der unwillkürlichen Huldigung für den Abenteurer als abgeschlossen, nur für Dieter nicht. Denn er wollte wissen, wie es gekommen war, daß einem Buben auszuführen gelang, was er und seinesgleichen sonst nur als Spiel und im Gleichnis erlebten. Dieter reiste ja auch nach seinen Indianerbüchern und nach mündlicher Ueberlieferung des Junker und anderer Helden als Schiffsjunge oder als Kapitän, als Häuptling der Irokesen oder als Freischärler umher, aber nur bis in die Alservorstadt oder längs der Wienufer unter dem Verstecke der alten Weiden und Erlen. Der Maschek aber versuchte wenigstens, wirklich und leibhaftig zu erleben, was ein erwachsener Mensch mitmacht, der nicht bloß träumt, daß er träumt. Das schließliche Scheitern der Unternehmung nahm ihr nichts von ihrem Werte. Dieter mußte durchaus Näheres in Erfahrung bringen, schloß sich daher beim Nachhausewege einmal dem stillen Gesellen an und drang so lange in ihn, bis dieser endlich, recht schüchtern und demütig, seine Erlebnisse erzählte.

Also er hatte wirklich Schiffsjunge werden und die fremden Länder sehen wollen, da ihn daheim und in der Schule das einförmige Leben, Lernen und Geprüftwerden verdroß. Darum legte er sich planmäßig zurecht, was er brauchte, um bis zur nächsten Hafenstadt zu kommen. Dort würde er sich schon heuern lassen, und war er einmal so weit, dann konnte es ihm ja nicht mehr fehlen. Zuerst und zuletzt galt es wie immer, die leidige Barschaft zusammenzuraffen. Seine Eltern, kleine Leute, pflegten das Wirtschaftsgeld und den Zins in einer Tischlade unversperrt zu halten, da niemand Fremder in ihre Wohnung kam. Der Maschek begann nun rechtzeitig allwöchentlich einen Gulden aus diesem Vorrat zu entnehmen, was nicht weiter auffiel. Diese langsam anwachsenden Beträge versteckte er unter einem Brett des Fußbodens. Endlich hatte er so viel beisammen, das Fahrgeld und den Preis der dringendsten Ausrüstungsgegenstände zu bestreiten. Nun kaufte er einen kleinen, leinwandbezogenen Handkoffer und eine Schachtel Zigaretten. Die schien ihm bis Triest zu genügen. Sein Zug ging früh am Nachmittag ab, er schwänzte daher die Schule, kehrte nach Hause zurück, als die Eltern auf Arbeit gegangen waren, packte die wichtigsten Wäschestücke, etliche Unterhosen, Hemden und Sacktücher in den Koffer, legte seinen Sonntagsanzug an und darüber sein Alltagsgewand, denn so ersparte er einen Ueberrock, war gegen etwaige Kälte geschützt und führte jedenfalls eine anständige Feierkleidung mit, er aß sich an den dürftigen Vorräten der mütterlichen Küche noch gründlich satt, steckte ein Scherzel Brot ein und begab sich, seinen Koffer schleppend, zu Fuß auf die Wanderung. Auf dem Südbahnhofe bekam er ohne weiteres seine Fahrkarte, stieg in einen Wagen der dritten Klasse, verstaute sein Gepäck und kauerte sich in eine Ecke. Keiner der vielen Reisenden kümmerte sich um den Buben, der sich ja von jeher, wie die besten Abenteurer, auf die Kunst verstand, versteckt und unansehnlich zu bleiben. Der Zug begann zu fahren, der Maschek saß an seinem Fensterplatze und wagte vorerst nicht einmal hinauszuschauen. Erst in Wiener Neustadt erhob er seinen Kopf, draußen wurden heiße Würstel ausgerufen, die Passagiere versorgten sich alle mit diesem guten Essen, und ihrem Beispiele konnte der Maschek um so weniger widerstehen, als er Hunger verspürte. Daher kaufte auch er ein Paar und verzehrte es zu seinem mitgebrachten Brotscherzel langsam und mit großem Genuß. Er fuhr schon längst durch das Steinfeld mit seinen öden Föhrenpflanzungen, als er mit dem Essen fertig wurde. Nun schien es ihm auch erlaubt und förderlich, eine Zigarette zu rauchen, da er sich jetzt erst frei und gesichert fühlte. So tat er und rauchte mit langsamen Zügen.

Er war damit zu Ende, als die ersten waldigen Berge im Abendlicht an die Schienen traten, der Weg stieg immer höher, durch Schluchten sah man auf tiefe Täler, hinter den grünen Höhen tauchten Schneeberge auf, und mit einem Male bekam die Welt ein kühnes, drohendes, gefährliches Ansehen, das war der Semmering. Und sei es, daß die ungewohnte Zigarette oder das schaukelnde Fahren samt der ausgestandenen Angst und Aufregung zu einem bedrohlichen Zustande beitrugen, kurz, der Ausreißer fühlte schon hier die Anzeichen der Seekrankheit und ihren eigentümlichen Wunsch, alles möchte aus sein. Zudem begann es zu dunkeln, die Schatten der Berge, Felsen, Schluchten griffen immer drohender ins Fenster herein, der Zug fuhr immer wilder drauflos, es wurde kalt, es fröstelte ihn in seinen beiden Anzügen und er duckte sich schließlich ganz klein in seine Ecke, bis er einschlief. Am Morgen erwachte er in einer Gegend voll starrer, öder Steine, im Karst, und sah plötzlich durch einen Felsenriß das Meer blitzen und stand nach kurzer Weile vor dem Bahnhofe in der Stadt Triest. Nun ging er mit seinem Koffer an den Hafen und begann bei den einzelnen Schiffen anzufragen ob man keine Schiffsjungen brauche. Und siehe da, ein Dampfer war bereit, einen Mann seines Schlages anzunehmen. Es müssen doch in den Häfen mehr solcher junger Durchgänger zu Schiffe kommen, und die Matrosen müssen wohl oft genug so verstohlen ihr Handwerk beginnen, wie es in den frechen Jugendschriften erzählt wird. Schon wollte er seinen Koffer abladen und über den Landungssteg zu seinem neuen Herrn vordringen, der morgen nach Bombay abdampfen sollte, als hinter ihm plötzlich eine unbekannte Stimme gebieterisch ausrief: »Maschek Franz.« Und nun beging er die erste, einzige, hinreichende Dummheit, welche ihn ins Verderben zurückwarf, er drehte den Kopf um und antwortete: »Hier!« Damit war er freilich geliefert. Ein Wachmann in Zivil legte seine Hand auf ihn und führte ihn ab. Er wurde seinen ahnungsvollen Eltern nach Wien retourgesandt und aus war's mit der Schiffahrt.

Dieser Ausgang befriedigte Dietern wenig, aber der Maschek schien sich daran genügen zu lassen, denn er unternahm nichts weiter. Seine Flügel hatte man ihm wurzweg abgeschnitten, sie wuchsen ihm ein zweites Mal nicht hoch, so saß er, täglich stiller, verschüchterter und dümmer auf seiner Bank im Hintergrunde, und ist wohl nie mehr aus seinem Dunkel hervorgetaucht.

Die Geschichte des Maschek bewirkte, daß sich Dieter des lang vernachlässigten Junker aus der Bäckerstraße entsann, der ja ähnliche Pläne leidenschaftlich verfochten hatte. Als Dieter in das alte Haus kam, hieß es, die Wäscherin sei ausgezogen und wohne nun in Hernals. Dieter begab sich dorthin und fand die Frau wiederum in einer Dachstube beim Bügeln, wiederum hielt sie das heiße Eisen an die Wange und beantwortete seinen Gruß recht gleichgültig. Erst als Dieter stehen blieb und sich nach seinem Kameraden erkundigte, sagte sie: »Der ist fort nach Amerika.« »Als Schiffsjunge?« fragte Dieter, darauf nickte sie »ja« und setzte ihre Arbeit fort; während sie genau die Falbeln eines Frauenrockes zurechtzog und mit dem heißen Stahl befuhr, erzählte sie, in der Schule habe er ohnedies nichts Rechtes gelernt, vierzehn Jahre sei er alt gewesen, fort habe er wollen, so sei er weg und müsse nun schauen, wie er zurechtkomme. Dieter bat beklommen, sie möchte ihm seinen schönen Gruß ausrichten. Da lachte sie: »Vielleicht läßt er einmal was von sich hören, dann kann ich's ihm ja bestellen, adieu.« Dies Wunder sah gar nicht mehr wunderbar aus.

Als Dieter die erste Klasse mit anständigem Erfolge bestanden hatte und seinem Vater das Zeugnis brachte, fragte der, ohne es auch nur anzusehen: »Bist du durchgekommen?«, und als der Sohn dies bejahte: »Das ist recht, und wohin willst du auf Ferien gehen?« Dieter wußte nichts zu antworten, die Welt war weit, sehen mußte er alles, was es gab, aber bei der großen Auswahl schien ein besonderer Vorschlag schwierig.

Der Vater sagte: »Ich meine, du könntest nach Schwarzwasser zur Tante Hanne fahren.« Das war seine Schwester, die dort ein Wirtshaus hielt. Er hatte ihr wohl schon den Besuch des Neffen angekündigt. Dieter packte sein Bündel, bei Hermann Schreier holte er wieder das notwendige Ueberflüssige, bis Mährisch-Rothwasser mußte er die Eisenbahn benutzen, dort aussteigen und eine gelbe Düte als Erkennungszeichen in der Hand halten, denn sein Vetter, der Sohn der Tante Hanne, sollte ihn, gleichfalls an einer gelben Düte kenntlich, abholen und nach Schwarzwasser bringen. In Rothwasser präsentierte Dieter nach der Vorschrift eine gelbe Düte, aber keine gelbe Düte kam ihm entgegen, vielmehr verliefen sich alle Fahrgäste aus dem Bahnhof und nur ein Bauernwagen stand da, welcher von einer Wiener Familie langsam bestiegen wurde, die wohl auch in der Gegend ihre Sommerfrische bezog. Als diese Leute den kleinen Buben mit seinem großen Bündel ratlos stehen sahen, fragten sie ihn, wohin er denn wolle, er gab kleinlaut Auskunft, und da sie denselben Weg fuhren, hießen sie ihn mitkommen, und er wurde neben den Kutscher gesetzt, nicht ohne daß sich die Spießbürger laut darüber entrüsteten, daß man ein Kind so allein auf Reisen schickte und in der weiten Welt irregehen lasse. Dieter lachte in seinem Herzen dieser Angst, besaß er doch ein festes Messer und hatte vom Vater für alle Fälle einen Zehnguldenschein mitbekommen. Der Kutscher fuhr drauf los durch ein von waldigen Anhöben immer enger eingeschlossenes Tal. In einem Wirtshause hielt man Mittagsrast und Dieter verspeiste eine Knofelsuppe, die ganz merkwürdig schmeckte. Man fuhr noch etliche Stunden weiter bis zu einem Dorfe, wo die Familie absaß. Der Kutscher fragte, wohin Dieter nun wolle. Der antwortete, zur Frau Glatter nach Schwarzwasser. Da müsse er noch drei Stunden zu Fuß gehen, immer der Straße nach. Mit schönem Dank für die gewährte Freifahrt machte er sich auf den Weg. Aber es dunkelte bald, der Wald lief immer näher heran, so daß sein hauchender Schatten über den Weg fuhr und jeder Baum ebensogut als ein nahender Räuber erscheinen konnte. Die Nacht war finster und bewölkt, kein Stern, kein Mond schien, der Fluß rauschte wild durch die Einsamkeit und Dieter wanderte dahin. Für alle Fälle zückte er sein Hirschhorntaschenmesser, um sich eines etwaigen Ueberfalls zu wehren und schleppte sein Bündel, indem er es von einer Schulter zur Abwechslung auf die andere wälzte. Endlich sah er von weitem Lichter glänzen, kam über eine Brücke, unter welcher das Wasser über eine Wehr schäumte, zu einem Gasthaus, fragte nach der Frau Glatter und wurde beschieden, sie wohne am andern Ortsende. Noch eine halbe Stunde zog er weiter, an verstreuten Häusern vorbei, die schon im Dunkel schliefen, bis ihn das hohe Dach eines großen Gebäudes verwandt anmutete; aus der Türe drang ein heller Schein, drinnen redeten Stimmen, er klinkte auf und blieb unbemerkt und unbeachtet in der rauchigen Wirtsstube beim Eingang stehen. An einem Tische saßen Männer beim Kartenspiel und qualmten. Hinter einem Holzgitterverschlag hantierte eine große, breite Frau, deren Züge er in der Dämmerung nicht erkannte, beim Schanktische, schnitt Wurst, klapperte in der Geldlade und tat eben, was eine Wirtin zu tun hat.

Schließlich trat Dieter näher und drang bis zum Verschlage vor die Frau, die ihn ansah. Da durchfuhr Dietern bei ihrem stillen Blicke das Erkennen: »Das ist ja mein Vater.« Aehnlich erging es wohl auch der Wirtin, denn sie lächelte und rief aus: »Du bist ja der Sephe, sei schön willkommen, warum hast du dich denn nicht angemeldet?« So war der Brief, der die gelbe Düte verabredete, wohl verloren gegangen. Aber gut, daß Dieter nun da war, sie wolle für ihn alles zurichten, bis er gegessen hätte, würde schon seine Schlafstelle bereit sein. Sie setzte ihm eine gute Wurst vor, rief ihren Sohn herbei, der ein paar Jahre älter, doch als Bauernbursch in manchen Dingen wieder jünger schien als das Stadtkind und treuherzig neben dem Vetter blieb, bis ein hochgewachsener, blondbärtiger Mann eintrat, der von der Wirtin als ihr Gatte begrüßt, Dietern als Onkel vorgestellt wurde. Die Frau hatte nämlich in zweiter Ehe diesen jüngeren Menschen genommen. Gutmütig streckte der Blonde seinem angeheirateten Neffen die Hand entgegen. »Komm mit, wir wollen dich hinauf ins Zimmer führen.« Sephe folgte über eine Holztreppe ins Dunkel auf einen offenen Boden. Der Blonde, dem der Vetter, der Stiefsohn zur Seite blieb, kommandierte: »So, jetzt springe hier hinunter,« und wies auf den schwarzen Abgrund, der unter dem Holzboden gähnte. Dieter schauerte, unter was für Räuber war er da geraten, wie sollte er ins Bodenlose springen, hatten sie ihren Spaß mit ihm oder meinten sie das ernst? Der Oheim lachte, als er ihn zögern sah und rief: »Hallo« und sprang voran, sein Stiefsohn ihm nach, und gleich lachten beide unten aus vollem Halse. Da schämte sich Dieter seiner Angst, er konnte sich nicht spotten lassen, schloß die Augen und sprang ihnen nach. Er fiel weich auf einen sanften Streuhaufen, wo die beiden sich bereits in großartigem Spaße wälzten. Damit war er eingeführt. Am Morgen weckte ihn der Vetter und geleitete ihn aus seiner Kammer sofort wieder an den offenen Boden, und nun sprangen beide vergnügt auf die Streu hinab, denn dort unten lag auch der Brunnen, an welchem man sich wusch und der so aufs rascheste erreicht wurde.

In Schwarzwasser gefiel es Dieter gar wohl, weil seine Tante Hanne eine vernünftige, klar denkende und wenig redende Person war, die man nur anzusehen brauchte, um sich so sicher zu fühlen, wie beim Vater, aber auch weil er hier in einem andern wohlgefälligen Ländchen wiederum ein Glied seiner Familie hausen und ruhig im Leben schalten sah. Es läßt sich das eigentümliche Gefühl nicht deutlich beschreiben, welches Dieter hier ergriff. Aber ungefähr war es in seiner traumhaften Erkenntnis so beschaffen: Wir sind ein Stamm, wir gehören zusammen, in einem Boden wurzeln wir, wir sind aber weit gewachsen und unsere Aeste reichen fern hin, wo immer aber einer treibt, in Wien, draußen im Gebirge oder hier in Schwarzwasser und wer weiß, wo sonst noch in der Welt; uns allen bleibt vieles, das Beste gemein. So ist keiner ganz verlassen; ob er auch den andern nicht sieht oder sich noch so wenig um ihn kümmert, er weiß, dort und da gibt es wen, alt oder jung, der so blickt wie ich, aus seinem Munde mit meinen Worten redet und eine Gebärde macht, die nur einem von uns gegeben ist. Ich bin, noch so einsam, doch in keinem Land und an keinem Tag wirklich allein, ich kann von meinem Ast nicht fallen, ohne daß es mein Stamm spürt, dem ich zugehöre, und mit ein paar Menschen sind wir zusammen ein höheres lebendiges Wesen und bestehen. Wir verzweigen uns über die ganze Welt und haben unsern eigenen Schatten.

Die Ferien gingen zu Ende. Tante Hanne packte seine Siebensachen zusammen und sprach: »Grüße deinen Vater viele Male, und sag' ihm Dank von mir, daß ich dich wenigstens noch einmal bei mir haben durfte, laßt es euch recht gut gehen und erinnert euch meiner zuweilen. Den Vater werde ich ja doch nicht mehr sehen.«

»Warum denn?« fragte Dieter, der ihre still klagenden Abschiedsworte nicht verstand, welche ihm über das Maß des gebotenen Trennungsleides hinauszugehen schienen.

»Nun, das kann ich dir nicht sagen. Aber es ist doch so. Du wirst es schon einmal begreifen, aber laß dich's nicht weiter bekümmern. Jeder hat seine Weile auf der Welt und muß zu seiner Zeit gehen. Leb' wohl, mein Kind und bleibe zufrieden.«

Dieter erfuhr, was sie gemeint hatte, als er im folgenden Winter von ihrem Tode vernahm, den sie manchen Monat vorher gewußt hatte.

In der Stadt begann für den Knaben ein neues Schuljahr mit einer völligen Veränderung seiner äußeren Lebensumstände.

Dem Vater wurde das Dasein in der verlassenen Amtswohnung schwer, deren Ordnung, ohne Frau, durch eine alte Aufwärterin nur kümmerlich bewirkt wurde. Dem kräftigen Manne blieb die arge Witwereinsamkeit ein doppeltes Elend, indem das äußere Gleichmaß der Umgebung und der täglichen Bedürfnisse ebenso zerrüttet wurde, wie das innere eines von Natur hausväterlichen Gemütes.

So trat nun eine andere Frau dem Vater näher, und dies war um so begreiflicher, da sie als die leibhaftige Fortsetzung des allzu früh geendigten Daseins erschien, an dem er gehangen: die Schwester seiner Gattin. Die schien freilich kräftiger und lebensvoller als Dieters Mutter, ihre Züge waren verwandt, aber ins Herbe und Gesunde vergröbert, ihr Wesen ins Unsichere und Scheue verwischt, indem sie bei allem Benehmen und Sprechen selbst zu fühlen schien, wie sehr sie der Schwester nachstehe. Ihre Neigung zu dem Mann der Verblichenen, ihr selbst uneingestanden, hatte sie oft ins Haus des Witwers geführt, oft saß man in der Küche, wie einst zu Lebzeiten der Frau, aber schweigend beisammen.

Während aber der Vater dieser unbewußten Werbung nachzugeben schien und das gutmütige, ehrbare und demütige Mädchen gern sah, witterte Dieter mit dem eigentümlichen Instinkt des Kindes die Nebenbuhlerin der verstorbenen Mutter und haßte sie. Vergeblich suchte sie sich in seine Gunst einzuschleichen, indem sie ihm Zuckerwerk oder Spielzeug mitbrachte. Das Zuckerwerk war ihm zu fein, so rechtes Weibergeschleck, keine interessanten Bärenzeltel oder bunte Rogs-drops, wie er sie wollte, sondern allerhand Schokolade, welche im Munde zerfloß; das Spielzeug war seinen Wünschen nicht gemäß und taugte nichts, da sie sich nicht darauf verstand. Kurz, er wies sie immer wieder und so gröblich ab, daß der Vater sich oft zürnend ins Mittel legen mußte.

Sowohl die Abneigung des Sohnes gegen die neue Gattin, als auch ein gewisses Bedürfnis, die erste Zeit der zweiten Ehe ungestört zu verbringen, den Haushalt in aller Stille neu zu ordnen und auf die gegenwärtigen und künftigen Verhältnisse richtig einzustellen, bewogen ihn dazu, den Knaben für eine gewisse Zeit wegzugeben.

Er war gewohnt, auf das Tun und Lassen seines Sohnes acht zu haben, wenn er es auch immer so einzurichten verstand, daß Dieter dies gar nicht merkte. Nur wenn es unbedingt nötig schien, trat er als Vater aus der Zurückgezogenheit hervor und tat nur gerade den geringsten, aber unerläßlichen Griff, um irgendein verwirrtes Garn in Ordnung zu bringen, indem er etwa neben dem Jungen erschien, einen Blick gab oder entgegennahm, ein Wort hinwarf oder selbst etwa so tat, wie er wollte, daß der Sohn es tun lerne, so daß das Beispiel ohne weiteren Hinweis genügte. Auf diese Art waltete er über dem Haupte des Jungen wie eine bescheidene Vorsehung und gab ein Gleichnis für die vielumstrittene Lehre von der Freiheit des Willens zum besten. Dieter der kleine konnte sich selbstverantwortlich dünken, wie der unbedingteste Herr seines Schicksals, aber Dieter der große wachte über diese Freiheit und hielt sie mit einem höheren Willen leise am richtigen Wege, so daß sie nicht irreging.

In dieser Treue fürchtete er aber irgend etwas zu versehen, während er durch seine neue Ehe reichlich in Anspruch genommen war. Auch glaubte er bemerkt zu haben, daß Dieter den Geheimnissen der lateinischen Sprache weniger Aufmerksamkeit schenkte, als denen der Indianerzüge und Wienflußschätze. Hatte der Vater doch einige schlechte Noten in den Schulheften auftauchen gesehen und stand solchen Unfällen ganz machtlos gegenüber, da er zwar das Tun und Treiben, nicht aber die Wissenschaft seines Sohnes beobachten, geschweige denn verbessern konnte.

Darum wollte er ihn zu einem gelehrten Manne geben, der Dietern hierin besser führen konnte und so recht geeignet schien, auch sonst den Knaben in Zucht zu halten und etwaiges Unkraut, welches in der mutterlosen Zeit aufgewuchert sein mochte, zu beseitigen.

Dieser gelehrte Mann war der Herr Kooperator Eidherr, auch ein Landsmann und einstiger Jugendgespiele aus der Heimat. Eidherr war früher als Dieter aus dem Ländchen fortgegangen, als begabter Knabe zum geistlichen Beruf gelangt, der ja für den Bauern meist die einzige Möglichkeit bietet, geistige Ziele und Fähigkeiten wahrzunehmen. Hier in Wien hatte Dieter ihn unversehens, als würdigen Herrn Messe lesend, wiedergefunden und sich ihm nunmehr dauernd in der festen Freundschaft der Mannesjahre von neuem angeschlossen.

Dieser Kooperator Eidherr nahm den jungen Dieter gern als seinen Zögling auf.


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