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XX.

Es war ein schamloses Treiben, das jetzt auf Schloß Schönblick seinen Anfang nahm. Irma, die des Mannes seit Monaten entbehrt hatte, kannte keine Rücksicht mehr. Und Rolf lag völlig in den Banden des jungen, sinnenstarken Weibes, das mit dem eben flügge gewordenen Bruder des unglücklichen Gatten die wildesten Orgien feierte.

An jedem Nachmittage sah man die beiden hinausfahren in den Tannenwald, wo Irmas Liebestempel wieder zu Ehren kam. Die Herrin von Schönblick, die Gebieterin von Millionen, kümmerte sich nun nichts mehr um das Gerede der Leute. Das ganze Personal des Schlosses vom Verwalter bis hinunter zum Stallburschen sprach laut und offen über Irmas Lebenswandel und zog den Namen ihres Gatten und den ihres Vaters in den Kot. Und mit stillem Wohlgefallen betrachtete Frau Baumann diese Wendung der Dinge, welche die Millionärin von Tag zu Tag fester an ihre Familie band. Ob das Rolf war oder Ewald, bei dem Irma die Befriedigung ihres ungezähmten Liebesdranges fand, das war Frau Baumann im Grunde genommen gleich, wenn nur ihre Herrschaft über das Schloß und die Nutznießung der Langschen Millionen gesichert blieben.

Seit der Testamentseröffnung hatte diese schlaue Frau ihr Vorgehen geändert. Vier Millionen Gulden, das war doch etwas anderes, als die Einnahmen Ewalds und die Einkünfte aus den zu dem Schlosse gehörigen Ländereien. Hatte sie früher an eine standesgemäße Versorgung Rolfs durch eine reiche Heirat, an dessen Karriere als Offizier der Kavallerie gedacht, so waren ihre Pläne jetzt faßlicher, rascher und leichter erreichbar, kühner geworden.

Lang war tot, und Irma gehörte alles, was der Kommerzienrat einst sein eigen genannt. Die Leitung des Geschäftes war an Seliger, den künftigen Gatten ihrer Tochter Hilde, übergegangen, und Seliger hatte das Zeug dazu, sich von einem Verwalter des Bankhauses zu dessen Besitzer emporzuschwingen. Hilde, deren wahren Charakter sie seit der Verlobung mit dem reichen Juden von Tag zu Tag deutlicher zu erkennen glaubte, war ehrgeizig und habgierig genug, den schon stark entwickelten Geschäftssinn ihres zukünftigen Mannes anzustacheln, und gerade infolge dieses Verhältnisses kam für sie alles darauf an, ein Mittel ausfindig zu machen, um Irma, die sich die Besitzerin all dieser Schätze nannte, aufs neue an sich und ihre Familie zu ketten.

Freilich das Kind, der kleine Chlodwig, wie man ihn in der Taufe genannt hatte, der so vergnügt mit den dicken Beinchen in seiner Wiege strampelte, der würde dereinst Irmas Rechtsnachfolger, der würde der gesetzliche Erbe des Schlosses und der Millionen sein. Aber der Kleine zählte erst drei Monate, und Irma war jung.

Auf Ewald, den man zum Narren gemacht, auf den geistig und sittlich Toten, war nicht mehr zu rechnen. Da kam Rolf zur rechten Zeit, um sich in das fertig gemachte Nest zu setzen, Irma zu umgarnen und an sich zu reißen, wenn dies auch am Ende auf Kosten seiner Moral und ganzen Zukunft geschah. Aber was lag an der Moral, was lag an der Zukunft, wenn es ein Schloß und den Besitz von vier Millionen Gulden galt?

Die beste Partie, die doch immer noch in weiter Ferne lag, die glänzendste Karriere konnten diese herrliche Aussicht, die mehr als das, die schon jetzt fast ein fester Besitz war, nicht wett machen. Nein, Irma sollte sich an Rolf hängen, und Rolf an sie. Denn Rolf hatte das Temperament seiner Mutter geerbt. Er verstand es, zuzugreifen, rücksichtslos und ohne Skrupel; daß er das verstand, hatte er ja schon in den ersten Tagen seines Aufenthaltes auf Schloß Schönblick gezeigt.

Was konnte sich nicht alles ereignen, ehe der kleine Chlodwig auch nur das erste Lebensjahr vollendet hatte? Ewald konnte sterben, Irma sich wieder Mutter fühlen, dann war sie Witwe und, wie damals an den Verführer, an Rolf gebunden. Und Rolf hatte den Charakter, die Aussicht auf eine glänzende Karriere dem sicheren Besitze dieses Weibes, das ihn toll machte, und der Millionen aufzuopfern. Er war der Mann, der noch am Sarge des Bruders um die Hand der schönen Witwe freien konnte, der auch Seliger und Hilde die Stange hielt.

Der würde einen anderen Schloßherrn von Schönblick abgeben, als der lächerliche Ewald, der würde die Millionen seiner Frau langsam aus Seligers Geschäfte herausziehen und sich allein in den Besitz all der Schätze, die Irma in ihren Händen hielt, setzen. Und seine Mutter würde der nicht vergessen.

Also hieß es mit frischem Mute die beiden Augen zudrücken, den jungen Leutchen ihren Willen lassen, denn die nicht unwahrscheinlichen Folgen dieses mit unglaublichem Zynismus und rücksichtsloser Frechheit vor den Augen aller Welt in Szene gesetzten Verhältnisses zwischen Schwager und Schwägerin würden die Millionärin aufs neue rettungslos in Frau Baumanns Hände bringen.

Wie eine Blinde and Taube ging diese Mutter durch das Schloß. Sie sah nichts von dem offenen, wilden Ehebunde, den Irma ohne jeden Bedacht bereits acht Tage nach Rolfs Ankunft mit diesem eingegangen, sie sah nichts von den frechen Blicken der Dienerschaft, mit denen diese das Liebespaar maß, sie hörte nichts von dem Klatsch und dem Getuschel, das alle Räume des Schlosses durchdrang, von dem ehelichen Schlafzimmer, das Irma dem Geliebten schamlos geöffnet hatte, bis zu den Bodenkammern der Gesindewohnungen, in denen die Pferdeknechte und die Schweizer hausten.

Denn sie wollte nichts sehen und nichts hören, nichts, als die Millionen, die in dem Bankhause Adolf Lang in der Stadt festlagen, und die Rolf, ihr Rolf, der als sieghafter Eroberer seinen Einzug auf Schloß Schönblick gehalten, Seliger und Hilde entwinden sollte.

Ja, wenn ihr das alles einmal gar zu toll erschien, wenn Irma sich draußen im Parke, im Wagen angesichts des Kutschers von Rolf umarmen und küssen ließ, dann bekämpfte sie die Empörung, die manchmal trotz allem ihr Herz beschlich, nicht über diese schmachvolle Liebschaft, sondern nur über die Offenheit, mit der sie betrieben wurde, und sie sagte sich, daß sie selber heute mehr denn je in Irmas Hände gegeben sei, daß Irma sie nicht mehr leiden mochte, und daß die kleinste Warnung ihrerseits ihre Entfernung von dem Schlosse und mithin das Ende ihres Einflusses auf diesen goldenen Traum von Macht, Größe und Reichtum bedeuten könne.

Denn unberechenbar war Irma seit dem Tode ihres Vaters geworden. Die Macht des Goldes hatte sie mit einem Schlage zu einem Dämon der Rücksichtslosigkeit gemacht. Sie war dazu imstande, der Mutter des Gatten und dem Geliebten den Stuhl einfach vor die Tür zu setzen, wie sie jeden Diener und jede Magd, deren Gebaren ihr nicht gefiel, auf die Straße warf.

Der Narr, wie Irma und Rolf den unglückseligen Gatten und Bruder ganz offen nannten, hatte jetzt bessere Tage. Seit dem Tode des Kommerzienrates, in dessen Folge sich auch Dr. Humbert völlig von der Behandlung des Kranken zurückgezogen hatte, waren Dr. Valentin und Frau Baumann in der Bewachung des einstigen Schloßherrn von Schönblick nachlässiger geworden. Eine Überraschung von Seiten Langs und seines Hausarztes war jetzt nicht mehr zu fürchten. Kein Mensch mehr auf der weiten Welt hatte ein Interesse an dem Armen, der hier, auf der Insel seines Parkes, von der eigenen Mutter und der eigenen Frau in Gefangenschaft gehalten wurde.

Auch das glänzende monatliche Honorar, das Frau Baumann aus Irmas Mitteln dem Arzte zahlte, vermochte den jungen Valentin auf die Dauer nicht an das Schloß zu fesseln. Er haßte die Eintönigkeit des Landlebens, die er nun schon seit Monaten ertrug.

Was sollte er hier mit seinem Gelde anfangen? Hier, wo es keine Wirtshäuser und keine Tanzlokale, keine Karten und keine Weiber gab? Ein wahrer Hunger nach der Stadt bemächtigte sich bald seines ganzen Wesens, und von Woche zu Woche kam es öfter vor, daß er seinen Patienten dem handfesten Wärter überließ, und für Stunden, oft aber auch für ganze Nächte dem Schlosse den Rücken wandte und den langentbehrten Genüssen des städtischen Lebens nachging. Für solche Fälle hatte Werner, der Wärter, den strikten Befehl, Ewald Handfesseln anzulegen, damit im Falle eines Tobsuchtsausbruches eine Gefahr für den Kranken und dessen Umgebung ausgeschlossen sei.

Fast täglich führte Irmas schmähliche Rachsucht das Liebespaar auf den einsamen Wegen des nun in neuer Frühlingspracht erstandenen Parkes vorüber an dem Teiche und der Insel, wo sich der zum Idioten Gestempelte in den warmen Strahlen der herrlichen Maitage sonnte. Es bereitete ihr eine grausame Lust, die feurigen Küsse, die Rolf mit ihr tauschte, von Ewald beobachtet zu wissen, denn sie kannte die Macht, die sie einst über diesen Schwächling ausgeübt hatte, und sie täuschte sich nicht in der Meinung, daß Ewalds Herz trotz allem angesichts der Gunstbezeugungen, die sie offen und vor aller Welt seinem Bruder schenkte, von einer rasenden Eifersucht ergriffen werde.

Gerade gegenüber der Insel stand am Ufer des nun wieder von grünen Schlingpflanzen fast völlig überwucherten Teiches eine Bank. Diese hatte sich Irma zum Lieblingsplätzchen erkoren, denn auf diese Bank mußten Ewalds Blicke fallen, ob er nun im Freien oder hinter dem starkvergitterten Fenster des Pavillons saß.

Und hier vor den Augen des Gatten setzte sie ihr schändliches mit Rolf im Schlosse begonnenes Liebesspiel fort. Hier warf sie sich dem in wenigen Wochen durch ihre tolle Liebesgier entnervten Jüngling in die Arme und starrte mit den großen schwarzen, weitgeöffneten Augen hinüber auf die Insel, ob der Idiot am Fenster stehe, ob er nicht aus der Tür des Pavillons herausträte und mit ansähe, wie sie seinen Namen und seine Ehre zum zweiten Male, und diesmal mit seinem Bruder, in den Kot trat.

Und Rolf war's zufrieden, denn auch er haßte den Bruder, der ihn immer als dummen Jungen behandelt, und dem die Millionen in den Schoß gefallen waren.

So hatten sie es vier Wochen lang an jedem Tage getrieben. Das war Irmas Rache an Ewald, der sie verschmäht, der sie geschlagen und mit Füßen getreten hatte. Er sollte, er mußte mit ansehen, wie sie ihn jetzt täglich, stündlich mit diesem Jungen, dem die Barthaare noch nicht wachsen wollten, betrog!

Und Ewald sah alles.

Ein angenehmes Gefühl des Gruselns beschlich Irma, wenn der Idiot mit den gefesselten Händen drüben auf der Insel erschien oder, wenn er, umhergeführt wie ein wildes Tier, von Valentin begleitet und von Werner gefolgt, über die Wege des Parkes an ihnen vorüberschritt, das nichtssagende Lächeln des Narren um die schmalen Lippen, im Auge eine verzehrende Glut, von der man nicht sagen konnte, ob sie den Beginn der Tobsucht oder den letzten Rest der auch in dieser Seele schlummernden und aufs höchste gereizten Leidenschaft eines klaren Verstandes in sich barg.

Denn gleichgültig und stumpf, die Augen starr vor sich hin gerichtet, schritt Ewald vorüber an dem Liebespaare, geleitet von seinen beiden Peinigern, Furcht vor der Zwangsjacke, vor der kalten Dusche und den Massagen, vor den Fesseln und den Fäusten des Wärters in seiner Seele, aber den heißer und heißer brennenden Durst nach kühlender, furchtbarer Rache im Herzen!

Die Versuche, Valentin und Werner von der Gesundheit seines Gehirnes zu überzeugen, hatte der Unglückliche längst aufgegeben. Wochen waren verstrichen, seitdem er das letztemal ein Wort mit Dr. Valentin und dem Wärter gewechselt hatte. Ein Tag verrann wie der andere. Er fügte sich in alles, gab keinen Laut von sich und spähte um sich nach einer Gelegenheit, die ihm eine Flucht von der Insel ermöglichen könne.

Bei schönem Wetter saß er meist den ganzen Vormittag grübelnd und leise mit sich selber redend, auf einem Sessel im Freien auf der Insel und sonnte sich. Dort harrte er der Stunden, da sich das Liebespaar drüben in der hohen Edelkastanienallee zeigte und durch diese nach dem Ufer des Teiches hinunterschritt.

Mit den Resten seines Frühstücksbrotes fütterte er gleichgültig die weißen Pfauen, die hier auf dem Dache des Pavillons ihren Futterplatz hatten. Und während dieser Beschäftigung glitten seine Augen hinüber zu Rolf und Irma, deren Kosen und Küssen er mit scharfen Blicken beobachtete.

Freilich die verzehrende Glut dieser Blicke konnten die beiden drüben nicht bemerken, ebensowenig wie das flammende Rot, das seine Wangen bedeckte!

Es war die stille Mittagsstunde, wenn Knechte und Mägde zum Essen gegangen waren, wenn drinnen im Schlosse alles seine Arbeit hatte, die sich Irma zu dieser Qual Ewalds auserkoren. Dann saß der Kranke allein, an den Händen gefesselt, auf der Insel, Werner speiste mit der Dienerschaft, und Valentin pflegte seinen Frühschoppen in dem Städtchen zu machen. Nichts regte sich zu dieser Zeit in der Nähe des Teiches, nur der Wind spielte mit dem hohen Schilfe, und die Wasserfrösche sprangen mit lautem Gequake aus dem Ufergrase in die trübe blatt- und blütenbedeckte Flut, wenn sie der Schritt der Liebesleute aus ihrem mittäglichen Schlummer weckte.

Dieser Stunde harrte Ewald, Tag für Tag! Am Nachmittage war er dann nicht mehr zu sehen, dann zog er sich hinter die Gitterfenster in das Innere des Pavillons zurück und durchsuchte mit den nun von den Handschellen befreiten Händen die Schublade seines Tisches, in der einst die von Irma verbrannten Blätter seiner Oper »Das Sonnenmädchen« gelegen hatten.

Auch des Nachmittags und des Abends war er jetzt öfters allein. Valentins Ausflüge nach der Stadt wurden häufiger von Woche zu Woche, und der Krankenwärter schien an den schönen Frühlingsabenden bessere Gesellschaft, als die seines schweigsamen Patienten zu suchen.

Frau Baumann kam niemals nach der Insel. Wenn Werner gegen Abend ging, um erst spät in der Nacht in den Pavillon zurückzukehren, legte er das Vorlegeschloß vor die Tür und schloß ab. Dann war Ewald in der Tat eingekerkert wie ein Zuchthäusler in der Zelle. An eine Flucht war zu dieser Zeit nicht zu denken. Außer dem Kunstschloß sicherten schwere eiserne Stangen die Tür, und die Fenster waren vergittert. Der Nachen lag am jenseitigen Ufer des Teiches, dessen Wasser jede Verbindung der Insel mit dem übrigen Teile des Parkes, dem Schlosse, den Wirtschaftsgebäuden und deren Bewohnern abschnitt.

Und als wenn es das Wichtigste von der Welt zu finden gälte, kramte Ewald in der Schublade seines Tisches. Waren doch nun seine Hände frei, hatte er doch jetzt Werners wachsames Auge und den schielenden Blick des von Frau Baumann besoldeten Arztes, die Zwangsjacke, die Duschen und Massagen nicht zu fürchten!

In diesen Stunden hatte der Idiot seinen Verstand beisammen, und in der stillen, aber festen Hoffnung, daß ihm der Zufall eines Tages die Entfernung von der Insel ermöglichen werde, bereitete er hier ein Entsetzliches, ein Furchtbares, ein Letztes vor!

Verborgen unter einem Wust von Papieren, den niemand durchzusehen sich die Mühe genommen, verwahrte er hier in der Schublade des Tisches jenes Messer, das er sich einst bei seiner Flucht aus dem Schlosse, um das dicke Notenpapier für seine Oper damit zu schneiden, mitgenommen hatte. Es war ein langes Ding mit einer schmalen Klinge und einem kurzen, festen, hölzernen Stiel. Auf einem nassen Sandsteine, den er auf der Insel am Rande des Teiches gefunden, hatte er es haarscharf geschliffen, und oftmals in wilder seelischer Qual liebäugelte er mit dem Gedanken, daß ihm diese furchtbare Waffe einstmals den letzten Dienst erweisen könne, daß es eine Kleinigkeit sei, sich mit dieser Klinge den Hals oder die Pulsadern zu durchschneiden, und daß dann alles Leiden mit einem Schlage ein Ende habe!

Aber immer war er wieder, als ob er noch so etwas wie eine Mission auf dieser Erde zu erfüllen habe, vor diesem letzten Schritte zurückgeschreckt!

Und da, eines Abends, als der Frühlingssturm in den hohen Wipfeln der Edelkastanien, der Silberpappeln und Tannen des Schlosses sein Spiel trieb und ihm keine Ruhe ließ, da stand er an dem vergitterten Fenster seines Pavillons und hörte, wie sich der Nachen mit Werner der Insel näherte. Und plötzlich durchzuckte ihn ein Gedanke, der ihn nicht wieder lassen wollte, auf dessen kluger Ausführung er seinen Plan, von der Insel wegzukommen, erfolgreich aufbauen wollte.

Zum ersten Male seit Wochen redete er Werner, dem gegenüber er sich immer in tiefes Schweigen gehüllt hatte, an diesem entscheidenden Abende an. Als der Wärter den Pavillon betrat, ging Ewald auf ihn zu, und ganz so wie in gesunden Tagen begann er harmlos mit dem vor ihm stehenden Manne zu plaudern.

Aber alle seine Versuche, Werner zum Reden zu bringen, scheiterten. Mit lallender, von einem sonderbaren Glucksen unterbrochener Stimme, sprach der Wärter ein paar unverständliche Worte, deren Sinn Ewald nicht zu fassen vermochte. Auf einmal ward ihm die Erkenntnis, der Mann da, dem man seine Bewachung anvertraut hatte, war sinnlos betrunken, und augenblicklich erleuchtete es wie ein Strahl des Himmels sein Gehirn: »Das ist der Zufall, der dir zu Hilfe kommt, und der dir für diese Nacht die Möglichkeit der Flucht, die langersehnte Freiheit gibt.«

Gleich nach seinem Eintritt hatte sich Werner auf das Sofa geworfen. Nun begann er zu schnarchen. Die Tür des Pavillons stand auf, die Nachtluft drang in den von einer schlichten Petroleumlampe erhellten Raum, und das Quaken der Frösche im Teiche, das leise Plätschern der Wellen traf Ewalds Ohr, wie einst damals vor knapp einem Jahre in seiner Hochzeitsnacht, da er wie ein unerfahrener Schulbube das Eintreten Irmas erwartet hatte.

Irma! Wie ein Schulbube! Rolf und sein Weib standen da leibhaftig vor seinen Augen.

Wie zündende Blitze schossen seine Blicke, und in schwerem, keuchendem Atem rang seine Brust, als er sich nun dicht vorbei an dem schlafenden Wärter nach dem Tische schlich und das unter dem Papierhaufen verkramte Messer an sich nahm. Er barg dieses in der inneren Brusttasche seiner Joppe, und ein satanisches Lächeln auf dem furchtbar verzerrten Gesichte, noch einen letzten Blick auf den schnarchenden Werner werfend, stahl er sich lautlos wie ein Schatten durch die offenstehende Tür hinaus ins Freie.

Atemlos lauschend löste er nun den Strick, mit dem der Kahn an einem Pflocke des Ufers festgelegt war.

Drinnen in dem Pavillon regte sich nichts. Werners von dem reichlich genossenen Alkohol umnachtete und in tiefem Schlafe ruhende Sinne vernahmen nichts von den leisen und vorsichtigen Ruderschlägen, mit denen jetzt der Narr den Kahn nach der Mitte des Teiches trieb.

Erst dort wagte Ewald, das Boot mit kräftigerem Schlage vorwärts zu rudern, denn der Gedanke, daß Werner nun durch das Wasser von ihm abgeschnitten sei, gab ihm mit einem Male eine wunderbare Sicherheit.

Nach drei Minuten erreichte er den Rand des Teiches. Nun stand er an der Bank, auf der er Irma und Rolf so oft beobachtet hatte, und jetzt betrat sein Fuß die Allee, die, von hohen Edelkastanien gebildet, von dem Teiche in gerader Richtung nach dem Hintertore des Schlosses führte.

Es war eine finstere, sternenlose Nacht, so dunkel in dem von hohen Bäumen und dichtem Buschwerk bestandenen Parke, daß man nicht die Hand vor den Augen sehen konnte. Undurchdringliche Schatten lagen über dem Schlosse. Kein einziges Fenster der Hinterfront war erleuchtet, das ganze Haus schien wie ausgestorben.

Was hatte man heute vor? Waren am Ende alle Insassen des Herrenhauses in der Ferne, war man aus irgendeinem Anlasse gemeinsam in die Stadt gefahren?

Ein lähmender Schrecken überkam Ewald im ersten Augenblicke bei diesem Gedanken, und dann gleich wieder ein seltsames Gefühl jauchzender Freude!

Am Ende, wenn sich niemand in dem Schlosse befand, konnte er dann durch das Seitentürchen, das dicht neben dem Schlosse auf die Straße führte, hinaus gelangen, konnte in die Stadt fahren und sich dort vor seinen Verfolgern und Peinigern in Sicherheit bringen!

Aber, als er im Schatten der hinteren Schloßmauer, geduckt wie ein Raubtier, das auf nächtlichen Fang ausgeht, einherschlich, und nun um die Ecke des mächtigen Gebäudes bog, da bemerkte er Licht in dem ersten Stockwerke des Schlosses, wo Irmas Gemächer lagen.

Der Gedanke an seine Flucht in die Stadt und an seine Freiheit war sofort verflogen. Alles, was er suchte, woran er blutige Rache nehmen wollte, würde er dort oben finden – Irma, Rolf und das Kind!

Ein Windstoß fuhr durch die Kronen der hohen Edeltannen, die gerade an dieser Stelle des Schloßparkes dicht neben dem Gebäude standen, und Ewald duckte sich erschreckend vor dem doch wohlbekannten Geräusche, als ob man ihm schon auf den Fersen sei.

Einige Minuten kauerte er regungslos unter einem Kirschlorbeerstrauche, bis er sich überzeugt hatte, daß nichts als der Wind die tiefe nächtliche Ruhe störte, die seltsam, grauenhaft über dem Parke, dem Schlosse und allen seinen Bewohnern lag!

Jetzt schlug die Uhr von dem Kirchturm des nahen Städtchens, und der Wind trug die Töne hell und klar zu seinem Ohre herüber. Er zählte elf harte, klingende Schläge, eine Stunde vor Mitternacht.

Da kroch er aus seinem Verstecke, das er sich unter dem Strauche gesucht hatte, wieder hervor, und, auf den Zehen schleichend, erreichte er im tiefen Schatten der das Schloß unmittelbar umgebenden Rosenrabatten die von einer einsam brennenden Laterne erleuchtete große Freitreppe, die hinauf zu der Tür des Speisesaales im Erdgeschoß führte.

Auch im Speisesaal brannte noch ein einsames Licht.

Eine Minute zögerte er. Er lugte mit scharfem Auge durch die hohe Glastür der großen Veranda. Der Speisesaal war leer.

Und da – er mußte den Schrei seiner teuflischen Freude unterdrücken – die große Flügeltür, die in den Saal führte, war unverschlossen.

Offenbar waren die Herrschaften in die Stadt gefahren. Offenbar hatte Frau Baumann den Auftrag erteilt, diesen Haupteingang bis zu ihrer Rückkehr offen und Licht brennen zu lassen.

Doch da überkam ihn wieder ein furchtbarer Gedanke! Wenn es allüberall im Schlosse so leer und einsam war wie hier?! Wenn ihn das Licht in Irmas Gemächern getäuscht hätte, dann war das Werk seiner Rache vereitelt, dann war seine Flucht vergeblich gewesen, dann hätte er klüger getan, gleich jetzt das Freie zu suchen und sich in der Stadt in Sicherheit zu bringen. Denn am folgenden Morgen, vielleicht noch im Verlaufe dieser Nacht, würde man ihn, ohne daß er seine Tat zur Ausführung gebracht hätte, ergreifen und wieder in Fesseln legen.

Aber von seinem Dämon vorangetrieben, öffnete er trotz allem die Tür des Speisesaales und gewann von hier aus die zu dem ersten Stockwerke hinaufführende Treppe.

Still und einsam war es auch hier.

Und nun stand er droben vor Irmas Schlafzimmer.

Die kostbare, aus schwarzem Ebenholz geschnitzte, mit Goldleisten und Perlmuttermosaik geschmückte Tür zog ihn magnetisch an. Der hohe Smyrnaläufer, der durch den Gang nach dieser Tür führte, dämpfte seinen Schritt. Ob Irma so leichtsinnig war, diese Tür offen zu lassen? Vielleicht, weil sie Rolf erwartete? Ob er in Ruhe eintreten und sie am Ende schon im Bette überraschen konnte, in Rolfs Armen, mit dem sie vor seinen Augen gegenüber der Insel ihr freches Liebesspiel getrieben?

Irma in Rolfs Armen hier in diesem Zimmer, vor dessen Türe er nun stand! Eine Wolke von Dunst und Blut stieg da plötzlich empor vor seiner wild erregten Phantasie, und keines vernünftigen Gedankens mehr fähig, drückte er auf die Klinke.

Die Tür gab nach. In dem herrlichen, mit prächtigen Wandgemälden geschmückten Zimmer brannte Licht. Das große zweischläfrige Prunkbett war aufgeschlagen und leer. Irma war noch nicht zur Ruhe gegangen.

Aber daß sie in der Tat noch immer hier schlief, daß ihn sein verbrecherischer Spürsinn nicht irregeführt hatte, dafür zeugte das wohlige, ihm an ihr so gut bekannte Parfüm, eine Mischung von Heliotrop und Moschus, das diesen Raum durchwehte. Dafür zeugten die zahlreichen Toilettegegenstände, die auf den Möbeln umherstanden und -lagen, und endlich die Vorbereitungen, die die Zofe für die Nachtruhe der Herrin von Schloß Schönblick getroffen hatte!

Ein leichter Vorhang aus sonnengelber Seide trennte in diesem Zimmer den Schlafraum mit dem dem achtzehnten Jahrhundert entstammenden Prunkbett im Stile Louis quinze von einer wundervollen, in weißem Marmor ausgeführten Kabine, wo Irma jeden Morgen und jeden Abend ein warmes Bad zu nehmen pflegte.

Er kannte diese ihre Angewohnheit aus seiner Ehe. Wie oft hatte er sie hier selbst mit seinen eigenen Augen, eine leibhaftige Venus, in die marmorne Badewanne steigen sehen, aus der sie dann, eingehüllt in den Bademantel, auf ihn zugekommen und in seine Arme auf das Prunkbett gesunken war!

Wenn sie diese Gewohnheit beibehalten hätte, wenn sie jetzt Rolf wie ihm einst diese Schaustellung ihrer Reize bereitete – dann – –

Da wurden Schritte laut – draußen auf dem Gange, und wie ein Schatten huschte Ewald hinter den Vorhang in die Kabine, wo in der Tat das Bad für die Herrin von Schloß Schönblick bereitstand.

Atemlos lauschte er in seinem Verstecke. Es wurde wieder still. Er sah nichts, als das Marmorbassin mit dem nach Heliotrop duftenden heißen und dampfenden Wasser, dessen Dünste ihm den Atem benahmen. Sein Ohr vernahm nichts. Fast eine Viertelstunde verrann. Er hatte in derselben Haltung, dicht hinter dem Vorhang stehend, ausgehalten. Kein Glied hatte er gerührt, nicht mit den Lippen und nicht mit den Fingern gezuckt, denn jede voreilige Entdeckung hätte am Ende das Werk seiner Rache vereitelt!

Da plötzlich vernahm er Irmas Stimme. Hell und deutlich drangen die Worte an sein Ohr:

»Sie können zu Bett gehen, Marianne, ich werde mir allein helfen. Frau Baumann und der junge Herr scheinen die Nacht in der Stadt zu verbringen. Sie werden sich eben auf Fräulein Baumanns Hochzeit zu gut unterhalten.«

Ein leises Knistern ging von dem sonnengelben, seidenen Vorhang aus. Ewald war in seinem Versteck zusammengefahren, aber Irma bemerkte es nicht.

Hildes Hochzeit mit Seliger, fuhr es durch seinen Kopf. Dann aber lauschten seine gespannten Sinne wieder den Vorgängen im Zimmer. Er hörte, wie Irma mit leiser Stimme die Melodie eines Walzers vor sich hinsang, er vernahm das Knistern ihrer seidenen Röcke, die sie abzulegen schien.

Da knarrte das Bett, auf dessen Rand sie sich offenbar niedergesetzt hatte, um sich der Schuhe und Strümpfe zu entledigen.

Zitternd, den kurzen Stiel des scharfgeschliffenen Messers mit der Rechten krampfhaft umklammernd, stand er da, in furchtbarer Verfassung des Augenblickes gewärtig, da Irma den Vorhang zurückschlagen würde, um in das Bad zu steigen!

Er fühlte, wie sie sich der Kabine näherte! Jetzt, jetzt kamen ihre kleinen Schritte auf den Vorhang zu, und nun erfaßte ihre Hand die seidene Schnur, die diesen zusammenhielt, und nun – – –

Ein einziger, gellender, furchtbarer Schrei unterbrach die tiefe nächtliche Stille des Schlosses! Dann hatte Ewald das nackte, wehrlose Weib auf das Prunkbett niedergeworfen und mit einem tiefen, gräßlichen Schnitte trennte er den herrlichen schwanenweißen Hals von dem wundervollen Körper! Bis auf den Wirbel ging dieser Schnitt, und ein springender Strom hellen, warmen Blutes ergoß sich über sein Gesicht und seine Hände und rieselte über das weiße Linnen des Prunkbettes, bis es seinen Weg auf den mattblauen Inderteppich, der den Boden des Schlafgemaches deckte, fand.

Nur ein einziger Schrei, den sie beim ersten Anblick des Rächers ausgestoßen, hatte sich Irmas Lippen entrungen, dann war alles totenstill! – War Ewald in dieser Stunde wirklich zum Narren geworden, hatte er diesen grausigen Mord tatsächlich in einem Anfall des Wahnsinns verübt? Man erfuhr es nie!

Als sich das Dienstpersonal des Schlosses, das gerade im ersten Schlummer gelegen, endlich aufraffte und zusammenrannte, floh der blutbesudelte Mörder in das Dunkel des Parkes und verschwand. Männer mit Windlichtern folgten seinen Spuren, die sich in der pechschwarzen Nacht, die seinem Verbrechen so günstig gewesen, bald wieder verloren.

Am nächsten Morgen, als Frau Baumann und Rolf von Hildes Hochzeit, die man wegen der Trauer um Lang bis zum Mai verschoben hatte und an der Irma zu ihrem Verderben aus Rücksicht auf die Leute wegen dieser Trauer nicht teilgenommen hatte, zurückgekehrt waren, trieben die Wellen des Teiches die Leiche Ewalds an das Ufer der blütenüberwucherten Insel.

Dort lag der vom Wasser aufgetriebene Körper in hellem Sonnenlichte des jungen Maientages, ein gräßlicher Anblick, ein furchtbarer Zeuge des unerhörten Verbrechens, dessen Schauplatz das Liebesnest gewesen war.

 

Ende.

 


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