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XVIII.

Es war ein paar Wochen später.

Frau Seliger traf schon die Vorbereitungen zu der Hochzeit ihres Sohnes Harry mit Hilde Baumann, die kurz nach Ostern stattfinden sollte, damit das junge Paar die schönste Zeit des wiedererwachenden Frühlings für seinen Aufenthalt in Paris habe. Rolf hatte das Oberprimanerzeugnis in der Tasche und war endlich von dem Gymnasium befreit. Paulchen war in der Tat glücklich nach Untertertia gekommen.

Von Frau Baumann trafen die Nachrichten über das Befinden Ewalds sehr spärlich bei dem Kommerzienrate ein. Dr. Valentin, den sie sich zum Leibarzte ihres Sohnes erkoren, war schlau genug, seinen Kollegen Humbert nicht in seine Karten sehen zu lassen, denn von einer möglichst langen Behandlung und Beobachtung des Patienten hing für ihn jetzt alles ab. Er fühlte sich wohl auf dem Schlosse in nächster Umgebung dieser Frau, die ihm goldene Berge versprach und ihm jeden Wunsch von den Augen ablas, er, der mit seiner Praxis in der Vorstadt kaum das tägliche Brot und die Miete für seine bescheidene Junggesellenwohnung hatte verdienen können.

Im rechten Augenblicke hatte sich Frau Baumann seiner erinnert, der ein entfernter Anverwandter, ein Sohn ihrer schlecht verheirateten und früh verstorbenen Kusine war.

Leopold Valentin hatte schon als Gymnasiast und dann als Student des Lebens Härten gründlich erfahren.

Julie Schindler, Valentins Mutter, die ein hübsches Mädchen gewesen, hatte, achtzehnjährig, so etwas wie eine Mesalliance gemacht. Ihr Mann, der Vater des jungen Arztes, hatte als Kaufmann kein Glück gehabt. Trotz aller Anstrengungen war es ihm nicht gelungen, sich und seine Familie über Wasser zu halten. Zuletzt hatte er es noch mit einem Wachsfigurenkabinett versucht, in dessen medizinischer Abteilung der Sohn seine ersten Studien gemacht hatte. Aber auch die anatomischen Modelle wanderten in die Hände des Auktionators, und eines Tages fand man den alten Valentin in einem Graben des Stadtwaldes. Er war tot. Ob er sich ein Leid angetan, ob er im Delirium in den Graben gelaufen und dort ertrunken war, Genaues war nicht festzustellen.

Des Jungen hatte sich damals ein entfernter Verwandter von außerhalb angenommen und ihm so die Möglichkeit, das Abiturientenexamen zu machen, verschafft.

Dann war er auf die Universität gezogen, um Medizin zu studieren. Mit wessen Mitteln er das fertig gebracht, wußte kein Mensch. Aber man behauptete, daß er in München ein Verhältnis mit einer Kellnerin unterhalten, daß er dieser die Ehe versprochen und von deren Trinkgeldern die Kosten seines Unterhaltes bestritten habe.

So war er denn vor einigen Jahren als praktischer Arzt wieder in der Heimat aufgetaucht.

Als seine entfernte Verwandte Frau Baumann, die sich ihr Lebtag nicht um ihn gekümmert hatte, und von der er wußte, daß sie zu dem reichen Lang in allernächste verwandtschaftliche Beziehungen getreten war, ihn in seiner Vorstadtwohnung aufgesucht hatte, war er maßlos erstaunt gewesen. Aber nachdem sie den Fall mit ihm besprochen, wußte er, was hier seines Amtes war.

Ewald hatte seine Frau mißhandelt, er war dabei in eine Art von Raserei verfallen, die einem Tobsuchtsanfall verblüffend ähnlich sah. Der Bestand der reichen Heirat, der Besitz des Schlosses, Langs Millionenerbschaft und Hildes Zukunft standen hier auf dem Spiele. In Frau Baumanns Interesse lag es also, an der Zurechnungsfähigkeit des Sohnes, an dessen freier Willensbestimmung zu zweifeln! Diese Zweifel wissenschaftlich zu stützen, war er hierher gerufen worden, und seine Aufgabe war es, den Kollegen, die man eventuell noch konsultieren würde, die Symptome einer beginnenden geistigen Umnachtung an Ewald klarzumachen.

Was die anderen Menschen Gewissen nannten, das kannte Leopold Valentin nicht. Während seiner Lehr- und Wanderjahre war er dermaßen umhergestoßen worden, hatte er so oft den wermutreichen Becher des bettelarmen Studenten bis zur Neige trinken, hatte sich so häufig demütigen müssen, daß ihm nun der gleißende Schein des in Frau Baumanns Händen winkenden Goldes allen Skrupel und jede Besinnung nahm.

Lang war vielfacher Millionär. Die Zinsen, die dieser Mann an einem einzigen Tage vereinnahmte, hätten ausgereicht, um ihn ein Jahr lang über Wasser zu halten, sie hätten ihn zu einem anständigen und gewissenhaften Menschen, zu einem Arzte, wie er sein sollte, gemacht.

Nun, er hatte diese Zinsen eines einzigen Tages, über die Irma dereinst verfügen würde, nicht gehabt. Und weil er sie nicht gehabt, weil man ihn mit neunzehn Jahren ohne einen Pfennig Geld in der Tasche, einen Proletarier der Wissenschaft, vor den harten Kampf mit dem Leben gestellt hatte, war er schon als Student der Medizin der geworden, der er noch heute war, als der er Ewalds Untergang zum Nutzen Frau Baumanns und zu seinem eigenen Vorteil systematisch zu betreiben entschlossen war.

O, nicht allein von den Trinkgeldern seiner Zenzerl hatte er in München schon als krasser Fuchs gelebt. Einen geborenen Verbrecher hatte ihn einst sein Klassenlehrer nicht umsonst in wildem Zorne genannt, da er einen seiner Mitschüler um die richtige Lösung einer schwierigen mathematischen Aufgabe mit allem Raffinement betrogen hatte! Die Zenzerl war ein fesches Mädel gewesen und schlau genug, ihre Huld nicht umsonst zu verschenken. Das hatte er gewußt und dennoch hatte er beide Augen zugedrückt, weil er, ihr Schatz, doch auch leben mußte. Den Freundinnen der Zenzerl hatte er hilfreichen Beistand geliehen, wenn es sich zeigte, daß die Liebe zu einem jungen Menschen nicht ohne Folgen bleiben wollte. Da war der Dr. Valentin für ein paar Silberstücke bei der Hand gewesen, und in dem Strudel der Großstadt waren die Spuren des medizinisch geschulten Helfers verschwunden, des Helfers verzweifelter Mädchen, die weder Lust noch Geld zur Mutterschaft hatten.

Ja, er hatte Glück gehabt, der junge Valentin. Selbst, da er Zenzerl sitzen gelassen und seiner Heimat wieder zugefahren war, hatte sich kein Kläger und kein Richter für all das, was er auf dem Kerbholz hatte, gefunden, und nun war er, wenn Ewalds Krankheit sich lange hinzog, ein gemachter Mann, und selbst wenn Ewald sterben sollte, hatte er eine Mitschuldige in Frau Baumann, die er wie eine Zitrone auszupressen entschlossen war.

Mit Dr. Humbert hatte er in den letzten Wochen nur eine einzige Unterredung gehabt. Er hatte es verstanden, dem alten Hausarzte des Kommerzienrates die Überzeugung beizubringen, daß Ewalds Zustand zunächst einer langen und unausgesetzten Beobachtung bedürfe, und daß man erst nach dieser, vielleicht nach Monaten, eine Diagnose stellen könne.

Im Interesse des Patienten selber und aus Rücksicht auf dessen Familie hatte er den Vorschlag Humberts, Ewald zu diesem Zwecke in einer Irrenanstalt unterzubringen, abgelehnt. Ein gewisses Vorurteil, so führte Valentin aus, bringe man einem Patienten, der einmal in einer solchen Anstalt gewesen, immer entgegen. Das sei aber in diesem Falle gar nicht nötig, da es ja hier die Mittel gestatteten, die ärztliche Beobachtung ganz im stillen vorzunehmen, und der Kranke in dem völlig vereinsamten Pavillon auf das beste und sicherste aufgehoben sei.

Da Humbert wußte, daß auch dem Kommerzienrate die Unterbringung seines Schwiegersohnes in einer Irrenanstalt sehr unsympathisch war, und er dem jungen und gewandten Kollegen sein volles Vertrauen schenkte, gab er nach. Er tat dies um so leichter, als er sich selber um Psychiatrie sein Lebtag nicht gekümmert hatte, und nun erfuhr, daß Valentin ein entfernter Verwandter von Frau Baumann sei.

So nahmen die Dinge zunächst den Frau Baumann erwünschten Verlauf, indessen draußen im Parke ein neuer Frühling seinen Einzug hielt, und drinnen in dem nach Valentins Anweisung mit Eisenstäben vergitterten Pavillon ein Verzweifelter mit dem furchtbaren Gespenste des ihm von der eigenen Mutter und einem gewissenlosen Arzte angedichteten Wahnsinns rang.

Hinaus in die Welt, hinüber über den Teich, durch das dichte Buschwerk des Parkes vermochte Ewalds schwache Stimme nicht mehr zu dringen. Wochenlang hatte er nun getobt gegen Valentin und gegen den Wärter, wochenlang hatte er seine Anklagen erhoben und sich heiser geschrien. Dann hatte man ihm die Zwangsjacke angelegt, einen Knebel in den Mund gesteckt, und nun mit einem Male war er still, völlig gebrochen.

Ein Stumpfsinniger, starrte er stundenlang vor sich hin. Nicht Frau Baumann und nicht Irma ließen sich in dem Pavillon sehen. Valentin und dem Wärter, die, wenn es ihnen nötig erschien, noch ein paar handfeste Gärtnerjungen zu ihrer Unterstützung herbeizurufen vermochten, war er allein auf Gnade und Ungnade preisgegeben. Und die Augen dieser beiden beobachteten ihn Tag und Nacht.

Hundertmal hatte er dem Wärter, hundertmal diesem Arzte, den er angefleht und angewinselt, vor dem er sich in die Knie geworfen, die Geschichte seines Verhängnisses erzählt.

Mit dem gleichgültigen Gesichte des Irrenwärters und -arztes hatten die beiden ihn angehört, aus dem er lesen konnte und lesen mußte: »Das sind eben die Symptome deiner Krankheit, die Phantasiegebilde, die dein Wahnsinn hervorgebracht hat,« und verzweifelt gab er endlich nach vielen Wochen jeden Versuch auf, seine Peiniger von der Klarheit seines Verstandes zu überzeugen, weil er dadurch seine Lage nur noch verschlimmerte.

Denn Zwangsjacke und Hungerkuren, kalte Abreibungen und Massagen wurden von Valentin nach solchen »Anfällen«, wie er Ewalds Erklärungen nannte, angeordnet. Und Ewald kannte die harte Faust des Wärters, der er, an Armen und Beinen gefesselt, willenlos sich überliefert sah.

Und endlich glaubte Valentin seinen Patienten mürbe zu haben. Er schrieb an Humbert, daß Ewalds Krankheit sich rascher entwickle, als er ursprünglich angenommen, daß sie allmählich in Blödsinn auszuarten scheine, und daß man vielleicht die Überführung des Kranken in eine Anstalt für Unheilbare ins Auge fassen könne. Dem widersetze sich allerdings Frau Baumann, die ihren Sohn, schon um des Geredes der Leute willen, lieber in nächster Nähe des Schlosses bis zu seinem Ende behalten wolle.

Humbert hatte infolge dieses Briefes eine Unterredung mit dem Kommerzienrat. Auch Lang war der Ansicht, daß Ewald ja dort unter ärztlicher Pflege gut aufgehoben sei, und daß man Irma den Schmerz ersparen müsse, den Mann, den sie geheiratet, und dessen Namen sie und das Kind doch trügen, im Irrenhause zu wissen.

Mit dieser Entscheidung Langs fuhr Humbert noch einmal nach Schloß Schönblick hinüber. Valentin riet ihm, die Beobachtung des Kranken am besten so einzurichten, daß er von Ewald selber nicht gesehen werde, denn jede Begegnung mit einem Fremden rufe einen neuen Tobsuchtsanfall des Patienten hervor. Zudem sei dieser in dem jetzigen Stadium seines Leidens unberechenbar und gefährlich, denn neulich hätte man dreier Leute benötigt, um ihn zu überwältigen.

Der alte Humbert, der auch für seine eigene Sicherheit fürchten mochte, ließ sich daher dazu verstehen, Ewald durch das Gitterfenster des Pavillons zu beobachten. Der Kranke, der auf dem Rande seines Bettes saß und fortwährend die Lippen bewegte, während die ausdruckslosen Augen stier in die Ecke des Zimmers gerichtet waren, machte nun in der Tat den Eindruck eines Idioten. Achselzuckend und kopfschüttelnd wandte sich Humbert ab.

»Dementia,« sagte Valentin.

»Sie haben recht, Herr Kollege,« erwiderte der Alte, »typischer Blödsinn. Ich werde dem Herrn Kommerzienrate und der Familie die traurige Wahrheit nicht vorenthalten können. Halten Sie es für nötig, den Herrn Kollegen Hirschberg noch als Dritten hinzuzuziehen?«

»Wenn Sie der Meinung und noch im Zweifel sind, dann allerdings ja, Herr Kollege,« sagte nun Valentin mit einem überlegenen Lächeln. »Ich bin in meiner Diagnose sicher! Für den Fall, daß es sich um die Frage einer Überführung in eine Anstalt für Unheilbare handelt, würde auch ich Hirschberg um einen Vorschlag bitten. Aber da die Familie sich diesem Plane widersetzt und bei den günstigen Isolierungsverhältnissen hier auf dem Schlosse man auch eine solche Überführung nicht für eine Notwendigkeit erklären kann, halte ich es bei der Aussichtslosigkeit des Falles für überflüssig, noch den Kollegen Hirschberg zu bemühen. Aber ganz, wie Sie meinen, Herr Kollege.«

Humbert stimmte Valentin zu und reichte ihm die Hand.

Mit dem nächsten Zuge fuhr er zurück in die Stadt, um Lang das traurige Ergebnis dieser Krankenbeobachtung mitzuteilen.

Schweren Herzens stieg der alte Dr. Humbert die Treppen empor, die zu dem im ersten Stockwerke des Langschen Bankhauses gelegenen Privatkontor des Kommerzienrates führten. Das, was er auf Schloß Schönblick gesehen, die Eisenbahnfahrt nach der Stadt und die Gedanken, die seinen Kopf erfüllten, hatten den alten Herrn weidlich angegriffen. Pustend machte er auf dem Absatz der Treppe halt und wischte sich mit einem großen, rotseidenen Tuche die Schweißperlen von der Stirn, die infolge der ungewöhnlichen Wärme dieses schönen Apriltages reichlich in sein Gesicht herniederrannen.

Seit nahezu fünfundzwanzig Jahren war er Hausarzt in der Familie Langs, ein Arzt der guten alten Schule, dessen Freundschaft und rücksichtsvolle Überredungskunst in vielen Fällen mehr zustande gebracht hatten, als die teuerste Badekur und die sicherste Diagnose.

Er gehörte zu den seltenen Leuten, die mit ihren Patienten und deren Angehörigen litten, die sich freuten, den richtigen Weg in der Behandlung eingeschlagen zu haben, und die sich Gewissensbisse machten, wenn ein Fall infolge ihrer Unvorsichtigkeit oder ihres Irrtums nicht die erhoffte und gewünschte Wendung nahm.

Was Humbert heute gesehen, hatte ihn tief erschüttert. Er war kein Psychiater, er war zu vertrauensselig, viel zu sehr Ehrenmann, als daß er an der Rechtlichkeit und Offenheit seiner Mitmenschen, insonderheit seiner Herren Kollegen vom Fach, gezweifelt hätte. Das bei Valentin im Laufe der Zeit an den Tag tretende sichere und weltgewandte Auftreten hatte die Bedenken, die er anfangs gegen diesen gehabt, zerstreut. Der junge Mensch sprach so bestimmt und erfahren über den traurigen Fall, der ihm zur Behandlung übertragen worden war, daß Dr. Humbert im Ernste an einen Einspruch gar nicht dachte.

Zudem, mit seinen eigenen Augen hatte er ja heute gesehen, welch entsetzlichen und verheerenden Fortschritt die furchtbare Krankheit Ewalds in den wenigen Wochen gemacht hatte. Den Versicherungen des Wärters, der es stündlich mit dem Wahnsinnigen zu tun hatte, den Ausführungen Valentins, der ihn in all den Wochen auf das genaueste beobachtet, schenkte er Glauben. Nun fiel ihm die schwere Aufgabe zu, dem Kommerzienrate, der ihn wie einen Freund behandelte, und den er selber als solchen schätzte und liebte, die traurige Mitteilung zu machen, daß der einzige Schwiegersohn unheilbarem, in Blödsinn ausartendem Wahnsinn verfallen sei. Lang konnte ja dann entscheiden, ob er noch einen dritten Arzt zur Feststellung dieser traurigen Tatsache heranziehen wollte oder nicht.

Als Humbert endlich in dem kleinen, ihm wohlbekannten Salon saß, der zu Langs Privatkontor führte, als er hier warten mußte, weil der Kommerzienrat mit einem Besucher geschäftlich zu verhandeln hatte, stiegen die Bilder der Vergangenheit aus dem Gedächtnisse des alten Herrn wieder empor.

Eigentlich war es Lang gewesen, dem er seine ausgedehnte und einkömmliche Praxis zu verdanken gehabt, Lang, in dessen Elternhause er bei dem alten Lederhändler schon als Freund und Hausarzt ein- und ausgegangen war.

Bei dem plötzlichen Glückswechsel, der die Vermögenslage des jetzigen Kommerzienrates durch den Tod des kinderlosen Onkels in Rosario betroffen, hatte Lang den Freund des elterlichen Hauses zu sich hinübergezogen. Und erst damals war es dem fast Fünfzigjährigen geglückt, durch Langs Vermittlung in die zahlungskräftigen Kreise hineinzukommen und durch ihn der Modearzt der alten Schule zu werden, von dem man väterlichen Rat und Zuspruch und in weniger gefährlichen Fällen eine individuelle Behandlung nach dem eigenen Geschmacke verlangte.

In dieser Art der Behandlung hatte sich Humbert als Meister erwiesen, und noch heute war der Vierundsiebzigjährige ein gern gesehener Freund, der als noch rüstiger Mann die näheren Besuche zu Fuße machte und überall den gewünschten Rat und das richtige Wort in der gegebenen Lage fand.

An Langs für ihn so segensreiche Freundschaft und an die sich allmählich für ihn infolge dieser glänzender und glänzender gestaltende Vergangenheit mußte er denken, als die Laute einer ziemlich erregt geführten Unterhaltung aus dem Privatkontor des Kommerzienrates an sein Ohr schlugen, trotz des dicken wollenen Vorhangs, der den kleinen Salon von der Arbeitsstube abschloß.

An einem Stehpulte war hier heute wie schon seit Jahren der Privatsekretär des Kommerzienrates mit Langs Korrespondenz beschäftigt. Ihm pflegte Lang seine persönlich unterzeichneten Briefe hier ins Stenogramm zu diktieren, und der in dieser Vertrauensstellung ergraute Küchler, den Humbert persönlich sehr gut kannte, schrieb sie dann auf die mit dem kommerzienrätlichen Monogramm geschmückten Briefbogen ins Reine.

Weder Dr. Humbert noch Küchler kümmerten sich darum, daß Lang drinnen in seinem Zimmer mit dem Herrn, den man gegen die Gewohnheit sofort vorgelassen, lauter, als er das sonst zu tun pflegte, sprach. In einem so großen, finanziellen Unternehmen kamen eben so mancherlei aufregende Verwicklungen vor, daß deren Beratung nicht immer im Flüstertone vonstatten gehen konnte.

Emsig arbeitete Küchler weiter, und Humbert ließ seine Gedanken spazierengehen.

Wie oft war der Doktor hier gewesen, da ihn Lang, als es am Anfang mit der vornehmen Praxis nicht so recht gehen wollte, durch einen Honorarvorschuß großmütig aus der Patsche gezogen hatte. Sonst hatten ja seine Besuche der Villa draußen in der stillen, vornehmen Straße gegolten. Da hatte er das erste und einzige Wochenbett von Langs schöner Frau geleitet, und Irmchen ans Licht der Welt gezogen, das dann viele Jahre lang sein Sorgenkind geblieben war. Trotz aller Anstrengungen hatte er da wenige Jahre nach Irmas Geburt die schöne Frau Lang dem Tode nicht entreißen können, und nun stand er hier, um demselben Manne, seinem Freunde, der damals den herbsten Schmerz erlitten, die furchtbare Mitteilung zu machen, daß der Schwiegersohn nach dem Gutachten des ihn behandelnden Arztes und nach seiner eigenen Überzeugung unheilbarem Wahnsinn verfallen sei.

Ach ja, das Leben war traurig, wenn man alt wurde und als Arzt so vielerlei an anderen erleben mußte, wenn man die Blüte und die Kraft der Jugend vor der Zeit in Krankheit und Tod dahinwelken sah!

»Wer ist es denn, mit dem der Herr Kommerzienrat so lange zu unterhandeln hat?« wandte sich nun Dr. Humbert an den emsig schreibenden Küchler, als wieder in erregtem Tone gesprochene Worte, deren Sinn man nicht deutlich verstehen konnte, aus dem dicht verhängten Privatkontor an sein Ohr drangen. »War der Herr schon öfter hier?«

»Ich kenne ihn nicht,« lautete die Antwort des langen und schmächtigen Küchler, der, den Kneifer auf der Nase, der Typ einer verkümmerten, aber gewissenhaften Schreiberseele, vor seinem Pulte stand und den Doktor nun ärgerlich durch die Gläser anstierte, weil er den Faden des soeben begonnenen Satzes infolge dieser unvermittelt gestellten Frage verloren hatte.

Dann aber legte er selber, aufmerksam geworden und um seinen Herrn besorgt, die Feder zur Seite und fuhr fort:

»Er ist in den letzten Tagen verschiedene Male hier gewesen und von dem Herrn Kommerzienrat nicht empfangen worden. Nach seiner Karte heißt er Lothar von Brandt und ist Leutnant a. D.«

»Und Sie haben keine Ahnung, in welcher Angelegenheit er mit dem Herrn Kommerzienrat zu unterhandeln hat?«

»Nein. Aber heute befahl der Herr Kommerzienrat, ihn sofort vorzulassen. Der Herr Kommerzienrat sind nämlich heute allein,« fügte Küchler erklärend hinzu, »da Herr Seliger mit seinem Fräulein Braut Besorgungen für die Einrichtung seiner neuen Villa macht.«

Es lag etwas berückend Komisches in der Art und Weise, wie Küchler die ja an und für sich sehr gleichgültige Bemerkung machte. Er gab sich in dem geheimnisvollen Tone seiner Stimme als Intimus des Hauses Lang, der in die Privatangelegenheiten seines Chefs und des zweiten Bankleiters Seliger als einzige Vertrauensperson einen Einblick hatte.

»Das ist also Ihr letztes Wort, Herr Kommerzienrat?«

In einem harten, schnarrenden Tone drangen eben diese Worte an Humberts und Küchlers Ohren.

Erschrocken fuhren die beiden auf. Der alte Herr zitterte an allen Gliedern, als man nun aus dem Nebengemache die sich überschreiende Stimme des Kommerzienrates vernahm:

»Mein letztes, hinaus, Sie Erpresser, Sie Lump, Sie Dieb und Verführer –« Dann plötzlich ein gurgelnder Ton und ein schwerer Fall.

Mit schlotternden Knien, keiner Bewegung mächtig, stand der alte Humbert in der Tür, vor der Küchler den Vorhang zurückgerissen hatte.

»Der Herr Kommerzienrat ist soeben von einem Unwohlsein befallen worden,« vernahm nun Humbert die harte Stimme an seiner Seite. Küchler kniete neben dem am Boden liegenden Lang, der, keiner Bewegung, keines Wortes mächtig, die Glieder von sich streckte.

»Was ist, Herr Kommerzienrat, kommen Sie zu sich,« stammelte der Sekretär.

»Was haben Sie getan,« herrschte Humbert den hohen, vor ihm stehenden blonden Herrn an, dessen stramme und sehnige Gestalt den früheren Offizier deutlich verriet.

In aller Ruhe zwirbelte dieser seinen dichten Schnurrbart und erwiderte:

»Ich habe noch nicht die Ehre mit dem Herrn gehabt. Von Brandt – mein Name – hatte eine geschäftliche Auseinandersetzung mit dem Herrn Kommerzienrat, während der sich der Herr offenbar echauffierte und zusammengebrochen ist.«

Humbert würdigte diesen Ehrenmann, der in diesem furchtbaren Augenblicke noch an gesellschaftliche Formeln dachte, keines Blickes. Als Arzt übersah er sogleich die leicht zu erkennende Lage. Der wohlbeleibte und schon seit Jahren an Kongestionen leidende Lang hatte sich erregt und war das Opfer eines Schlaganfalls geworden.

Mit Küchlers Hilfe bettete er den Bewußtlosen auf eine Chaiselongue und wandte sich dann erst an den erstaunt dreinblickenden und offenbar eine Anrede erwartenden Blonden.

»Ich bin der Hausarzt des Herrn Kommerzienrates, Dr. Humbert. Der Herr Kommerzienrat hat einen schweren Schlaganfall erlitten, wahrscheinlich eine Folge der erregten Unterhaltung, die er soeben mit Ihnen, mein Herr, geführt hat.«

Achselzuckend wandte sich der also Angeredete weg. Wenn der da der Arzt war und einen Schlaganfall feststellte, dann hatte er hier schlechterdings nichts mehr zu suchen. Seinen Plan bei Lang hatte er freilich nicht durchgesetzt, zum Teufel auch, daß diese dicken Kommerzienräte immer gleich Schlaganfälle bekamen!

Mit einer tadellosen Verbeugung wandte sich Lothar von Brandt zum Gehen, Seine Aktien standen nicht schlecht. Wenn Lang sterben sollte, hinterblieb Irma vermutlich als die alleinige Erbin eines Millionenvermögens, und er, er konnte warten, bis seine Stunde gekommen war.

Humbert nahm von dem Gehenden keinerlei Notiz.

Küchler war in die Bureaus gelaufen, um das Personal zu benachrichtigen und nach einem Krankenwärter zu schicken. Wenn möglich, so hatte Humbert rasch angeordnet, sollte Lang in seine Villa und zu Bette gebracht werden.

Aber es war zu spät. In den Armen seines alten Hausarztes und Freundes starb Lang, ohne das Bewußtsein wieder erlangt zu haben, und die Krankenwärter fuhren einen Toten in die elegante Villa, die nun samt allen Millionen des Bankhauses mit einem Schlage Irmas alleiniger Besitz geworden war.


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