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X.

Ewald hatte heute in der Stadt zu tun. Seit jenem Vorfall in Irmas Liebestempel sah man ihn wieder häufiger in den belebten Straßen, wohin ihn schon der erste Zug am frühen Morgen von Schloß Schönblick entführte. Denn eine plötzliche, auch von der Dienerschaft bemerkte Entfremdung zwischen dem jungen Paare war seit jener nächtlichen Ausfahrt in den Tannenwald eingetreten.

Zwischen Ewald und Irma war kein Wort über die Vorgänge an jenem Abend gewechselt worden. Als er im schlanken Trabe des Schimmelgespannes den Waldtempel, aus dem er in furchtbarer Erkenntnis der Wahrheit von ihrer Seite geflohen, wieder erreicht hatte, war Irma aus ihrer Ohnmacht längst erwacht. Sie tat so, als habe sie keine Ahnung, daß ihr Mann ihre Schuld erraten haben könnte, und schob allein dem ausgelassenen Tanze das plötzlich eingetretene Unwohlsein zu.

Und er, auf einmal wie umgewandelt, maß ihrem Zusammenbrechen keinerlei Bedeutung bei. Sie sei plötzlich unwohl geworden, hatte er gesagt. Da habe er es für das beste gehalten, sofort nach dem Schlosse zurückzueilen und den Wagen zu holen. Sie war noch schwach und angegriffen und hatte ihm nichts erwidert, und schweigend waren die beiden durch die stille Nacht und den hohen Wald nach Schloß Schönblick zurückgefahren.

Aber mit dem folgenden Morgen trat ein völliger Umschwung in Ewalds Wesen ein. Er kümmerte sich nicht mehr um seine Frau. Als Irma so gegen acht Uhr aus einem schweren, bleiernen Schlafe erwachte, fand sie Ewalds Bett an ihrer Seite leer. Der Herr sei mit dem Frühzuge in die Stadt gefahren, meldete die Jungfer.

Und so ging es nun fast an jedem neuen Tage, bis Irma eines Morgens zeitiger erwachte und Ewald noch beim Anziehen fand.

In ihrer herrischen Art brauste sie auf. Sie verbitte sich diese Störung, es sei erst sechs, sie wolle noch schlafen.

Ewald hatte kein Wort erwidert. Aber am Abend des gleichen Tages hatte der Gärtner auf sein Geheiß in einem kleinen Jagdpavillon des Parkes, der inmitten des hinter dem Schlosse gelegenen großen Teiches auf einer Insel lag, ein bescheidenes Zimmerchen eingerichtet, wo er nun, fern von Irma und Schönblick, ganz allein zu hausen beschloß.

Alle Vorstellungen und Bitten Irmas, doch voll diesem Vorsatze abzulassen, hatten nichts gefruchtet. Mit Zähigkeit beharrte er auf dem einmal geäußerten Vorsatze. Den Schlüssel zu dem kleinen, wundervoll gelegenen Jagdpavillon, dessen Zutritt man nur auf einem Kahne erreichen konnte, trug er mit sich in der Tasche herum, so daß sich niemand, außer dem Diener, der den Auftrag hatte, allmorgendlich das Zimmer seines Herrn in Ordnung zu bringen und den Schlüssel wieder an diesen abzuliefern, einen Einblick in seine selbstgewählte Einsiedelei verschaffen konnte.

Irma zerbrach sich den Kopf. Was Ewald nur mit einem Male hatte? Darauf, daß er selber ihr Geheimnis endlich erraten hatte, kam sie nicht. Die Leute in dem Schlosse und die in dem Orte hatten doch keine Ahnung, konnten gar keine haben. Von diesen also wußte er nichts.

Ob Mademoiselle Lorisson, der Lang auf ihre inständige Bitte hin ein anständiges Schweigegeld zahlte, Ewalds Wege gekreuzt und ihm etwas verraten hatte? Ob – ihr Blut wallte, bei diesem Gedanken ungestümer durch die Adern – ob sich der Schatten des Verschollenen aus dem fernen Südamerika meldete, ob Lothar von Brandt selber ein Wort in die alte Heimat hatte verlauten lassen?

Sie wußte es nicht. Niemanden durfte sie fragen, mit niemandem darüber sprechen, denn auch nur das kleinste Wort von ihrer Seite wäre ein Selbstverrat gewesen.

Und ihr eigener, körperlicher Zustand wurde von Tag zu Tag unerträglicher. Die ersten Beschwerlichkeiten der Schwangerschaft hatte sie mit eisernem Willen, siegreich, ohne mit der Wimper zu zucken, überwunden. Aber nun, da es in den vierten Monat ging, war sie manchmal nicht mehr dazu imstande, sich aufrecht zu erhalten, um Ewald und ihrer Umgebung das zu verbergen, was die Formen ihres Körpers nur allzu deutlich verrieten.

Die offene Aussprache mit ihrem Manne, die ihren Zustand als Folge ihrer ehelichen Verbindung hinstellen sollte, hatte sie aus begreiflicher Scheu vor der furchtbaren Lüge von Woche zu Woche hinausgeschoben, und nun war das unerklärliche Schicksal einer völligen Entfremdung zwischen ihr und dem Gatten plötzlich über sie gekommen, ehe noch ein Wort über den zu erwartenden Zuwachs der Familie zwischen ihnen beiden gefallen war.

Schon drei Wochen wohnte Ewald in dem Pavillon auf der Insel. Irma bekam ihn nicht zu sehen. Tagsüber war er in der Stadt oder er schloß sich ein und des Abends machte er allein seine Spaziergänge weit hinaus ins Gebirge und in die Wälder, immer zu Fuß, ohne mit einem Worte nach seiner Frau zu fragen.

Am Anfang hatte sie den Versuch gewagt, sich ihm in den Weg zu stellen, ihn zum Reden zu zwingen. Aber er war ihr ausgewichen, er beherrschte sich mit eiserner Energie. Kein Wort kam ihr gegenüber von seinen Lippen, und nur in seinen weitgeöffneten, starren, dunkelblauen Augen las sie ein furchtbares Leid, ein unüberwindliches Weh.

Jetzt gab sie alle ihre Bemühungen auf. Sie fühlte sich auf einmal so grenzenlos schwach und elend, selber so völlig gebrochen in all ihrer Willenskraft. Tagelang verharrte sie allein droben in ihren Gemächern, ausgestreckt auf dem Bette, manche Stunde von schneidenden Schmerzen gepeinigt, und starrte hinaus auf die hohen Bäume des Parkes, deren Blätter langsam zu fallen begannen.

Der Sommer dieses kurzen, rasenden Liebesrausches war vorüber, und der Herbst kam.

Und er? Anfangs hatte er in wahnsinniger Wut getobt. Auch er hatte sie zur Rede stellen wollen. Er hätte sie zu Boden reißen und mit den Füßen auf ihrem besudelten Leibe herumtreten können. Aber das waren nur rasch verfliegende Stimmungen des Augenblicks gewesen. Er war ohnmächtig, unfähig zum Handeln, entmannt, das fühlte er. Wie ein Narr war er hineingelaufen in die Netze, die Irma ihm gestellt, und jetzt versuchte er vergeblich, die dichten Maschen zu zerreißen, die sich ihm um Leib und Beine, um Kopf und Arme geschlungen hatten.

Sollte er in aller Ruhe vor sie hintreten und ihr sagen: Du hast mich schon vor der Ehe betrogen, Irma. Ich werde die Scheidung beantragen, und wir sind miteinander fertig?

Lächerlich! Als ob er die Kraft und den Mut und die Energie hätte, solches zu tun. Hielt ihn nicht das Schicksal gefesselt mit eisernen Banden an dieses Weib, ihn, der ohne Lang in seinem Leben noch keinen roten Kupferheller verdient hatte?! War es nicht klüger hinzugehen und sich an dem nächsten Baume aufzuknüpfen, als auch nur den Versuch anzustellen, einen Faden des Netzes zu zerreißen, das sich ihm unentwirrbar um Leib und Seele wand?

Für sein schnödes Geld hatte sich Lang – das war jetzt seine feste Überzeugung – ihn gekauft. Daran gab's nichts zu deuteln und zu rütteln. Und er, der gedankenlos in die Nutznießung, in die sorglose Verschwendung dieses Geldes eingetreten war, er, der der Meinung gewesen, ein unerhörtes Glück habe ihn im Handumdrehen in einer Nacht zum Millionär gemacht, er mußte nun stille halten um seiner selbst willen, um Irmas willen und um der andern, der Mutter und der Geschwister willen, die er gedankenlos in seine Interessensphäre so leichten Herzens hineingezogen hatte.

Einen öffentlichen Skandal würde Lang niemals verzeihen. Alle Hebel würde der allmächtige Kommerzienrat in Bewegung setzen, um ihn, den Veranlasser eines solchen, zugrunde zu richten. Also gab es für ihn nur eines, aushalten, so lange er aushalten konnte, und dann, wenn es nicht mehr ging, diesem unerträglichen Dasein freiwillig ein Ende zu setzen, aber so, daß kein Mensch von den Fernerstehenden eine Ahnung von den Beweggründen seiner schauerlichen Tat haben durfte.

Und dann, da war noch eines, das ihm einen kleinen Trost gab. In all den Wirrnissen seiner Seele glaubte der schwache Tor sich selber wiedergefunden zu haben. Die Musik, mit der ihn Irma in das schlaugestellte Netz gelockt hatte, sie konnte ihm am Ende Trösterin, Helferin, Retterin aus all dem Elend werden.

Unter den alten Papieren, die er aus seinem bescheidenen Heim mit nach Schloß Schönblick gebracht hatte, fand er eines Tages den Entwurf zu seiner Oper, den er, ein törichter Unterprimaner, vor seinem Eintritt in das Bankhaus Adolf Lang aufgezeichnet hatte. Sie führte den Titel: Das Sonnenmädchen, eine Zauberoper. Sein Schwesterchen Martha hatte ihm einst als Ideal, als Verkörperung dieses Sonnenmädchens, vorgeschwebt. Der Inhalt des Werkes gipfelte in einer wundervollen Szene, in der das Sonnenmädchen dem Eiland des Schattens das Licht und mit diesem die Befreiung bringt.

Eine schon damals von ihm komponierte Melodie, so eine Art Leitmotiv, begann, da er in seinem verzweifelten Schmerze die alten vergilbten Blätter immer wieder anstarrte, aufs neue in ihm zu klingen, und wie ein Gottgewolltes reifte plötzlich der große Entschluß in seiner Seele, alles andere zu vergessen, sich ganz hineinzuversenken in die Pläne einer hoffnungsfrohen Jugend und draußen auf der einsamen Insel in dem Pavillon, koste es, was es wolle, diese Oper »Das Sonnenmädchen« zur Vollendung zu bringen.

Lange hatte Ewald mit diesem Entschluß gerungen. Nun, nachdem er ihn gefaßt, war es in seinem Innern wieder ganz still geworden. Jetzt lebte in seiner Seele etwas von jener wunschlosen Ruhe des schaffenden Künstlers, der es vergönnt ist, die Härten und Kämpfe des rauhen Lebens wenigstens für die Stunden, in denen ihn seine Schöpfung ganz erfüllt, zu übersehen.

Was waren Irma und ihr Betrug, was waren Lang und seine Millionen, was waren Schloß Schönblick und der Liebestempel, im Vergleich zu diesem großen musikalischen Plane, der nun fester und fester in seinem Innersten Gestalt gewann?

Was der Schöpfer des Sonnenmädchens an äußeren Schicksalen erlebt hatte, das würde einmal völlig gleichgültig sein, wenn die Melodien, die heute erst in seinem Herzen lebten, zu den Ohren von Tausenden drangen und diese Tausende hinaushoben aus dem Dunkel des Eilands des Schattens in die reine Sonnenhöhe alles Menschenschicksal siegreich überwindender Kunst!

Den einzigen Raum in dem Erdgeschoß des Pavillons hatte sich Ewald ganz allein mit Hilfe des Gärtners in seine Arbeitsstätte und stille Behausung, fern von dem Schlosse und fern von Irma, umgeschaffen. Bei einem Musikalienhändler hatte er sich ein Pianino gemietet, das das Hauptmobiliarstück des elenden Zimmers ausmachte. Ein Feldbett, zwei Stühle und ein Tisch, die ihm der Gärtner auf seine Bitte überlassen, bildeten den Rest der Einrichtung. Denn aus dem Schlosse selber wollte er nichts, keinen Gegenstand des Luxus und des Genusses, um sich haben, das würde ihn in seiner Arbeit verwirren, behauptete er vor sich selbst.

Der sogenannte Jagdpavillon, den der frühere fürstliche Besitzer des Schlosses lediglich zum Schmucke des Parkes hatte anlegen lassen, stand auf einer kleinen Insel, die in dem hinteren, großen Weiher des Gartens lag. Jahrhundertealte Edelkastanien umstanden den fast zum Sumpf gewordenen Teich, dessen dichte Schlinggewächse im tiefen Wasser einen undurchdringlichen Urwald von Zweigen, Blättern und Blüten bildeten.

Als Ewald seinen Einzug in den Jagdpavillon gehalten, hatten schon die gelben Blätter der Kastanien die Oberfläche des Teiches, aus dem allnächtlich die Rufe der Frösche und Unken an sein Ohr drangen, bedeckt. Es war ein melancholisch stimmender, so recht zu der Verfassung seines inneren Menschen passender Anblick, den er hier in dem entlegensten Teile des Schloßparkes von dem Jagdpavillon und von der Insel aus genoß. Außer den kaltblütigen Bewohnern der kühlen Tiefe war ein Paar weißer Pfauen, die hier auf dem Dache des Pavillons ihren Futterplatz hatten, die einzigen Lebewesen, die seine Einsamkeit teilten. Einmal am Tage brachte ein Diener aus dem Schlosse das Mittagessen und die sonst notwendigen Nahrungsmittel auf die Insel. So hatte es Ewald angeordnet. Dann entfernte sich dieser wieder auf dem lautlos über die Oberfläche des Teiches dahingleitenden Kahne, und Pavillon und Insel blieben ihrem einsamen Bewohner überlassen.

Die Arbeit an der Oper belehrte Ewald bald, daß er ohne Anleitung und Unterstützung von seiten eines Fachmannes nicht so leicht zum Ziele gelangen könne.

Da erinnerte er sich im richtigen Augenblicke seines alten Schulfreundes Osborn, den er einst an jenem folgenschweren Theaterabende im Frühsommer an Irmas Seite als Lyonel in Flotows Martha bewundert hatte.

Osborn hatte an der städtischen Oper ein Engagement angenommen, das er zu Ende des Sommers angetreten, und ihm galten jetzt Ewalds so häufige Besuche in der Stadt. Mit ihm, der sich dem Schwiegersohne des einflußreichen und zum Aufsichtsrate der Oper gehörenden Kommerzienrates sofort bereitwilligst zur Verfügung gestellt hatte, pflegte Ewald seine Komposition durchzuspielen und das in stiller Einsamkeit Geschaffene kritischer Betrachtung zu unterwerfen.

Die große Arie des ersten Aktes, in der das nach dem Eiland des Schattens verschlagene Sonnenmädchen der Sehnsucht nach seiner verlorenen Lichtheimat Ausdruck verleiht, war fertig und hatte heute den Beifall des musikalischen Freundes nicht gefunden. An der Durcharbeitung der an sich sehr einfachen Melodie hatte Osborn alles mögliche auszusetzen gehabt. Das war ihm zu banal, zu konventionell, das entbehrte aller Eigenart, steckte voller Reminiszenzen, wie der berühmte Sänger sich ausgedrückt hatte. Schließlich war er mit Ewald hart aneinandergekommen, und betrübt hatte der jugendliche Tondichter die elegante Villa, die sich Osborn im Westen der Stadt gemietet hatte, verlassen, wieder einmal das niederschmetternde Gefühl in seinem Herzen, daß die Kluft zwischen hohem Wollen und mittelmäßigem Können eine unüberbrückbare sei, verzweifelnd an der Möglichkeit, diese Kluft jemals überspringen zu können.

Es war ein schöner und warmer Tag, wie sie der scheidende Sommer zu Ende des September häufig zu bringen pflegt. In den Anlagen der Stadt, durch die Ewald sein Weg führte, blühten die Pelargonien und Hortensien noch in üppigem Flore auf den Beeten, und die milde Sonne des beginnenden Herbstes vergoldete die Blätter der Roßkastanien, die einst im Mai – heute erinnerte er sich mit einem Male daran – da der Wunsch seines Herzens sich noch nicht an Irma herangewagt hatte, eine weithin leuchtende Allee von mit Blütenkerzen bestandenen Weihnachtsbäumen, ihn gegrüßt hatten.

Ja, damals im Mai dieses selben Jahres – – und heute!!

So elend, so verzweifelt, so unglücklich fühlte er sich in dieser Stunde, da ihm Osborn die letzte Hoffnung, an die sich sein gequältes Herz hängte, die glückliche Vollendung seiner Oper, durch seine zersetzende, aber gerechte Kritik fast zerstört hatte.

Auf einer Bank der Anlagen saß er lange und durchdachte all die Ereignisse dieses verhängnisvollen Sommers. Wie sich all die Fäden seines von ihm sicher ungewollten und unverschuldeten Schicksals zu einem dichten und unzerreißbaren Netze zusammengefunden hatten, und wie er jetzt wie ein Trunkener, wie ein Nachtwandler, wie ein vor den Kopf Geschlagener durch dieses an äußerem Luxus so reiche und dennoch fürchterliche Dasein ging.

Die Bank, auf die er sich gesetzt hatte, stand mitten auf dem beliebtesten Kinderspielplatze, der an diesem schönen Tage in der Schulmittagspause stark besuchten Anlage. Vor vielen Jahren hatte auch er hier zusammen mit den Nachbarskindern unter der Aufsicht einer alten Kinderfrau im Sande gespielt. Hier hatten sie Festungen und Häuser, ganze Städte, hohe Wälle und tiefe Gräben in den Sandhaufen gebaut, und die allmächtige Phantasie ferner Kindheitstage hatte ihnen aus diesem einfachen, mit ein paar Kastanien bestandenen, im Herzen der Großstadt gelegenen Spielplatz die Welt geschaffen.

Verflogen alles! Alles dahin! All die Träume und Phantasien froher, ferner Kindheitstage, das Jauchzen und Jubilieren einer sorglosen Zeit, da das aus dem hier stehenden Brunnen entnommene, nach einer halben Stunde wieder im Sande versickernde Wasser, das sie in ihren Spieleimerchen herbeigetragen, das Weltmeer bedeutete, auf dem die aus Zeitungspapier angefertigten Schiffchen ihrer jugendlichen Lebenshoffnung ferne, ungekannte Küsten und Häfen erreichen sollten!

Unter den vielen Kindern, die an diesem schönen Herbsttage hier lärmten und spielten, fiel ihm ein kleiner pausbackiger Blondkopf von etwa fünf Jahren auf. So ungefähr wie dieser mochte auch er einmal in jenem glücklichen Alter ausgesehen haben.

Die Augen voll glühender Erwartung auf den auch heute von den älteren Jungen in dem Sandhaufen angelegten See gerichtet, stand der Kleine zaghaft da und harrte des günstigen Augenblickes, da er sein Schifflein den braunen Wogen anvertrauen könne. Mit den niedlichen Händchen preßte das Kind das kleine, von seiner Begleiterin kunstvoll angefertigte Papierboot an seinen Körper, und da bückte er sich und ließ mit einer linkischen Bewegung das Papier auf das Wasser gleiten. Die Größeren warfen mit Steinchen nach dem auf dem Wasser schwimmenden Schiffchen, da legte es sich auf die Seite und trieb bald, ein schmutziger Papierfetzen, auf dem aus Sand und Wasser gemischten Morast. Die hellen Tränen liefen dem Kleinen die Wangen hinunter, er begann bitterlich zu weinen. »Mein Schiffchen, mein Schiffchen!« kreischte er.

Da übermannte es Ewald. Er zog den widerstrebenden Jungen zu sich auf die Bank, streichelte ihm das volle, blonde Lockenhaar und tröstete:

»Still, still, mein Junge, nicht alle Schiffchen können heil den Hafen erreichen, und das deine ist ja nur ein Stück Papier gewesen. Hüte dich aber, wenn du einmal ein großes Schiff aus Holz und Eisen auf das wirkliche weite Weltmeer hinausfahren läßt!«

Aber der Junge heulte weiter. »Mein Schiffchen, mein Schiffchen!« jammerte er. Er wollte Ewald nicht glauben, daß sein schönes Schiffchen aus Papier gewesen, und daß ein Papierschiffchen im Wasser weich werden und untergehen muß.

Da stand Ewald auf und ging seines Weges weiter.

»Törichter Narr,« sagte er im Gehen zu sich selber, »als ob der Beweis, daß das Schiffchen aus Papier gewesen, und daß es deshalb der Flut nicht standhalten konnte, den, der seine Hoffnung darauf setzte und mit dem Untergange seines Schiffchens alles verlor, glücklicher machen würde?«

Aus welchem Material bestand denn das seine? Die Oper, die er niemals würde vollenden können, und Irma und das Glück und der Reichtum und das Schloß da draußen, alles, alles, das bald in dem schmierigen Strudel der braunen über seinem eigenen Haupte zusammenschlagenden Wogen wie das Schifflein des Kleinen im erbarmungslosen Wasser und im Schmutz versinken würde?

Er hastete weiter, er bog ein in die Straßen der Stadt. Der Hunger machte sich fühlbar. Seit seinem in der frühesten Morgenstunde erfolgten Aufbruche von Schloß Schönblick hatte er keinen Bissen gegessen, und nun ging's auf eins.

»War er nicht glücklich, war er nicht beneidenswert glücklich,« blitzte es da mit einem Male durch seinen Kopf.

Wenn er an frühere Zeiten zurückdachte, da er die paar Kreuzer für ein Glas Bier und ein Schinkenbrot gespart hatte! Wenn er jetzt wollte, konnte er in das erste Restaurant gehen, konnte sich ein Diner servieren lassen und eine Flasche Wein für zwei oder auch drei Gulden dazu trinken. Und da beschwerte er sich noch in seinem Inneren über sein beneidenswertes Schicksal! Da fühlte er sich nicht selig? Wer fragte danach, ob er an einem Tage fünf oder zehn oder zwanzig Gulden für seine persönlichen Bedürfnisse verausgabte? Kein Mensch! Das hohe Einkommen, das er von Lang bezog, gelangte in jedem Vierteljahre pünktlich in seine Hände. Die Haushaltung auf Schloß Schönblick wurde von den Angestellten geführt und auf Irmas Vermögenszinsen bei dem Bankhause Lang in Anrechnung gebracht. Was er an barem Gelde bekam, stand ihm zu, nachdem alle Ausgaben für die fürstliche Haltung des Schlosses in Abzug gebracht worden waren, und in der Schublade des Tisches im Jagdpavillon lagen aufeinandergehäuft die Banknoten, die man ihm ausgezahlt, und für die er draußen auf dem Schlosse in völliger persönlicher Bedürfnislosigkeit keinerlei Verwendung hatte.

Aber die alte Gewohnheit, sein angeborener und anerzogener Sinn für das Sparen, der auch in der Ehe mit der Millionärin der Beherrscher aller seiner Entschlüsse und Handlungen auf pekuniärem Gebiete geblieben war, machten sich auch heute wieder geltend, und so führte ihn sein Weg ganz von selbst in ein kleines und bescheidenes Restaurant, in dem er seinerzeit als Kommis des Hauses Adolf Lang manchmal gegessen hatte, wenn aus geschäftlichen Gründen der Weg hinaus zu der Wohnung der Mutter während der Mittagspause zu weit gewesen war. Das war zwar selten vorgekommen, nur wenn ihn Lang hie und da einmal auf die Börse geschickt hatte zur Erledigung eines unbedeutenden Auftrages, ein Gang, den der Kommerzienrat ihm dann großmütig wegen der ihm erwachsenden Auslagen mit einem Gulden extra honoriert hatte.

Hier, wo er für zwanzig Kreuzer eine reichliche Portion Rindfleisch mit Gemüse und ein Glas Bier für drei Kreuzer bekam, ließ er sich auch heute an einem der mit roten Tüchern gedeckten Tische nieder und nahm diese bescheidene, ihn an alte Zeiten erinnernde Mahlzeit ein.

Das nagende Gefühl des Hungers erwies sich in der Tat stärker, als die heute an seinem Innersten rüttelnden seelischen Schmerzen. Der Staub und die Hitze der Straße hatten seine Kehle ausgebrannt.

Als er mit Essen und Trinken fertig war, blickte er um sich und bemerkte in einer Ecke des nur mäßig besetzten Lokales einen nachlässig und schmutzig gekleideten Menschen von etwa vierzig Jahren, dessen Gesicht ihm bekannt vorkam.

Richtig, das war ja Meißner, der Bureaudiener aus dem Bankhause Adolf Lang, den man vor etwa acht Wochen, damals, als auch er noch das Geschäft besuchte, er wußte nicht aus welchem Grunde, entlassen hatte.

War es Neugier, war es wirkliches Interesse, was ihn jetzt in einem fort zwang, zu diesem Manne hinüberzublicken? Und da fiel ihm auf, wie sah der Mann denn aus? So völlig heruntergekommen, so ganz anders, als in früheren Zeiten, da er ihn noch täglich auf dem Bureau des Kommerzienrates gesehen hatte.

Es war eine dunkle Nische des Lokales, in der Ewald saß. Er konnte beruhigt sein, Meißner würde ihn von seinem Tische aus nicht bemerken können.

Aber er selber hatte reichliche Gelegenheit, den Mann zu beobachten. Was wenige Wochen doch aus einem anständigen Menschen machen können, dachte Ewald in einem fort. Wie schlampig dieser sonst so blitzsaubere Meißner doch aussah in den vertragenen Hosen, in dem verschlissenen und verfärbten schwarzen Rocke, wie rot und aufgedunsen das Gesicht, und wie gläsern und ausdruckslos der Blick!

Er sah schärfer hin. Meißner hatte wie er ein Glas Bier vor sich auf dem Tische stehen. Zu essen schien er hier nicht. Aber da, neben dem Bierglase und durch dieses schämig verdeckt, bemerkte jetzt Ewald ein kleines Gläschen, das Meißner mit zitternden Händen aus einer vor ihm stehenden Flasche von Zeit zu Zeit mit einer grünlich schillernden Flüssigkeit füllte. Das war jetzt das zweite-, das dritte-, das viertemal, daß Meißner das Schnapsgläschen an die Lippen führte und es auf einen Ruck leerte. Ein breites Grinsen ging jedesmal über sein Gesicht, wenn der scharfe Branntwein durch seine Kehle rann, und dann hob er aufs neue die Flasche und füllte aufs neue das Glas.

Ewald winkte den am Büfett hantierenden Kellner zu sich heran.

»Kommt der Mann dort öfter in dies Lokal?« fragte er diesen mit leiser Stimme, »und kennen Sie ihn?«

»Der kommt seit etwa einem Vierteljahre jeden Vormittag und erzählt, wenn er seine zwölf Schnäpse hinter der Binde hat, jedem, der sie hören will, seine Geschichte,« lautete die Antwort. »Er soll ein ordentlicher Mensch, Angestellter in einem großen hiesigen Bankhause gewesen sein. Da kam er vor etwa einem halben Jahre auf die unglückliche Idee, zu heiraten, und seitdem ist der Ärmste ein Trunkenbold geworden. Sie glauben gar nicht, wie rasch so was geht, in drei, vier Wochen hat man einen so weit. Seine Stelle soll er natürlich verloren haben, da er mehr in der Destille als auf seinem Platze zu finden war. Es war eine Liebesheirat. Ein Mädel, das er auf dem Tanzboden kennen gelernt, von der sich nach der Ehe herausstellte, daß sie schon einmal in Berlin oder in München unter Kontrolle war. Sie geht auf den Strich, und er nimmt die Groschen und versäuft seine Schande. So geht's, wenn man sich an die Luders hängt und sich nicht vorher vergewissert, mit wem man es zu tun hat. So auf drei viertel Flaschen Pfefferminz wird er es wohl an jedem Vormittag bis eins, halb zweie bringen. Dann legt er sich in die Klappe, während seine Alte im Straußenfederhut auf Fang ausgeht.«

In sittlicher Entrüstung spuckte der Befrackte vor sich hin und fügte dann lachend hinzu: »Ja, ja, die Liebe und der Suff, wie es in dem schönen Liede heißt, die reiben den Menschen uff. Ja, ja, unsereiner in den Wirtschaften, der wird da was gewahr.«

Ein schneidendes Weh erfaßte Ewald bei diesen Worten. Wie rücksichtslos dieser gleichgültige Mensch die furchtbare Wahrheit aussprach. Der früher so nüchterne und zuverlässige Meißner, er hatte seine Stelle verloren und war zum Säufer geworden, durch eines Weibes Schuld und dessen Leichtsinn. Und er? Was würde aus ihm selber werden? Durch Irmas Schuld, durch Irmas Leichtsinn?

Es hielt ihn hier nicht mehr. Jeden Augenblick konnte es Meißner, mit dem er im Geschäfte früher täglich ein paar freundliche Worte gewechselt hatte, einfallen, sich seinem Tische zu nähern. Er würde ihn dann erkennen und auch ihm seine Geschichte, die er nach des Kellners Aussage niemandem vorenthielt, erzählen wollen. In der Lage, in der er sich selber befand, wollte er den Unglücklichen nicht sprechen. Wie hätte er ihn trösten sollen? Und so ging er rasch aus dem Lokale hinaus.


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