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II.

Ewald Baumann kam heute zu spät in das Geschäft.

Das geschah zum ersten Male in den fünf Jahren, die er nun in dem großen Bankbetriebe des Kommerzienrats Adolf Lang beschäftigt war. Ein Zufall hatte ihn auf dem halbstündigen Wege aufgehalten, der die mütterliche, weit im Nordosten der Stadt gelegene Wohnung von dem Geschäftshause trennte.

Sein täglicher Morgengang führte durch das Zentrum der Stadt, vorbei an den Läden der Hauptverkehrsader und dann über den Platz, auf dem das alte Theater stand, wo die Musen der Oper und des Schauspiels ihr schon etwas baufälliges und altmodisches Quartier aufgeschlagen hatten, und wo es in einem Blumenladen die Bilder der einheimischen Künstler und der Gäste zu sehen gab.

Wie an jedem Morgen, so war Ewald auch an diesem frühzeitig von Hause aufgebrochen. Gewohnheitsmäßig lenkte er auf dem alten Platze seine Schritte zu dem Schaufenster des Blumenladens, um im Anblick der gefeierten Bühnensterne seiner Schwärmerei für Musik und Theater zu huldigen.

Von einigen durch geschenkte Billetts ermöglichten Besuchen der Konzerte und Abonnementsvorstellungen abgesehen, war dies der einzige künstlerische Genuß, den er sich leisten konnte. Er sah die Künstler beiderlei Geschlechts hier im Bilde in den verschiedensten Rollen, und seine lebhafte Phantasie malte sich dann aus, wie diese Gestalten, das Wort des Dichters belebend, der Musik des Komponisten ihre Stimme leihend, auf der Bühne wirken mußten.

Und dann! Die wohlfeile Ausgabe eines Theaterstückes oder Textbuches war immer noch billiger als eine Sitzung im Bierhause zusammen mit den Kollegen von der Bank, die schließlich nur Interesse an den neuesten Zoten oder an einer Brett'l-Diva im Kolosseum hatten.

In den Leihbibliotheken hatte er vieles zusammengesucht, ältere und neuere Bühnenwerke, in deren Inhalt er sich versenkte. Das verstimmte Klavier, das in der guten Stube seiner Mutter stand, war sein bester Freund. Hier phantasierte er in den stillen Stunden der Sonntagnachmittage, hier spielte er sich des Abends die Auszüge der Opern vor, zu deren Besuche das Geld stets in der Kasse gemangelt hatte.

Denn seit einigen Jahren bestritt Ewald, von der kargen mütterlichen Pension abgesehen, fast allein den ganzen Haushalt. Anfangs war das freilich schwer gegangen. Lang, zu dessen Grundsätzen es gehörte, niemanden in seinem Hause ohne Bezahlung zu beschäftigen, hatte schon dem Lehrling eine kleine monatliche Entschädigung gewährt, die Mutter bekam ihre Pension. Mit einer bescheidenen Summe mußte man eben haushalten.

Gleich nach des Vaters frühem Tode, der seine Stellung als Professor an dem städtischen Gymnasium nicht wie so viele andere durch Privatstunden und Pensionäre zu einer nie versiegenden Geldquelle gemacht und darum auch keinen Kreuzer erübrigt hatte, der seinerzeit, dem Drange seines Herzens folgend, einem schönen, aber armen Mädchen die Hand zum Bunde für das Leben gereicht, waren die Kinder mit der Mutter hinaus in die Mietskaserne im fernen Nordosten der Stadt gezogen. In der schmucklosen Dreizimmerwohnung hausten sie heute noch.

Ewald, der Älteste, der bei des Vaters Tode sechzehn gewesen und der damals schweren Herzens den Plan seiner Ausbildung auf dem Konservatorium aufgegeben hatte und als Lehrling bei Lang eingetreten war, Martha, die nun seit kurzem eine Stelle als städtische Lehrerin gefunden und mit ihrem Monatsgehalte gerade für sich auskommen konnte, und die beiden Jüngsten, Rolf und Paul, von denen der ältere in Unterprima, der jüngere erst in Quarta saß, lebten hier mit der Mutter zusammen.

Da die Kinder des Professors das Gymnasium frei hatten, wäre es eine Sünde gewesen – so meinte Frau Baumann – sie in die Volksschule zu schicken. Freilich, daß die Bücher, daß die Zeit, daß die Kleider einen Groschen um den andern verschlangen, daß ein Gymnasiast viel später zu einer Einnahme gelangt als ein begabter Volksschüler, daran hatte ihre mütterliche Liebe zunächst nicht gedacht.

Und was sollte später werden?

In manchen schlaflosen Nächten hatte sie ihr Gehirn mit diesen Gedanken zermartert, aber eine befriedigende Antwort auf diese Frage hatte sie zunächst nicht gefunden.

Seit Ewald Buchhalter bei Lang geworden, war es ihm ja vergönnt, wenn er für seine Person auf alles verzichtete, wenn er niemals ans Heiraten dachte, die Mutter und die Geschwister über Wasser zu halten. Freilich, wie man sich einrichten würde, wenn Rolf das Abitur gemacht und seinem Wunsche entsprechend Jura studierte, davon konnte er sich kein rechtes Bild machen. Schon manchmal hatte er sich dabei ertappt, wie er rechnete, wie sie auskommen würden, wenn er dem Bruder die Hälfte seines monatlichen Gehaltes als Wechsel auf die Universität schicken sollte.

Aber solcherlei Gedanken waren es nicht, die ihn heute auf seinem täglichen Gang zum Geschäfte aufgehalten hatten. Was ihn heute plagte und quälte, lag viel tiefer.

Bei seinem Verweilen vor dem Blumenladen war sein Blick plötzlich auf einem Bilde haften geblieben, das Walter Osborn, einen seiner früheren Mitschüler, in der Rolle des Raoul in Meyerbeers Hugenotten darstellte.

Walter Osborn hatte schon auf dem Gymnasium durch seine glockenreine Stimme geglänzt. Im Gymnasiastenchor hatte er eine ganz hervorragende Rolle gespielt. Mit ihm hatte Ewald dereinst in seligen Stunden der Jugend, da der Vater noch am Leben gewesen, von den stolzen Plänen der Zukunft geschwärmt. Ihm hatte er erzählt, daß er einmal eine Oper schreiben werde, hinter der all die Romantiker der vergangenen Jahrzehnte zurückbleiben sollten, eine Oper, herausgeboren aus dem Fühlen und Denken der eigenen Zeit, in deren Musik das Leiden und Jauchzen der eigenen Tage wiederklingen sollte. Waren das auch nur die phantastischen Träume des unreifen Gymnasiasten gewesen, heute mußte er doch an jene ferne selige Zeit zurückdenken, da auch er etwas gewollt und erstrebt hatte, als er seinen Mitschüler und Altersgenossen Walter Osborn hier in einer führenden Rolle als ersten Sänger eines großen Theaters abgebildet sah.

Lange war er vor dem Blumenladen stehen geblieben und lange hatte er vor sich hingeträumt. Wie hatte doch die Oper heißen sollen, deren Töne damals schon in seinem Innersten geschlummert, deren Melodien leise in seinem Ohre geklungen hatten, schon an jenem Tage, da man seinen vom Schlage getroffenen Vater nach Hause gebracht, und da er, dort angekommen, erfuhr, daß Professor Friedrich Baumann, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben, gestorben sei?

Und all die begrabenen Hoffnungen, all die Not und das Elend seiner Jünglingsjahre, die weder die heiße Liebe noch die heitere Freundschaft gekannt hatten, deren ganzer Inhalt die Sorge um die anderen gewesen war, stiegen wieder auf angesichts des Bildes seines Altersgenossen, von dem man sich sagen mußte, daß er in der kleidsamen Tracht des Raoul Figur machte, daß er mit dieser Figur und seiner schönen Stimme auch kühle Naturen begeistern und vor allem die weibliche Zuhörerschaft mit sich fortreißen mußte.

Er hatte den Lebensweg des schon in Sekunda von dem Gymnasium Entlassenen nicht weiter verfolgt. Um so überraschender, um so niederschmetternder traf ihn heute die deutlich aus dem Bilde zu ihm sprechende Tatsache, daß es der einstige Mitstreiter auf dem Gebiete seiner Kunst schon so weit gebracht.

In solche Gedanken versunken, mochte er wohl eine Viertelstunde vor dem Bilde verträumt haben, da schlug es neun von dem nahen Kirchturme. Von den harten Schlägen der Uhr an seine schwere Pflicht gemahnt, war er aufgefahren und laufenden Schrittes von den goldenen Träumen einer fernen Jugend zu der nüchternen Arbeit des grauen Alltags geeilt.

Als er die Treppe zu dem im zweiten Stockwerke des Hauses gelegenen Bureau emporstieg, war es schon ein Viertel auf zehn. Daß ihm, dem Pünktlichen, das zustoßen mußte. Wenn der Kommerzienrat schon da war, wenn er, die Bureauräume durchschreitend, nach ihm gefragt hätte. Gerade jetzt, da der Juli und mit diesem der Urlaub vor der Tür stand!

Er kannte Langs sarkastische Art und Weise, in der dieser Urlaubsgesuche und Bitten um Gehaltserhöhungen zurückzuweisen pflegte.

»Sie haben sich wohl bei mir überarbeitet?« pflegte der mit einem unnachahmlichen Lächeln zu fragen. »Die lange Frühstückspause hat Sie am Ende angegriffen, so daß Sie Ihre Magennerven ausruhen müssen, Verehrtester?«

Am Ende würde es ihm ergehen wie dem alten Kassierer Schwab, der neulich eine Anspielung darauf gemacht, daß er nun fünfundzwanzig Jahre bei Adolf Lang angestellt sei, und dem der Chef die witzige Antwort gegeben hatte: »Na, Schwab, fünfundzwanzig Jahre sind das schon, daß ich es mit Ihnen ausgehalten habe, und da haben Sie sich nicht über meine Langmut gewundert?«

Leise öffnete Ewald die Tür zu dem Zimmer, in dem er zusammen mit dem zweiten Buchhalter Lenz ein Doppelpult innehatte.

»Guten Morgen, Herr Baumann,« begrüßte ihn der stets höfliche und auf seine Realgymnasialbildung stolze junge Mann. »Der Alte ist heute übler Laune. Vor fünf Minuten ist er erst ins Geschäft gekommen, und mit Schwab hat's schon einen Heidenkrach gegeben, weil der dem Grunert sein Gehalt am Neunundzwanzigsten statt am Dreißigsten ausgezahlt hat. Sie wissen ja, der Grunert, eine kranke Frau und sechs lebendige Kinder, Herr Baumann, da muß sich unsereiner, der sein Dasein als Junggeselle fristet, baß verwundern, daß das Geld bis zum Neunundzwanzigsten reicht.«

Ewald brummte ein paar unverständliche Worte in den Bart, von denen man nur »der arme Grunert« verstehen konnte. Dann vertauschte er rasch seinen Straßenrock mit dem in einer Ecke des Zimmers hängenden Kontorjackett und fragte: »Hat der Herr Kommerzienrat nicht nach mir gefragt?«

»Nein, Herr Baumann,« erwiderte Lenz, »nein, hier ist der Alte noch nicht gewesen. Der hat noch an der Kasse und im Kontokorrent zu tun. Morgen ist Ultimo, Ultimo Juni, Herr Baumann.«

»Richtig,« fiel ihm da Ewald ins Wort, »gut, daß Sie daran erinnern. Bei der Hitze in diesem Jahre verschwitzt man auch alles. Geben Sie mir das Hauptbuch herüber, Herr Lenz, ich will mit der Zusammenstellung der Semestralbilanz beginnen.«

Wortlos reichte Lenz seinem Gegenüber das umfangreiche Buch. Beide vertieften sich in ihre eintönige Arbeit: Zahlen und nichts als Zahlen, Zahlen, die ihnen völlig gleichgültig sein konnten, auf die langen Seiten der Bücher zu schreiben und diese Zahlen, wenn sie am Ende der Seite angelangt waren, zusammenzuzählen. Dann kam der Transport am oberen Ende der neuen Seite, und dann gab es wieder einen Posten von fünfundvierzig Zahlen, die aufs neue addiert werden mußten.

Seit zwei Jahren saß Ewald in der Buchhaltung. Das Addieren und Übertragen war ihm nachgerade zu einer mechanischen Gewohnheit geworden. Er zählte die Einer, die Zehner, die Hunderter, die Tausender zusammen, ein Irrtum war beinahe ausgeschlossen. Aber sein Geist schweifte, wie oft, von dieser Arbeit weit hinaus aus den dumpfen Räumen des Geschäftshauses, meistens in die mütterliche Wohnung und seltener, von Tag zu Tag seltener, zu der eigenen Jugend, die wie jede Jugend voll von kühnen Hoffnungen und Träumen gewesen war, von Hoffnungen und Träumen, die in der Buchhaltung des Kommerzienrates Adolf Lang ihr vorläufiges und aller Wahrscheinlichkeit nach immerwährendes Ende gefunden hatten.

Freilich, so mechanisch wie sonst wollte die Arbeit heute nicht vonstatten gehen. Einmal beunruhigte sich Ewald darüber, daß der Kommerzienrat trotz allem sein Zuspätkommen bemerkt haben könne, und dann – das Bild seines Jugendgenossen, aus dem ein großer Künstler geworden, wich nicht von seiner Seite.

In allen möglichen Partien, die er selbst heimlich zu Hause im Wohnzimmer der Mutter an dem alten Klavier eingeübt hatte, trat er vor Seele und Sinne. Raouls große Arie aus den Hugenotten, Vasco de Gamas Glanzpartie aus der Afrikanerin, das Bravourstück aus Rossinis Teil ließen ihm keine Ruhe, und zwischen den Zahlen, die er einzutragen hatte, klang die süße und lockende Weise des Orchesters, das in seinen Gedanken die Ouvertüre zu Lortzings Undine spielte, von seiner eigenen Phantasie hervorgezaubert, an sein Ohr: »O kehr' zurück, dein eitel Sehnen ist nun gestillt, o kehr' zurück.« Es war ihm, als vernähme sein Ohr in der Tat Kühleborns wundervollen Gesang, da er, den Kopf in der Hand gestützt, der Feder folgend, sich zwang: Drei und fünf ist acht und sieben sind fünfzehn und drei sind achtzehn und acht sind sechsundzwanzig und neun – o kehr' zurück – nun hatte er sich doch verrechnet und mußte die lange, aus fünfundvierzig Posten bestehende Kolumne von vorn anfangen.

In diesem Augenblicke betrat Lang in Person das Zimmer.

Ewald schnellte von seinem Drehstuhl empor, indessen der zweite Buchhalter sich gemessen erhob.

»Guten Morgen, meine Herren,« sagte der Kommerzienrat in jovialem Tone, ganz gegen seine Gewohnheit. »Heißes Wetter heute, fällt schwer bei der Temperatur, das Hocken.«

Der zweite Buchhalter hielt den Moment dieser günstigen Stimmung des Chefs für geeignet, um ganz nebenhin zu bemerken:

»Ja, ein kleiner Aufenthalt in Brunshaupten oder Wittdün wäre einem bei der Temperatur schon zu gönnen, Herr Kommerzienrat.«

Er verstand es, von seinem Gehalte jährlich eine kleine Summe für den Juli zu erübrigen und prahlte vor seinen verheirateten oder sonstwie pekuniär stärker als er engagierten Kollegen mit seiner Sommerreise.

Der Kommerzienrat schien diese Anzapfung, wie er solche Bemerkungen seiner Angestellten zu nennen pflegte, völlig überhört zu haben. Denn, sich direkt an den zweiten Buchhalter wendend, bemerkte er kurz:

»Gehen Sie mal hinüber zu Schwab an die Kasse und sagen Sie ihm, daß ich noch heute eine Aufstellung der Juliprolongationen wünsche.«

Ohne eine Antwort zu geben, entfernte sich der also Angeredete. Er ärgerte sich wütend über seine Dummheit, daß er den Gott weiß aus welcher Quelle fließenden jovialen Ton des Chefs zu seinen Gunsten hatte auslegen können.

»Na, Baumann, was machen Sie denn da?« wandte sich der Kommerzienrat jetzt an Ewald, indem er diesem über die Schulter ins Konzept blickte.

»Ich bin mit der Aufstellung der Semestralbilanz beschäftigt, Herr Kommerzienrat.«

»Schon gut,« unterbrach ihn Lang, »schon gut. Sagen Sie mal, sind Sie nicht so etwas wie ein musikalisches Genie, Baumann?« fragte er dann ganz unvermittelt und legte die Rechte auf die Schulter seines Buchhalters.

Tiefe Röte bedeckte Ewalds schmales Gesicht.

War der Chef dort, der alles Vermögende, zu dem er aus der Tiefe seiner ruhm- und besitzlosen Existenz wie zu einem Allmächtigen aufblickte, ein Gedankenleser, und hatte der etwas von dem Gesange des Kühleborn gehört, der eben seine Zahlenreihe, für deren pflichtgemäßes Addieren er doch entlohnt wurde, gestört hatte?

»Na, Sie brauchen aus Ihrem Herzen keine Mördergrube zu machen, Baumann,« lachte nun Lang.

Seine gesunden weißen Zähne blitzten wie zwei Perlenreihen, und, merkwürdig, in diesem Augenblicke mußte Ewald ganz plötzlich und unvermittelt an die schwarzgelockte Irma denken, die mit diesem Faun, der ihr leibhaftiger Vater war, so gar keine Ähnlichkeit hatte.

Und dennoch, dennoch! Der sinnliche Zug um die vollen, schwulstigen Lippen, das gesunde Gebiß und das Lauernde, Forschende, Suchende des Blickes – war ihm das alles nicht auch damals schon aufgefallen, als Irma zu seinem und des Publikums Entzücken die große Partie der Jüdin so wundervoll in jenem Wohltätigkeitskonzerte gesungen, so wundervoll, daß er in einem wahren Rausche sie angedichtet und ihr einen prächtigen, bei seinen Einnahmen schier unerschwinglichen Strauß Lafrance-Rosen mitten im Winter ins Haus geschickt hatte?

An diese dem Buchhalter gar nicht zustehende Annäherung an die einzige Tochter seines Chefs mochte wohl Lang denken, da er plötzlich mit der unverständlichen Anspielung auf Ewalds musikalische Passionen kam.

In Erinnerung an jene schwache Stunde seines Lebens senkte Ewald den Kopf noch tiefer, ganz hinab auf das Buch, dessen Zahlenreihen vor seinen Augen zu tanzen begannen, nur um sich nicht gezwungen zu sehen, dem lauernden, forschenden, suchenden Blicke des Kommerzienrates standzuhalten.

Plötzlich schien Lang sich an jene Episode aus dem Leben seines Buchhalters zu erinnern.

»Na, Baumann,« lachte er, »Sie brauchen keinen roten Kopf zu bekommen. Gedichtet und geschwärmt haben wir alle mal in unserer Jugend, und meine Tochter hat damals ihre Sache ganz reizend gemacht. Das konnte auch vernünftigeren Leuten den Kopf verdrehen. Das Musikalische, das steckt ihr eben von der Mutter her im Blute. – Der Osborn singt heute abend in der Martha. Da wollte ich Sie fragen, ob Sie die Oper schon einmal gehört haben? Vielleicht gehen Sie hin, wir haben doch Dienstags eine Loge, und bei der Hitze bringe ich es trotz Osborn nicht fertig, mich in ein Theater zu setzen.«

Noch ehe Ewald ein Wort des Dankes gestammelt hatte über diese noch nie dagewesene Ehre, daß der Kommerzienrat einem seiner Angestellten einen Platz in seiner Loge anbot, hatte Lang die Abonnementskarte vor ihn auf das Pult gelegt und war in der Tür seines Privatkontors verschwunden.

Da trat der zweite Buchhalter wieder ein.

»Na, hat's einen Rüffel gegeben, Herr Kollege?«

Ewald antwortete nichts. Er schob die Karte in seine Brusttasche, und ein seltsames Gefühl der Unruhe bemächtigte sich seiner in dem Gedanken, daß er heute abend seinen Schulkameraden Osborn von der Loge des Kommerzienrates aus werde singen hören.


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