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V.

Blendend lag der Glast der Nachmittagssonne über dem Garten der kommerzienrätlichen Villa. Hier draußen in dem vornehmen Westen machte sich die Stille des sonntäglichen Nachmittages in der Hitze des Juli doppelt fühlbar. Kein Wagen weit und breit auf dem weißleuchtenden Asphaltpflaster, kein Spaziergänger, der die lange, heiße Straße belebt hätte.

Drinnen in der Stadt hatte wenigstens Leben geherrscht. Da waren die Ausflügler hinaus ins Freie gezogen. Hier lagen die palastähnlichen Villen wie verlassen in den stillen Gärten, und müde senkten die Ziersträucher und Bäume ihre Äste. Durstig neigten die Blumen auf den Beeten und die Rosen an den Stöcken den Kopf.

Wie ein Nachtwandler, den ein ihm selbst Unbewußtes vorwärts treibt, war Ewald an diesem Nachmittage den Weg hier hinausgegangen, das Notenbuch mit Schumanns Dichterliebe unter dem Arm. Kein Wort war zwischen ihm und den Seinen über jenen an Irmas Seite verbrachten Theaterabend gewechselt worden. Nicht einmal Martha hatte er etwas von Irmas ihn so seltsam berührender Einladung erzählt. Mit der Mutter hatte die Schwester heute nachmittag einen Spaziergang in den Wald unternommen. Ewald ahnte, daß sie dort »zufällig« mit Schröder zusammentreffen würden.

Rolf war wie immer seine eigenen Wege gegangen. Seit einiger Zeit unterhielt er eine vornehme Bekanntschaft mit einem Klassenfreunde aus feudalen Kreisen. Hasso von Windheim, der zusammen mit ihm in der Unterprima saß, hatte ihn aufgefordert, an diesem Sonntagnachmittage zusammen mit ihm in den Wald zu fahren. Und die Mutter war stolz gewesen, daß wenigstens einer ihrer Söhne Anschluß in den besseren Kreisen der Gesellschaft fand.

So hatte sich eigentlich niemand von der Familie danach erkundigt, wie Ewald seinen Sonntagnachmittag verbringen würde. Daß er einen Besuch machen wolle, hatte er kurzerhand hingeworfen.

Wen konnten Ewalds Besuche interessieren? Die Mutter nicht, und Rolf erst recht nicht. Und Martha? Sie war in der Tat zu sehr mit der Aussicht des bevorstehenden Zusammentreffens mit Schröder beschäftigt, als daß sie den Bruder nach der Familie, der sein Besuch gelten sollte, gefragt hätte.

Rolf war schon um zwei Uhr aufgebrochen, um sich zu Hasso von Windheim zu begeben. Mutter und Schwester hatten sich kurz vor drei auf den Weg gemacht. So war Ewald für ein paar Stunden allein in der kleinen Wohnung, und seine schwärmerische Phantasie hatte sich hier auch heute trotz allem ein ach wie oft vor die Sinne gegaukeltes schönes Bild der Zukunft ausgemalt.

Die Wohnung draußen im fernen Nordosten der Stadt hatte eine hübsche Lage. Aus den Fenstern des dritten Stockwerkes genoß man die Aussicht auf einen großen, seit kurzem in städtische Anlagen umgewandelten Park.

Hier vergnügten sich die Kinder der kleinen Leute an den Sandhaufen, legten Festungen an und ganze Städte, die in der nächsten Viertelstunde wieder zusammenstürzten, wie die Jugend eben mit großen Plänen und reicher Phantasie ein Haus von Sand in die freie Luft baut.

Dem Treiben der Kleinen hatte Ewald eine ganze Weile zugeschaut, und fast war es ihm gewesen, als könne er Irma und deren Einladung für diesen Nachmittag vergessen.

Dann war er von einem Zimmer in das andere durch die Wohnung gegangen und hatte sich vorgestellt, wie schön es wäre, wenn er das alles sein eigen nennen könnte. Wenn er nicht an die Mutter und an die Geschwister gebunden wäre, wenn er zusammen mit einer einfachen und geliebten Frau sein kleines sauer verdientes Gehalt hier verzehren könnte, wenn eine solche hier an seiner Seite den bescheidenen Haushalt führte.

Bei diesem Gedanken war ihm das Mißliche seiner gegenwärtigen Lage wieder zum Bewußtsein gekommen. Viele Jahre arbeitete er nun schon in Langs Geschäfte, und sein Gehalt würde wohl sein Lebtag höchstens um drei- bis sechshundert Gulden steigen.

Für sich allein hätte er ja eine nach seinen Ansprüchen glänzende Stellung gehabt. Aber da wollte Martha heiraten, Rolf sollte studieren, Paulchen saß noch auf Quarta, die Ansprüche der Mutter wuchsen von Jahr zu Jahr, das konnte dauern und dauern, zehn, vielleicht fünfzehn Jahre, bis er ein alter vergrämter Junggeselle geworden war.

Wenn er so an andere junge Leute seines Alters hier in der Großstadt dachte! Die wohnten für sich. Wenn die nicht heirateten, dann hatten sie in seinem Alter ihr festes Verhältnis mit einer Ladnerin oder sonst einem Mädchen aus dem Volke und genossen die Freuden der Jugend und der Liebe von Grund aus. Oder aber sie lebten in Saus und Braus. Sie saßen des Abends bis tief in die Nacht mit ihren Kollegen zusammen, tranken und spielten und fanden ein Mädchen der Straße, in dessen Armen sie wenigstens empfanden, daß sie jung waren und das Leben nach ihrer Weise leben konnten.

All das kannte Ewald nur vom Hörensagen. Die eiserne Pflicht, die sich wie ein schweres Schicksal auf seine Jugend gelegt hatte, hielt ihn von allem zurück. Sein ängstlicher Sinn ließ ihn rechnen und rechnen mit jedem Groschen. An jedem Letzten lieferte er sein Gehalt getreulich der Mutter ab und ließ sich von dieser ein monatliches Taschengeld geben, mit dem er seine persönlichen Bedürfnisse und, ach wie oft noch, die Rechnungen für den Schneider und den Schuhmacher bestritt.

So war es gekommen, daß er auch heute noch dem Problem Weib wie ein kleines Kind gegenüberstand. Seine phantasiereiche, im Grunde ihres Wesens sinnliche Künstlernatur hatte ihn schwärmen, dichten und träumen lassen. Ein Rätselvolles, Ungekanntes, aber Heißbegehrtes, stand das Weib im Mittelpunkte seines Denkens und Fühlens, ein Phantom, dessen Besitze er nachjagte, und das ihm jedesmal im Greifen wieder schwand.

In solche Gedanken versunken, hatte er lange an dem Fenster der mütterlichen Wohnung gestanden und so dem Spiele der Kiemen drunten in der städtischen Parkanlage zugeschaut. Wie sie Sandhaufen auf Sandhaufen türmten zu Festungen und Wällen, die ein Windstoß oder ein Regenguß morgen, vielleicht schon heute, in tausend, tausend wertlose Körner zerstreuen würden.

Und mit einem Male hatte es ihn gepackt mit leidenschaftlicher Gewalt.

Da stand sie vor ihm, Irma, die schwarzgelockte Jüdin, die ihm den blendendweißen Nacken neulich im Theater gezeigt, Irma, das Rasseweib mit den rätselvollen und unergründlichen Augen, die ihn für heute zu sich in die Villa geladen hatte, die er liebte von den Tagen des Gymnasiasten an mit jener seltsamen, jeden Widerstand brechenden Liebe des keuschen Jünglings, dem Genuß und Besitz die Seligkeit der im Unerreichbaren schwelgenden Phantasie noch nicht geraubt haben.

Er hatte den Platz am Fenster verlassen und sich vor dem Klavier niedergesetzt. Sein Lieblingslied aus Schumanns Dichterliebe, das so oft von ihm gesungene, war, von seiner schönen Baritonstimme in inniger Sehnsucht vorgetragen, wie ein heiliges Bekenntnis durch die trauten Räume gewallt!

Dann hatte er sich aufgemacht, wie von tausend unsichtbaren Fäden hingezogen zu der einen, die für ihn in dieser Stunde das Weib mit allen seinen Rätseln, seinen ihm unergründlichen Freuden und Schmerzen war.

Und nun stand er vor der Villa ihres Vaters, in deren Musikzimmer, wie er wußte, wie er als Schicksalswille zu empfinden glaubte, Irma seiner wartete.

Noch einen Augenblick zögerte er. Dann schritt er langsam über den in blendenden Sonnenstrahlen leuchtenden Kies des Gartens und klingelte an der Tür. Hell und klar, als wollte er ihn aus seinen phantastischen Träumen aufschrecken, drang der Ton der Glocke an sein Ohr.

Wortlos reichte er dem ihm öffnenden Diener Hut und Stock, und wie aus weiter Ferne drangen dessen Worte: »Das gnädige Fräulein erwarten den Herrn im Musiksalon«, an sein Ohr.

Er folgte dem vorangehenden Diener, der die Treppe zum ersten Stockwerk der Villa hinanstieg, und stand nach wenigen Minuten in dem in tiefe Schatten gehüllten Musikzimmer, wo ein großer und schwerer Konzertflügel über die Hälfte der Zimmerwand einnahm. Der bunte Perser, der den Boden des Zimmers bedeckte, dämpfte seine Schritte. Kaum vernahm er die Stimme des Dieners:

»Das gnädige Fräulein werden sogleich erscheinen.«

Nun war er allein. Das einzige große Fenster des Raumes lag nach Osten, so daß in dieser Nachmittagsstunde kein Sonnenstrahl in das Zimmer drang. Eine düstere Gruppe ausländischer Koniferen stand draußen dicht vor diesem Fenster im Garten, hohe, alte Stämme, die dem Zimmer jeden Schein des grellen Lichtes nahmen. Es war so wunderbar hier, so still, so kühl, so erquickend, sonderlich für ihn, der soeben den langen Weg durch die Gluthitze dieses Nachmittages gemacht hatte.

Er ließ sich in einen der breiten, bequemen Sessel fallen, deren fast schwarzer Sammetüberzug im Einklang zu dem aus tief schwarzem poliertem Ebenholz gefertigten Flügel stand.

Draußen auf einer hohen Edeltanne saß eine Schwarzamsel und flötete mit süßen Tönen in den sonnenklaren Nachmittag hinein.

An der mit dunkelrotem Seidenstoffe überzogenen Wand hingen nur wenige Bilder, die die Macht der Töne über das Gemüt des Menschen versinnbildlichten: die heilige Cäcilie am Klavier, eine Darstellung Mignons und des Harfners, sowie eine Tanzszene, die er nicht kannte. Ein auserlesener Geschmack mußte die Einrichtung dieses Musiksalons ausgewählt haben. Doch da fiel ihm auf, daß das Ganze eher einen altfränkischen als einen modernen Eindruck machte, und da erinnerte er sich auch an Irmas Mutter, die ja selber Sängerin gewesen war, und von der die Rede ging, daß sie sehr kunstliebend gewesen sei.

Die in das Seitenzimmer führende Tür öffnete sich leise, und Irma trat ein. »Sie sieht heute so ganz anders aus als damals in der Loge des Theaters,« mußte Ewald sofort beim ersten Anblick des Mädchens denken. Ein leichtes, weißes, faltenreiches Gewand aus glänzender Seide schmiegte sich um den vollerblühten Körper, die duftige Taille gab in weiten Spitzenärmeln die wundervollen Arme fast zur Hälfte frei, und das tiefschwarze, geringelte Haar fiel in langen Flechten wie ein wallender Mantel über Hals und Rücken hinunter.

War's doch, so mußte Ewald unwillkürlich denken, als ob es Irma heute darauf abgesehen hätte, ihn zu verwirren. Wie oft hatte er sich selbst bei dem Gedanken ertappt, daß er dieses pechschwarze Haar der wundervollen Jüdin in großen, langen Flechten um seine Hände schlinge, daß er das glühende Gesicht vergrübe in diese Locken, von denen heute ein seltsamer, ihm den Atem benehmender, die Sinne aufpeitschender Duft ausging.

Gemessenen Schrittes kam Irma auf ihn zu Und reichte ihm fast feierlich die schmale, weiße, auch heute mit blitzenden Edelsteinen geschmückte Hand.

»Haben Sie Dank, Herr Baumann,« sagte sie, »daß Sie Ihr Versprechen gehalten haben und hierher gekommen sind. Und pünktlich sind Sie, das muß ich Ihnen lassen. Drei Minuten nach halb fünf. Ich hätte aber auch sicher den Wagen anspannen und Sie holen lassen,« versuchte sie nun zu scherzen, »wenn Sie nicht zur Stelle gewesen wären.«

Er hatte sich erhoben. Nun stand er dicht vor ihr, mit seinem blonden Kopfe ihre immerhin stattliche Gestalt um ein beträchtliches überragend.

»Das war doch selbstverständlich,« stammelte er, »daß ich kam. Hat sich das Befinden des gnädigen Fräuleins rasch gebessert?« fragte er dann, sich an die schnelle Flucht aus dem schwülen Theatersaale und an Irmas seltsames Betragen auf dem Wege nach der Villa erinnernd.

Irma nickte leise mit dem Kopfe.

»Übrigens herrlich hier,« fuhr er dann fort. »Dieses Musikzimmer und die Aussicht in den Garten, das richtige Plätzchen zum Phantasieren und Träumen, wie geschaffen für Schumann!«

»Richtig,« sagte sie, »Sie haben Ihre Noten doch mitgebracht, zeigen Sie her!«

Er überreichte ihr das Buch, in dem sie gedankenlos zu blättern begann.

»Hören Sie,« meinte sie dann nach einer langen Pause, »ich habe nachgedacht in diesen Tagen über das Thema, von dem wir neulich zusammen gesprochen haben. Eine Schuld im Sinne unserer landläufigen Moral kann ich mir gar nicht denken. Jedes Ereignis, und sei es auch nach unserem Dafürhalten das entsetzlichste, scheint mir nichts anderes als die Summe äußerer, von uns selbst ganz unabhängiger Posten zu sein. Ergibt eben diese Summe das Resultat, das uns glücklich macht oder zugrunde richtet, so ist das eine Tatsache, an der wir aus eigener Machtvollkommenheit so gut wie nichts zu ändern imstande sind.«

Mit großen Augen sah er sie an.

Wie kam es, daß sie wieder dieses Thema anschlug? Warum sprach sie wieder von einer Schuld, sie, der doch solche Gedanken bei ihrer Jugend und bei dem Reichtum, der sie umgab, eigentlich ganz ferne liegen mußten, sie, die das Leben genoß, ohne danach zu fragen, woher die Mittel zu diesem Leben kamen?

Als sie das Erstaunen bemerkte, das sich deutlich auf seinen Gesichtszügen widerspiegelte, ließ sie das soeben angeschlagene Thema unvermittelt fallen und sagte in gleichgültigem Tone:

»Ich langweile Sie mit meiner Philosophie, Herr Baumann, ich habe Sie ja auch hierher gebeten, um Schumann und nicht mich zu Worte kommen zu lassen. Sehen Sie, ich habe das Lied gerade aufgeschlagen. Also bitte, beginnen Sie, singen Sie mir das Lied.«

Er öffnete den Flügel, und sie nahm auf dem Klavierstuhle Platz.

»Ich werde es erst rasch einmal durchspielen,« sagte sie, »damit ich während Ihres Gesanges nicht stecken bleibe.«

Er lauschte andachtsvoll den Akkorden, die sie nun auf dem Klavier erklingen ließ. Es war ein herrlicher Ton, den dieser Flügel hatte, wie er ihn selten in seinem Leben gehört, ein prächtiges Instrument, das wohl Tausende gekostet, und dessen Klangfülle er unwillkürlich mit dem Tone des alten Klimperkastens, der zu Hause in der Wohnung der Mutter stand, verglich.

»Es wird schon gehen,« meinte sie, nachdem sie die erste Strophe des Liedes beendet.

Und er, der Schumanns Lieder fast alle auswendig kannte, erhob sich und stellte sich an ihre Seite.

Mit wundervoll kräftigem Anschlage begleitete Irma, und seine einschmeichelnde, volle und dennoch zarte Baritonstimme klang durch den stillen Raum:

Ich hab' im Traum geweinet,
Mir träumte, du lägest im Grab.
Ich wachte auf, und die Träne
Floß noch von der Wange herab.

Ich hab' im Traum geweinet,
Mir träumt', du verließest mich,
Ich wachte auf und ich weinte
Noch lange bitterlich.

Ich hab' im Traum geweinet,
Mir träumte, du bliebest mir gut,
Ich wachte auf, und noch immer
Strömt meine Tränenflut.

Er hatte das Lied beendet, tiefe Stille herrschte in dem schwülen Raume. Irma blickte starr vor sich hin.

Zwei helle Tränen glänzten an ihren Wimpern, als sie nun die großen schwarzen Augen zu ihm emporschlug und in leisem Tone flüsterte:

»Wie wunderbar Sie das gesungen haben, Herr Baumann, als ob etwas von den Tränen des Dichters in Ihrer eigenen Seele lebte! An wen dachten Sie, als Sie dieses Lied mit solcher Inbrunst sangen?«

Er geriet in tödliche Verlegenheit. Was sollte er antworten?

Schweigend, mit hochgeröteten Wangen und leuchtenden Augen, sah er sie eine lange Weile an, sie, von der seine Sinne in all den vergangenen Tagen, seit jenem Abend im Theater, geträumt hatten. Und noch einmal vernahm er ihre leise geflüsterte Frage:

»An wen haben Sie gedacht?«

Wieder das zagende, verlegene Schweigen auf seiner Seite. Und sie fuhr in leichtem, fast scherzendem Tone fort:

»Ich will mich nicht in Ihre Geheimnisse drängen, Herr Baumann! Aber wer solch ein Lied singt wie Sie, der singt es nicht hinein in die Winde, gedankenlos und ohne sich im Geiste an jemanden zu wenden. Es muß ein herrliches Gefühl sein, sich von einem Menschen so angebetet zu wissen.«

Nun hatte er das entscheidende Wort auf den Lippen.

Er mußte alle seine Willenskraft zusammennehmen, um nicht niederzusinken vor dem schönen, schwarzgelockten Mädchen und ihr zu sagen: »Du bist es, Irma, an die ich dachte, während ich das Lied von Schumann sang.«

Der Kommerzienrat stand in diesem Augenblicke vor seinem geistigen Auge, der Mann, der über Millionen gebieten konnte, der ihm wohl die Tür weisen und ihn aus seiner Brotstelle jagen würde.

War es nicht überhaupt unerhört, daß er dem Rufe Irmas nachgegeben und sie so mir nichts dir nichts in der Villa ihres Vaters aufgesucht hatte? Was würde er wohl sagen, wenn sich jetzt die Tür des Musikzimmers öffnete, und Lang mit seinem forschenden Blicke und dem sarkastischen Lächeln um die Mundwinkel plötzlich in das Zimmer träte? Wie ein Schulbube würde er vor dem Gewaltigen stehen, keines Wortes, keiner Entschuldigung mächtig. Daß er sich nicht vorher das alles reiflich überlegt hatte!

Mit aller Macht seines Willens zwang er sich zur Ruhe und sagte:

»Das gnädige Fräulein finden in dem Tone meiner Stimme etwas wieder, was der Dichter und der Komponist in ihre Schöpfung hineingelegt haben. Es ist doch wohl die Sache des Vortragenden, Sinn und Gefühl des Kunstwerkes zum Ausdruck zu bringen.«

Aber Irma beharrte auf dem einmal Gesagten.

»Das wohl, Herr Baumann,« erwiderte sie, »das wohl! Aber, es gibt ein Gewisses, das alle Kunst nicht zu geben vermag, wenn es nicht wie ein Stück Natur in unserem Innersten selber lebt. Es gibt Sänger, die uns trotz aller Meisterschaft kalt lassen, und es gibt Leute, die ein Lied stammeln und dennoch uns in den Tiefen des Herzens treffen. Sie sind unglücklich, Herr Baumann, das habe ich aus dem Tone, den Sie auf die Worte ›Ich hab' im Traum geweinet‹ legten, deutlich herausgehört.«

Fragend, fast lauernd wollte es ihm scheinen, waren Irmas Augen bei diesen Worten auf ihn gerichtet. Es schien ihm, als messe sie seine ganze Gestalt von oben bis unten wie eine Beute, die man sich nicht wieder entschlüpfen läßt. Furcht vor diesem rätselhaften Wesen, das hier offenbar ein schlimmes Spiel mit ihm treiben wollte, bemächtigte sich seiner in diesem entscheidenden Augenblicke, und sein so stark entwickeltes Wahrhaftigkeitsgefühl, sein männlicher Stolz bäumten sich plötzlich dagegen auf.

»Es gibt Leidenschaften und Wünsche in der Menschenbrust, mein gnädiges Fräulein,« sagte er nun in festem Tone, »die wir in dem Innersten verschließen müssen. Wenn unser Verstand einsieht, daß das Ziel, nach dem das Herz seine Wünsche richtet, ein unerreichbares, ein zu hoch gestecktes ist, dann ist es Pflicht des Mannes, zu schweigen und mit sich ganz allein ins reine zu kommen. Man nennt das sein Herz besiegen und sich selbst überwinden! – Es war töricht von mir, daß ich gekommen bin, leben Sie wohl.«

Nun war es doch über seine Lippen gekommen.

Groß und fragend schauten ihm ihre schwarzen Augen entgegen, und er, von seinem Gefühle mit einem Schlage überwältigt, fuhr fort:

»Da Sie in mich dringen, sei es gesagt, selbst auf die Gefahr hin gesagt, daß mir Ihr Herr Vater morgen die Tür weist. Es war ein schwarzlockiges Mädchen, dem ich als Gymnasiast nachlief an allen Straßenecken, als ich noch den Traum hatte, ein großer Künstler zu werden! Wer kann dafür, daß er in seiner Jugend stolze Pläne hat? Wir sollten sie alle haben, Fräulein Irma! Leben Sie wohl.«

Da flog sie an seinen Hals.

»Ewald, Sie lieben mich, du liebst mich, Ewald,« stammelte sie. »Wirklich, du hast das kleine Mädchen, dem du an allen Straßenecken nachliefst, nicht vergessen? Du wirst es nicht im Stiche lassen, Ewald?«

Alle Selbstbeherrschung war nun von ihm gewichen. Den blühenden Mädchenleib in seinen Armen, verlor er den letzten Rest von Fassung.

Sein Mund suchte ihre glühenden Lippen.

»Ja, ja, Irma,« stammelte er. »Ja, ich liebe dich, ich habe dich immer geliebt. Was soll nun werden? Was soll nun aus uns beiden werden?«

»Ich werde dem Vater alles sagen,« antwortete sie ruhig, »und dann wird er mit dir reden.«

Noch einmal suchten ihre Lippen die seinen. Es war ein feierlicher, fast förmlicher Kuß, den sie nun auf seinen Mund drückte, ein Kuß, aus dem die Leidenschaft, die sie vorhin so ganz beherrscht hatte, ihm mit einem Male gewichen schien. Wie die Besiegelung dieses Verlöbnisses, das ihn so jählings überrascht hatte, kam ihm dieser Kuß von ihrer Seite vor.

Dann verließ sie langsamen Schrittes das Zimmer, und er war allein.

Wie ein Nachtwandler war er gekommen. In einem seltsamen Zustand unerklärlicher Willensschwäche trat er den Heimweg an. Es war ihm unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen, nur das eine wiederholte er sich ein über das andere Mal: »Irma Lang, die Tochter deines Chefs, hat sich heute mit dir verlobt.«


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