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XVII.

In dem blauen Salon, den sie sich zur Stätte ihrer Wirksamkeit erkoren hatte, saß Frau Baumann vor dem Schreibtisch.

Kaum eine Stunde war seit jener Szene zwischen Irma und Ewald in dem einsamen Pavillon verflossen, und schon stand ihr Entschluß fest. Heute oder nie mußte sie Schloß Schönblick mit allen seinen Reichtümern und Schätzen auf immer für sich und ihre Familie erobern.

Bebend vor Wut hatte sich Irma in ihre Zimmer zurückgezogen. Die Verletzungen, die ihr Ewald mit dem Stiele des Spatens beigebracht, waren nicht gefährlicher Natur. Aber schmerzvoll war diese furchtbare Lektion gewesen, und die Striemen und Beulen, die ihren schönen weißen Körper bedeckten, würden wohl einiger Wochen bedürfen, um vollständig zu verschwinden. Mehr als aller körperlicher Schmerz quälten sie jetzt die Wut und der Haß, die sie nun gegen diesen Mann erfüllten, gegen ihn, der es zum ersten Male in seinem Leben gewagt hatte, sich zu wehren, und der da in seiner Verzweiflung und in seinem Zorne keine Grenze mehr gekannt.

Die Versicherung Frau Baumanns, daß sie Ewald unschädlich machen, daß sie alles zum besten wenden werde, hatte bei Irma wenig gefruchtet. Das Niedrige in Irmas Natur kam infolge der unerhörten Schmach, die ihr Ewald angetan, deren Zeugin seine Mutter gewesen, mit elementarer Gewalt zum vollen Durchbruch. Ein Dirnlein war sie bislang gewesen, ein ewig liebesgieriges, vollsaftiges, geiles Weib, das sich zur Befriedigung ihrer körperlichen Lüste einst dem leichtsinnigen Lothar von Brandt preisgegeben und sich nun in der Ehe ihrem Mann stündlich mit allem ihr zu Gebote stehenden Raffinement angeboten hatte. Nun erwachte der Dämon in ihrer Seele, der unvermeidlich die Brücke von der Straßendirne zur Verbrecherin baut.

Auch sie sann nach, wie sie an dem, der sie körperlich gezüchtigt und seelisch in den Staub getreten hatte, blutige Rache nehmen könne.

Den mit Wunden und Striemen bedeckten Körper in nasse Umschläge gehüllt, lag sie auf dem Ruhebette und zerbrach sich den Kopf, was anzufangen sei, um Ewald in aller Stille, ohne daß ein Mensch etwas davon bemerkte, völlig zugrunde zu richten. Wie, wenn sie ihm ein langsam tötendes Gift, das ihm unsägliche Qualen bereiten sollte, unter die Speisen mengte, damit er in langen Wochen eines qualvollen Todes starb? Wie war das anzufangen? Sie überlegte, sie klügelte nach.

Ein kalter Schauer rann über ihren Körper. Wenn das Geringste davon bekannt würde, wenn man sich über diesen Tod Ewalds wunderte, wenn Verdachtsmomente aufstiegen, wenn man die Leiche exhumierte und Spuren des Giftes in den Eingeweiden des Toten fand? Was dann?

Vor den Augen ihrer aufgeregten Phantasie stiegen der Gerichtssaal mit den Geschworenen, der Staatsanwalt und die Richter, der Henker und seine Knechte empor. Meuchelmord, Giftmord, Todesstrafe!

Sie fuhr zusammen und hüllte sich zitternd in den seidenweichen Mantel aus Sealskin, den sie, ihren unter den nassen Tüchern erschauernden Körper zu erwärmen, um sich gelegt hatte. Das ging nicht, physisch durch Gift konnte sie den Verhaßten nicht aus der Welt schaffen. Aber, aber!

Am Ende war er seelisch völlig zugrunde zu richten. Den Triumph einer Scheidung, die er wünschte, sollte er niemals haben, frei, frei von ihr, die er mit Füßen getreten und von sich gestoßen hatte, durfte er, wenn auch Bettler, in seinem Leben nicht mehr sein!

Was hatte Frau Baumann gemeint? Unschädlich wollte sie Ewald machen, alles zum besten lenken, wie sie sich ausgedrückt?

Irma zermarterte sich den Kopf. Was konnte die kluge, die energische Frau, von der sie selbst nur zu gut wußte, daß sie in den wenigen Monaten ihres Aufenthaltes auf Schloß Schönblick die ganze Herrschaft an sich gerissen hatte, nur im Schilde führen? Sollte sie sich mit Ewalds Mutter in Verbindung setzen, sollte sie Frau Baumann ausforschen, was zu tun sei, um Ewald unschädlich zu machen und seiner Seele zu gleicher Zeit all die Qualen aufzuerlegen, die er als ihr Peiniger nach ihrer Überzeugung verdiente?

Nein! Frau Baumann sollte nach ihrem Gutdünken handeln. Frau Baumann hatte nur selbstsüchtige Beweggründe. Nicht Irmas Rache galten ihre Pläne, sie galten allein dem Besitze, den festzuhalten der Bestand ihrer Ehe mit Ewald die unvermeidliche Bedingung war. Was die tat, lag nicht in ihrem Interesse, die handelte allein für sich. Aber trotzdem! Ihr Handeln konnte zu gleicher Zeit, wenn es auf Ewalds sittliche und persönliche Vernichtung hinauslief, demselben Ziele, das auch sie erstrebte, nahe kommen.

Freilich Ewalds Tod, an den auch sie vorhin gedacht hatte, der lag nicht in Frau Baumanns Interesse. Wenn Ewald starb, wenn sie Witwe und frei war, dann hatten die Baumanns nichts mehr auf Schloß Schönblick zu suchen. Dann würden sie ihrer Wege gehen, wie sie gekommen waren, und mit Frau Baumanns Herrschaft und ihrem Reichtum war es ein für allemal aus.

Der Kleine drüben, der den Namen Baumann trug, der Bankert, wie ihn ihr Peiniger genannt hatte, der war dann der Erbe, und die andern hatten sich um nichts mehr zu kümmern, denn das Kind ging allein die Mutter an und nicht die Großmutter oder gar die Tanten und die Onkels. Sie und ihr Vater hatten dann für dieses Kind zu sorgen, und wenn es hundertmal den Namen Baumann trug!

Das mußte schon etwas anderes sein. An Ewalds Tod konnte Frau Baumann nicht gedacht haben, sie führte etwas anderes gegen ihren ältesten Sohn im Schilde!

Plötzlich lachte Irma vor sich hin. – Nun war sie auf der richtigen Fährte. Mochte Frau Baumann machen, was sie wollte, die Mittel besaß sie selber noch, um Ewald zu quälen, um ihn, den Mann der Tugend und der Ehre, den allein der Gedanke an Lothar von Brandt rasend gemacht hatte, zu vernichten. Er war ihr Mann, und das Kind trug seinen Namen. Und er selber hatte ihr ja diesen Weg gewiesen, er selber hatte ihr dieses Mittel an die Hand gegeben. Das Liebesnest hatten die Leute hier schon im Sommer Schloß Schönblick genannt!

Wie wenn sie ihn und seinen Namen, auf den er sich doch so viel zugute zu tun schien, wirklich in den Kot der Gasse zog? Schön war sie und liebestoll, und sinnengierig, brünstig hatte sie sich oft selber in Stunden stiller Überlegung ihres seltsamen Wesens genannt. War der Liebestempel draußen im Walde, waren die mit Ewald auf Schloß Schönblick gefeierten Orgien nur Episoden in ihrem Leben gewesen, oder hatte sie es dazu, die Männer an sich zu locken und zugrunde zu richten, wie jene Heldin des französischen Romans, den sie noch gestern mit flammenden Wangen gelesen? Hatte sie selber solch eine Vampirnatur, wie der Dichter sich dort ausgedrückt hatte, die das Mark aus den Knochen und das Blut aus den Adern der Männer zu saugen verstand? Am Ende!

Und das würde ihre Rache an Ewald sein, daß sie das Schloß wirklich zum Liebesneste machte, daß sie sich an den Hals warf einem jeden, der sie begehrte, daß sie Befriedigung in dem Austoben ihrer Lüste fand, daß sie den Namen dessen besudelte und in den Kot zerrte, der sie zu Boden geworfen und mit Füßen auf ihr herumgetreten hatte!

Daran würde er zugrunde gehen, ohne Gift und ohne Dolch, und ohne daß sie Angst vor den Gerichten zu haben brauchte.

In diesem Gedanken jauchzte sie auf, alle ihre Sinne vereinigten sich auf dieses eine wollüstige Bild, sie in ihrer Schönheit und in ihrer Weiße, in ihrem unersättlichen Liebeshunger die Vernichterin dieses Mannes, der sie an sich gefesselt, den sie physisch und seelisch ausgepreßt hatte und ausgesogen wie eine reife Frucht, deren Gehäuse sie nun verächtlich von sich schleuderte, um die begehrliche Hand nach neuen, säftereichen Früchten ausstrecken zu können.

Die Diener und die Gärtner, die Kutscher und die Stallknechte waren da, denen sie sich an den Hals werfen konnte, o, sie schreckte vor keinem zurück!

Aber plötzlich überlief sie dennoch das Grauen, daß sie sich ja dann diesen Leuten in die Hände gäbe, daß sie sich abhängig von diesen Menschen machen würde. Sie hüllte sich fester in den Pelz, als ob sie die Frechen, die sie eben alle in Gedanken geladen, schon von sich abhalten müsse.

Da fiel ihr der junge Verwalter, Frau Baumanns rechte Hand, ein. Das war ein schöner Mensch, schlank wie eine Tanne, in der Blüte seiner achtundzwanzig Jahre mit einem kecken, schwarzen Schnurrbärtchen und klugen grauen Augen. Schon äußerlich ein ganz anderer, als der schmächtige Ewald mit den aschblonden Haaren und dem schmalen, fast bartlosen Gesichte. Der wäre so einer für sie gewesen!

Aber die Zofe hatte ihr neulich erzählt, daß der in der Heimat eine Oberförsterstochter als Braut sitzen habe, und daß er täglich einen Brief an die Verlobte schreibe. Gleichviel! Ein neuer Reiz, sie anzustacheln, daß sie alle Mittel in Bewegung setzte, ihn der anderen abspenstig zu machen und dem Verwalter vor Ewalds Augen ihre Gunst zu schenken.

Sie grübelte weiter nach, wenn der nun stolz war und eigensinnig, so sah er nämlich aus, wenn der festhielt an der Treue zu der Verlobten und sie am Ende die Künste ihrer Verführung umsonst spielen ließ? Was dann?

Und da trat plötzlich, als sei's eine Eingebung des Schicksals, das Bild Rolfs vor ihre Seele. Ostern stand ja vor der Tür. Zu Ostern würde Rolf das Gymnasium verlassen, eine Kleinigkeit, ihn auf das Schloß zu laden, bevor er als Avantageur in die Armee trat!

Rolf, Rolf, Ewalds Bruder, und doch in allem sein Gegenteil! Wie hatten schon Rolfs große, dunkelbraune Augen an ihrer Gestalt gehangen, zu Weihnachten, da er auf dem Schlosse gewesen, o, sie hatte es wohl bemerkt. Rolf, der Achtzehnjährige, sein Bruder, den wollte sie an sich fesseln, mit Rolf wollte sie ihren Mann betrügen, das würde Ewald tödlich treffen, wenn der neue Verführer seiner Frau sein eigener leiblicher Bruder war!

Eine wilde Wollust beschlich sie bei diesem Gedanken. Sie wollte Frau Baumann die Idee beibringen, Rolf zu den Osterferien auf Schloß Schönblick zu laden und dann – den unerfahrenen Bengel, der sie immer mit lüsternen Augen von oben bis unten gemessen hatte, den würde sie rasch in ihre Netze gelockt haben, und tödlich würde Ewald die Erkenntnis treffen, daß sein eigener Bruder der Geliebte seines Weibes geworden sei.

Und während Irma drinnen in demselben Zimmer, in dem sie einst zum ersten Male Ewalds eigen geworden war, den Plan zu dessen Vernichtung durchdachte, trug Frau Baumann den folgenden, an Lang gerichteten Brief persönlich zur Post:

 

»Verehrter Herr Kommerzienrat!

Außer mir und in tiefer Trauer muß ich Ihnen endlich Mitteilung von einer Sorge machen, die mich in all den Wochen meines Aufenthaltes auf Schloß Schönblick gequält und die heute ihre furchtbare Bestätigung gefunden hat.

Ich weiß nicht, ob es Ihnen bekannt ist, daß ein Bruder meines verstorbenen Mannes vor vielen Jahren an einer wilden Tobsuchtsanfällen folgenden Gehirnerweichung im Irrenhause gestorben ist. O, ich bin so unglücklich! Die Symptome dieser furchtbaren Krankheit haben sich in den letzten Wochen bei meinem Sohne Ewald bemerkbar gemacht. Ich wollte nicht daran glauben, bis mich heute ein schrecklicher Vorfall von der entsetzlichen Wahrheit überzeugt hat. In einem solchen Anfalle, wie ich ihn auch bei dem armen Bruder meines Mannes zu beobachten Gelegenheit gehabt, hat Ewald heute seine Frau mißhandelt.

Ich habe sofort die nötigen Maßregeln ergriffen und ihn von zwei Männern fesseln lassen, um weiteres Unheil zu verhüten. Aber helfen Sie uns, wir sind verzweifelt. Schicken Sie schleunigst einen Nervenarzt und zwei sachverständige Wärter! Oder kommen Sie am besten selbst, damit wir zusammen die unbedingt notwendigen Maßnahmen treffen können.

Ihre unglückliche
Katharina Baumann.«

 

Am folgenden Morgen traf der Kommerzienrat in Begleitung seines langjährigen Hausarztes auf Schloß Schönblick ein.

Von Frau Baumann wurden die beiden Herren in dem blauen Salon des Erdgeschosses empfangen. Irma, die das Bett hütete, wollte von niemandem, auch nicht von dem Arzte und ihrem Vater, gesehen werden.

Eine tiefe Blässe bedeckte Langs Gesicht, als er der Mutter seines Schwiegersohnes gegenübertrat und diese in Anwesenheit Doktor Humberts nach Einzelheiten über den Anfall Ewalds fragte.

Frau Baumann, die ja genügend Zeit zur Vorbereitung gehabt, begann in verzweifeltem Tone:

»Wie ich Ihnen geschrieben habe, Herr Kommerzienrat, und wie ja wohl auch Sie aus meinem Briefe erfahren haben werden, Herr Doktor, die Krankheit, die mir bei meinem unglücklichen Sohne zum Ausbruch gekommen zu sein scheint, hat in der Familie meines verstorbenen Mannes schon viel Unheil angerichtet. Heinz, meines seligen Mannes jüngster Bruder, ist vor nunmehr zwanzig Jahren an Gehirnerweichung im städtischen Irrenhause gestorben. Mit tiefer seelischer Niedergeschlagenheit, die allmählich in Melancholie ausartete, fing die Krankheit an. Tobsuchtsanfälle wechselten mit Zuständen auffallender Heiterkeit, und endlich ging das Leiden in vollständigen Blödsinn über. Ich habe Ewald in all den Monaten beobachtet und ich fürchte, der Ausgang seiner Krankheit dürfte der gleiche wie bei seinem armen Onkel sein. O, ich bin so unglücklich, so außer mir, das ist kaum zu ertragen, das ist schlimmer als der Tod,« jammerte Frau Baumann.

Mitleidig ruhte das Auge des alten Arztes auf dem von tiefen Furchen durchzogenen und blassen Gesichte der Frau, die ihm hier den typischen Verlauf einer unheilbaren Krankheit wie ein Diagnostiker der Psychiatrie schilderte, eine schreckliche Diagnose, deren Objekt der eigene Sohn dieser bedauernswerten Mutter war.

Langs und Frau Baumanns Blicke trafen sich. Die Augen des Kommerzienrates waren wie im Vorwurf auf Frau Baumann gerichtet, und die kluge Frau las die Gedanken, die sich hinter der Stirn des großen Finanzmannes drängten.

»Als ob ich einen Grund gehabt hätte, dir die Wahrheit zu sagen,« dachte sie, »selbst wenn die Krankheit meines Schwagers eine ererbte und wirklich in der Familie liegende und nicht die Folge syphilitischer Ansteckung gewesen wäre! Hast du mir denn reinen Wein eingeschenkt? Hast du mir gesagt, wie es um Irma stand, als du dein Jawort zu ihrer Verbindung mit Ewald gegeben? Lüge um Lüge, Betrug um Betrug!«

Langs Auge hielt den Blicken dieser Frau nicht stand. Wie traumverloren starrte er vor sich hin, als er nun sagte:

»Erzählen Sie dem Herrn Doktor und mir den Vorfall, Frau Baumann, und vor allem, wie geht es Irma, sie hat doch keinen Schaden gelitten?«

»Ich hoffe, sie wird rasch über die furchtbare Angst und Aufregung, die sie durchmachen mußte, wieder hinaus sein,« erwiderte Ewalds Mutter. »Schon viele Wochen hat sich mein Sohn ganz von seiner Frau und dem Kinde und mir zurückgezogen und sich anscheinend seinen trüben Stimmungen überlassen. Seine musikalische Liebhaberei drohte allmählich in das Krankhafte auszuarten,« fuhr Frau Baumann nun fort. »In einem einsamen Pavillon auf der Insel im Parke hing er seinen Gedanken und Stimmungen nach. Vergebens versuchte ich auf ihn einzuwirken. Irma entschloß sich endlich, zu ihm hinüberzugehen und ihm gütlich zuzureden. Da geschah das Schreckliche, da brach der Wahnsinn aus, und in einem Anfalle der Tobsucht schlug er seine Frau.«

Der Kommerzienrat hatte sich erhoben und war an das Fenster getreten. In Gedanken verloren, schaute er hinaus auf die regenschweren Bäume des wundervollen Parkes, die das herrliche Schloß, das seinen Insassen also doch keinen Segen bringen sollte, wie mit einem dichten Walle umgaben.

Sollte er dieser Frau Baumann wirklich volles Vertrauen schenken? – so fuhr es ein über das andere Mal durch seinen Kopf. Lagen die Verhältnisse am Ende nicht ganz anders? Hatte ihm Seliger nicht erzählt, daß die Lorisson neulich auch bei Ewald gewesen? Konnte Ewald nicht während seiner Ehe mit Irma die volle Wahrheit in Erfahrung gebracht haben? Rächten sich nun der Lug und der Trug, auf die er samt seiner Tochter diese Heirat aufgebaut hatten? Und war Ewald das Opfer?

Ihn schauderte bei dem furchtbaren Gedanken, der ihn eben wie der letzte Schluß eines unabwendbaren Schicksals beschlich.

Sollte die Mutter am Ende aus selbstischen Interessen handeln und den Sohn, von dessen Krankheit er in den vielen Jahren, die Ewald auf seinem Kontor gearbeitet, nichts gemerkt hatte, zum Narren stempeln, um selber in dem Besitze all der Reichtümer und des Glanzes, des Schlosses und seiner Güter zu bleiben?

Frauen waren unberechenbar, und, wenn erst die Habgier in ihrem Herzen geweckt wurde, zu allem fähig.

Nein, nein, das war doch schlechterdings unmöglich – die eigene Mutter! Das ging doch am Ende zu weit! Er wollte den Kranken sehen, wollte an des Arztes Seite sich selber überzeugen. Deshalb sagte er rasch:

»Führen Sie Herrn Doktor Humbert und mich zu Ewald, wir müssen uns selber ein Bild von seinem Zustande machen.«

Frau Baumann zögerte.

»Er ist noch drüben in dem Pavillon, in den er sich in den letzten Tagen zurückgezogen hat.«

Es kam ihr vor, als könne sie Lang mit einem Male nicht mehr trauen, als hätte sie in ihm trotz allem etwas anderes als einen Helfershelfer zu sehen.

»Dann gehen wir nach dem Pavillon,« beharrte Lang.

»Wir haben in dieser Nacht solche Angst ausgestanden,« begann nun Frau Baumann, »wir dachten, der Herr Doktor und Sie würden schon gestern abend eintreffen. Als Sie nicht kamen, bin ich selber in die Stadt gefahren und habe mir einen Wärter aus der Irrenanstalt und einen jungen Arzt besorgt, einen Herrn Doktor Valentin. Ich habe mich schon in dieser Nacht mit ihm ausgesprochen, er bestätigt die Befürchtung, die ich vorhin geäußert habe, daß es sich tatsächlich um das erste Stadium der Dementia handelt.«

»Wenn die Sache so ängstlich war, dann hätten Sie telegraphieren sollen,« erwiderte nun Lang, und Humbert fragte erstaunt:

»Wer ist denn das, der Doktor Valentin, ich kenne diesen Kollegen nicht?«

»Man hat ihn mir in der Stadt empfohlen,« antwortete Frau Baumann, »er soll ein sehr tüchtiger Mediziner sein, der sich allmählich eine ganz schöne Praxis zu machen verstand. Sie kennen ihn nicht, Herr Doktor? Sie können doch unmöglich alle Ärzte in der großen Stadt kennen. Herr Doktor Valentin hat meine Befürchtung bestätigt. Er ist der Ansicht, daß zunächst absolute Ruhe für den Kranken nötig sei und stete Aufsicht durch einen Wärter, da man befürchten müsse, daß sich die Tobsuchtsanfälle wiederholen.«

»So führen Sie uns doch in den Pavillon, Frau Baumann,« sagte nun auch Doktor Humbert, »damit wir uns durch eignen Augenschein von dem Zustand Ihres Herrn Sohnes überzeugen können.«

Jetzt endlich gab Frau Baumann nach. Sie hatte töricht gehandelt, sagte sie sich ein über das andere Mal, daß sie Lang sofort benachrichtigt und diesen zur Hälfte in die Sachlage eingeweiht hatte. Sie hätte gleich an diesen Valentin denken sollen, der draußen in der Vorstadt ein kärgliches Dasein als Armen- und Kassenarzt fristete, und dem daran gelegen sein mußte, einen zahlungsfähigen Patienten Monate, vielleicht Jahre hindurch behandeln zu können, von dem sie nicht zweifelte, daß er für ein paar hundert Gulden die Diagnose nach ihren leicht zu durchschauenden Wünschen einrichten würde.

Was brauchte sie Lang und dessen umständlichen Hausarzt, wenn ihr Sohn an einer unheilbaren Umnachtung seines Verstandes erkrankt sein sollte?

Als sie den Pavillon betraten, bot sich ihnen ein furchtbarer Anblick dar. Doktor Valentin, den Frau Baumann in dieser Nacht mit glänzenden Versprechungen gewonnen, hatte Ewald durch den Wärter die Zwangsjacke anlegen lassen. In dem scheußlichen Gewande mit den langen zusammengebundenen Ärmeln sah der Unglückliche, dem der Schaum der Wut und der Verzweiflung vor dem Munde stand, allerdings wie ein Narr aus.

»Befreien Sie mich,« schrie er den Eintretenden entgegen, »befreien Sie mich von dieser Furie, von meiner Mutter, Herr Kommerzienrat! – Ha, ha,« lachte er dann. »Sie haben ja noch so einen bei sich, eine zweite Autorität neben diesem Ehrenmann hier, der mich ex officio für verrückt erklären soll. Aber ich bin nicht verrückt, ich bin bei Sinnen, ich habe meinen Verstand beieinander, ich werde Ihnen allen den Beweis liefern, daß ich nicht verrückt bin. Ich kenne Sie alle, das da ist meine Mutter und der dort der Kommerzienrat Lang, und den da, und die neue Autorität, die hab' ich noch nie in meinem Leben gesehen. Fragen Sie mich, wann war die Schlacht bei Leipzig? Ich antworte Ihnen: am 16., 17. und 18. Oktober 1813, fragen Sie mich, wieviel ist siebzehn mal siebzehn, ich sage Ihnen zweihundertundneunundachtzig! Ich bin nicht verrückt, ich lasse mich nicht für verrückt erklären. Ich habe um meine Freiheit gerungen, ich habe meine Frau geschlagen, weil mich der Jähzorn gepackt und ich meine Gründe dazu hatte, aber verrückt bin ich nicht. Sie dürfen mich nicht einsperren, Sie dürfen mir diese Jacke nicht anlegen. Sie handeln alle wie Verbrecher. Befreien Sie mich, Herr Kommerzienrat. Ich weiß alles, ich werde zu allem stillschweigen, als ein Bettler will ich von Ihnen gehen, aber geben Sie mir meine Freiheit wieder, sagen Sie, daß ich meinen Verstand habe, hören Sie, erhören Sie mich!«

In der langen Jacke, die ihn an der Bewegung seiner Arme hinderte, hatte er sich vor Lang auf den Boden geworfen und rutschte nun auf den Knien an diesen heran.

Das gefiel Valentin. So sah er wirklich aus wie ein Narr, wenn auch Vernunft in seinen Reden steckte. Er und der Wärter suchten ihn zu beruhigen, sie redeten auf ihn ein, es half nichts.

»Ich bin nicht verrückt, hört ihr, ich bin nicht verrückt, ihr könnt mich nicht zum Narren machen,« rief er ein über das andere Mal. »Fragen Sie mich, wer die drei größten Feldherren im Dreißigjährigen Kriege gewesen sind, ich antworte Ihnen vernünftig: Tilly, Wallenstein und Bernhard von Weimar. Hören Sie, das kann Ihnen ein Narr doch nicht sagen. Haben Sie Erbarmen mit mir, Herr Kommerzienrat, hören Sie!«

Lang wandte sich entsetzt von diesem furchtbaren Bilde ab.

Er wußte in der Tat nicht, sollte er den da, der sich auf dem Boden des Zimmers in wilder Verzweiflung wälzte, Schaum auf den Lippen und Erdfahle im Gesichte, der immer von Daten, Namen und Zahlen, die mit der Sache gar nichts zu tun hatten, sprach, für einen Geisteskranken halten oder nicht.

Doktor Humbert trat an Valentin heran.

Die Herren stellten sich gegenseitig vor. Auch Humbert schüttelte den weißen Kopf und tauschte einige Worte mit dem Kollegen, die die Umstehenden nicht verstehen konnten. Dann wandten sich die beiden Ärzte zum Gehen und forderten Lang und Frau Baumann dadurch gleichfalls dazu auf.

Es war ein gurgelnder, fürchterlicher Laut, ein Schrei der Verzweiflung, der nun auf Ewalds Lippen trat. Der Mann da, der fällte in aller Ruhe, in seiner wahnsinnigen Vertrauensseligkeit sein Todesurteil. Er überließ ihn diesem Menschen, der den Wärter mit der Zwangsjacke gleich mitgebracht hatte, der ihn nach dem Willen seiner eigenen Mutter zu einem Narren machen mußte, damit er der Gatte Irmas, und sie in dem Besitze des Schlosses und der Nutznießung der Langschen Millionen blieb!

»Erbarmen, Erbarmen,« bebten seine mit Schaum bedeckten Lippen, »Gnade, Gnade,« flehten seine blutunterlaufenen Augen, aber Humbert und die anderen waren schon gegangen.

Auch Lang hatte der Anblick Ewalds außer Fassung gebracht. Diese Daten und diese Zahlen, dieses Rechnen, zu dem ihn niemand aufgefordert hatte, das machte entschieden den Eindruck geistiger Umnachtung. Und dennoch! Wenn er wirklich das Vorhandensein seiner klaren Geistes- und Verstandeskräfte dadurch beweisen wollte?

Als sich die Tür des Pavillons hinter Ewald und dem Wärter schloß, erschollen laute Jammerrufe des Unglückseligen. Es war, als wenn sich die Pforte des Irrenhauses für immer hinter ihm zugetan hätte. Weithin über den Teich, auf dessen Oberfläche nun der Nachen mit Frau Baumann, Lang und den beiden Ärzten dahinglitt, vernahm man noch unartikulierte Laute, die aus der Ferne schrecklich an die Ohren der Davonfahrenden drangen.

»Auch mir scheint es nicht unbedenklich,« sagte jetzt Humbert zu Valentin. »Dies Zählen und Rechnen zeigt sich sehr oft beim Beginne geistiger Umnachtung. Hier muß die Zeit das Richtige lehren, hier tut die Beobachtung eben alles. Senden Sie mir in etwa vierzehn Tagen Bericht, und wenn es nicht besser sein sollte, oder wir beide noch im unklaren sind, dann bringe ich den Kollegen Hirschberg von der Anstalt mit. Noch ist es ja möglich, daß es sich trotz allem nur um eine momentane Nervenüberreizung handelt.«

Der Kahn glitt ans Land.

Lang sprach kein Wort mehr.

Was wog hier die Ansicht eines Laien, wo zwei Ärzte gesprochen hatten und sich offenbar noch nicht entscheiden konnten. Da hieß es Geduld haben und warten.

Nachdem die Herren im Schlosse einen kleinen Imbiß zu sich genommen hatten und von Irma trotz wiederholter Anfrage nicht empfangen worden waren, fuhren sie in die Stadt zurück.

Valentin blieb.

Ein Seufzer der Erleichterung entfuhr Frau Baumanns Lippen. Des jungen, armen Mediziners war sie sicher, der würde Ewald sobald nicht aus seiner Behandlung lassen, und den Alten, den Lang mitgebracht hatte, und der so gut wie nichts von Geisteskrankheiten zu verstehen schien, den fürchtete sie fürs erste nicht.


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