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I.

»Das gnädige Fräulein lassen den Herrn Kommerzienrat bitten, heute seinen Tee allein einnehmen zu wollen. Das gnädige Fräulein fühlen sich von der Reise zu sehr erschöpft.«

Mit diesen Worten stellte Joseph, der langjährige Diener des Kommerzienrates Adolf Lang, die Teekanne vor seinen Gebieter.

Aber, noch ehe er sich lautlos aus dem Speisezimmer entfernen konnte, fühlte er Langs schwere Rechte auf seinem Arm.

»Sagen Sie, Joseph, was soll das heißen? Das gnädige Fräulein lassen sich entschuldigen? Seit Jahren ist es Herkommen in meinem Hause, daß ich hier zusammen mit den Meinen vor Geschäftsanfang meinen Tee trinke. Hier hat Irma schon als Kind von fünf Jahren an der Seite ihres verwitweten Vaters gesessen. Und nun mit einem Male lassen sich das gnädige Fräulein entschuldigen? Was soll das heißen, Joseph?«

Joseph räusperte sich verlegen.

Das tat er immer, jedesmal, wenn sein Herr das Wort an ihn richtete.

Dann machte er eine vorschriftsmäßige Verbeugung, wie er sie seinerzeit als Kammerdiener des Herzogs von Nassau in Schloß Biebrich gelernt hatte, und über sein altes, bartloses Gesicht glitt ein bedauerndes Lächeln.

»Der Herr Kommerzienrat entschuldigen,« brachte er nun noch einmal langsam hervor. »Aber das gnädige Fräulein geruhten nicht, mich Gründe irgendwelcher Art wissen zu lassen. Mademoiselle Lorisson gab mir den Auftrag, den Wunsch des gnädigen Fräuleins, heute allein auf ihrem Zimmer frühstücken zu wollen, dem Herrn Kommerzienrate mitzuteilen. Über die Gründe dieses Entschlusses ist mir weiter nichts bekannt.«

»Es ist gut, Joseph! Schicken Sie Fräulein Lorisson zu mir herunter.«

Schon reute es den Kommerzienrat, daß er sich wieder einmal wie so oft dem Diener gegenüber hatte gehen lassen. Unwillkürlich mußte er an seine nun schon viele Jahre in der Erde schlummernde Frau denken, die ihn immer gemahnt hatte:

»Laß doch die Dienerschaft aus dem Spiele, Adolf, der vertrauliche Verkehr mit diesen Leuten schickt sich nicht.«

Während sich Joseph entfernte, um Mademoiselle Lorisson, die Gesellschafterin und Anstandsdame des mutterlosen Fräulein Irma Lang, zu rufen, lächelte der Kommerzienrat im Gedanken an seine Selige still vor sich hin.

Das war ein Glück gewesen, da er endlich seine Rosa heimgeführt hatte! Freilich, damals vor vielen langen Jahren, da ihm ganz unerwartet durch den Tod des in Amerika ansässigen Bierbrauers Salomon Lang ein Vermögen in den Schoß gefallen, da er, der kleine Kaufmann aus der Breitestraße, sich plötzlich in der Lage gesehen, diese Villa im feinen Westen zu erwerben und die vermögenslose Rosa Weiße um ihre Hand zu bitten, damals hätte man ihm Vertraulichkeiten gegenüber der Dienerschaft schon verzeihen können.

Aber heute! Millionär seit fast einem Menschenalter, da war doch wahrhaftig Wasser genug den Fluß hinuntergelaufen, daß er sich allmählich an das Auftreten eines reichen und angesehenen Mannes hätte gewöhnen können!

Und dennoch!

Der kleine Lederhändler aus der Breitestraße, der das Geschäftchen seines Vaters David Lang übernommen und weitergeführt, der in jedem Frühjahr und in jedem Herbste auf der Ledermesse um Heller und Kreuzer gefeilscht hatte, der steckte – das mußte sich Adolf Lang auch in dieser Minute wieder eingestehen – ihm allzu tief im Blute, als daß die Mahnungen Rosas und die eigenen Vorhaltungen, die er sich, ach wie oft, schon gemacht, etwas gefruchtet hätten.

Zu märchenhaft plötzlich, zu unvermittelt, war der Umschwung in seiner Vermögenslage gekommen, ohn' all Verdienst und Würdigkeit von seiner Seite, wie er sich manchmal auszudrücken pflegte, zu rasch, als daß jemals aus dem kleinen Manne aus der Breitestraße der waschechte Millionär des vornehmen Westens hätte werden können.

Mit der ganzen Verachtung des seßhaften Philisters hatte sein Vater David Lang immer von seinem jüngeren Bruder Salomon gesprochen, den eine nicht ganz reinliche Wechselgeschichte einst vor vielen Jahren nach dem freien Amerika geführt.

In der ersten Zeit waren wohl Briefe des Ausgewanderten, zunächst aus New-York und dann aus Milwaukee gekommen: Briefe voller Klagen, in denen Salomon erzählte, daß er als Hausdiener in einem Boarding und dann als Fahrbursche in einer Brauerei der City mühselig sein Dasein fristete.

Dann hatte Adolf Lang viele Jahre kein Sterbenswörtchen mehr von dem verschollenen Onkel gehört. Sein Vater David war inzwischen den Weg alles Irdischen gegangen. Er selber saß als kleiner Lederhändler in der alten Breitestraße.

Und da, eines Tages, als er den Kursbericht überflogen – als sei es heute gewesen, steht dieser Tag noch lebendig vor seinem Geiste – da hatte er in der Zeitung eine Aufforderung gelesen, die der Bürgermeister der argentinischen Stadt Rosario an die Erben eines dort verstorbenen Deutschen namens Salomon Lang erlassen hatte.

Durch das Konsulat in Hamburg sollten Mitteilungen der Erbberechtigten nach dem fernen Südamerika gelangen, da der Verstorbene, der Besitzer einer großen Brauerei, ein beträchtliches Vermögen erworben habe.

Äußerlich ruhig, aber im Innersten vor Aufregung bebend, hatte Adolf Lang damals zur Feder gegriffen und seine Ausweise, daß er Salomon Längs Blutsverwandter sei, an das Konsulat in Hamburg geschickt. Wochen größter Aufregung waren dann allzu langsam verstrichen, und endlich war eines Tages das Unbegreifliche, der Umschwung in seiner Lage, gekommen.

Der kinderlos in Rosario verstorbene Salomon Lang, der einzige Bruder seines Vaters, hatte ein Vermögen von annähernd 160 000 Dollars in Wertpapieren und die blühende Brauerei, die samt einem prachtvollen Wohnhause sein schuldenfreies Eigentum war, hinterlassen.

Mit einem Schlage war Adolf Lang zu den vermögendsten Mitbürgern seiner Vaterstadt emporgestiegen. Das Häuschen in der Breitestraße und die Lederhandlung von David Lang und Sohn wurden verkauft. Mit dem Erlöse und den inzwischen aus Amerika eingetroffenen Geldern gründete Adolf Lang das Bankhaus, das nun in aller Welt geachtet seinen Namen trug, und dessen Stammkapital sich durch der Zeiten Gunst vervierfacht hatte.

War's zu verwundern, daß ihm Rosa, die einer Künstlerfamilie entstammte – ihr Vater und ihre Mutter waren an der Oper gewesen – sein wenig standesgemäßes Auftreten hatte vorhalten müssen, ihm, dem ein einziger Tag ein Vermögen in den Schoß geworfen hatte, und der nun die kleine Sängerin vom Thalia-Theater zu seiner Frau machte?

In der Erinnerung an diese fernen Zeiten, da Rosa Weiße, der Stern des Thalia-Theaters, für wenige Jahre sein Glück und sein Alles gewesen, da er ihr diesen Palast, wie er sein neues Heim damals in stillen Stunden vorwurfsvoll genannt, eingerichtet hatte, mußte er auch eben wieder denken, als er sich bei einer Vertraulichkeit seinem Diener gegenüber ertappt hatte.

Die Friedrichsdorfer Zwiebäcke, die Adolf Lang, dick mit frischer Butter bestrichen, für den Glanzpunkt eines ersten Frühstücks hielt, knackten unter den gesunden Zähnen des Fünfzigers, den ein äußerer Glücksumstand, die Gunst der Zeit und sein angeborener Geschäftssinn rasch und sicher über Tausende emporgehoben hatten.

Schnell, wie das seiner Gewohnheit entsprach, beendete er seine Mahlzeit und lehnte sich dann, seine Dreikreuzerzigarre rauchend, behaglich in den Ledersessel zurück.

Liebevoll glitten seine wasserblauen, etwas hervorquellenden Augen durch das schöne Speisezimmer von einem Gegenstande zum anderen. Es waren herrliche Kunstwerke darunter, deren vornehmste noch der sichere Geschmack seiner Rosa vor vielen Jahren ausgewählt hatte, so daß die Einrichtung einen etwas altmodischen Eindruck machen mußte.

Er sah auf die Uhr. Zwanzig Minuten vor neun!

Wenn er die Füchse anspannen ließ, konnte er in zehn Minuten in seinem Geschäftshause an der Anlage sein. Also er hatte noch Zeit. Viel nach halb zehn zu erscheinen, ging gegen seine Gewohnheit und widersprach seinen Grundsätzen. Der Chef hatte nach seiner Ansicht pünktlich zu erscheinen, so gut wie der jüngste Lehrling. Davon ließ sich Adolf Lang so leicht nicht abbringen. Mademoiselle Lorisson mußte ja auch gleich kommen.

Mit langsamen Schritten ging der Kommerzienrat auf und ab und betrachtete zufrieden schmunzelnd die hundertmal gesehenen Gemälde an den Wänden. Da hingen sie in breiten, goldenen Rahmen, die Stilleben und die Landschaften, für die er, dem Wunsche Rosas entsprechend, vor Jahren schweres Geld geopfert hatte. Er selbst machte sich nichts aus den Malern. Tagediebe, die dem lieben Gott ein Stückchen Wald und Himmel stehlen, hatte er sie früher genannt, damals, da er noch der kleine Lederhändler in der Breitestraße gewesen war, und da die verblaßte große Photographie, die David und Rebekka Lang als Brautpaar darstellte, als einziger künstlerischer Schmuck in dem alten Eß- und Wohnzimmer seiner Eltern gehangen hatte.

Nachdem er reich und Rosas Gatte geworden, durften freilich solche Ketzereien nicht mehr aus seinem Munde kommen. Die kleine Sängerin vom Thalia-Theater, die viele Verehrer, aber keinen Liebsten gehabt hatte, die klug genug gewesen, die auffallende orientalische Schönheit ihrer einundzwanzig Jahre unberührt für einen vermögenden Freier aufzusparen, die hatte ihm wenigstens äußerlich Achtung vor Kunst und Wissenschaft beigebracht.

Nicht nur die weibliche Schönheit und die leichte Pariser und Wiener Operettenmusik, durch die sie sich Adolf Langs Herz erobert hatte, sollten nun gelten. An der Seite seiner schönen Frau mußte er die Kunstausstellungen und die städtischen Galerien, die Oper und das Schauspiel regelmäßig besuchen, und wo es auf dem Gebiete der Malerei und der Plastik etwas Auserlesenes zu kaufen gab, da hatte Rosa nicht nachgegeben, bis sich Adolfs Geldbeutel geöffnet, und das Bild oder die Bronze in ihren Salons einen Platz gefunden hatten.

Vor einem badenden Mädchen aus Marmor machte der Kommerzienrat in seiner Frühstückspromenade Halt. Wie hatte ihn Rosa einst gequält, das im Kunstverein als Erstling eines jungen Bildhauers ausgestellte Werk für dreihundert Gulden zu erwerben. Beinahe wäre es zum Streite zwischen ihm und seiner Frau gekommen. »Dreihundert Gulden für einen Stein,« hatte er damals verächtlich gesagt. Und sie hatte sich schmollend in einen Winkel der Kunstausstellung zurückgezogen und war trotz aller seiner Bitten nicht mehr zum Vorschein gekommen, bis er endlich um des lieben Friedens willen in den Kauf gewilligt. Freilich, daß er den jungen Künstler bis auf einhundertundfünfzig Gulden heruntergehandelt, das hatte Adolf Lang seiner Frau niemals erzählt.

Heute war der Marmor seine tausend Gulden wert. Lang lächelte, das schöne Stück betrachtend, in dem Gedanken, daß er dank dem guten Geschmacke seiner Frau auch bei diesen überflüssigen Ausgaben immer ein gutes Geschäft gemacht habe.

Aus dieser angenehmen Empfindung riß ihn Mademoiselle Lorisson, die mit einem verlegenen: »Der Herr Kommerzienrat wünschen?« eintrat.

»Sie sind gestern abend kurz nach zehn Uhr zusammen mit meiner Tochter von Basel angekommen,« begann Lang das Gespräch, nachdem er die Dame mit einer leichten Beugung seines kahlen Schädels begrüßt hatte. »Ich habe gestern abend, um Ihnen beiden Ihre Ruhe zu gönnen, auf ein Wiedersehen mit meiner Tochter nach fast zweimonatiger Trennung verzichtet. Nun erwartete ich mein Kind mit aller Bestimmtheit am Frühstückstische. Statt dessen läßt sich Irma entschuldigen. Von halb elf bis neun, das sind zehn und eine halbe Stunde Ruhe. Was soll das heißen, Mademoiselle Lorisson? Ist Irma krank, ist ihr etwas zugestoßen, das sie davon abhalten könnte, ihren Vater nach acht Wochen endlich wiederzusehen?«

Ein weicher Ton, den man Lang kaum zugetraut hätte, mischte sich bei diesen Worten in seine Rede. Seine alte Schwäche, wenn er von seiner vergötterten Irma sprach. Dies einzige Kind, das ihm seine Rosa in der kurzen Ehe geboren, es hatte für den reichen, Regungen des Herzens im allgemeinen schwer zugänglichen Mann etwas an sich, als ob es den Neid der Götter erregen könne. Irma war sein Liebstes, das, was die Alten freiwillig geopfert hätten, um sich und ihre Habe den grausamen Olympiern zu entziehen.

Auch in diesem Augenblicke, da er sich um Auskunft an Irmas Gesellschafterin wandte, erinnerte er sich plötzlich daran, wie dieses sein einziges Kind als kleines Mädchen an der Diphtherie erkrankt war, wie er da des Nachts zum Arzt gefahren und ihn um das Leben seiner Tochter angefleht hatte!

Damals am Schmerzenslager seines Kindes war wirklich so etwas wie ein Gebet auf Längs Lippen gekommen, ein Gebet, herausgeboren aus dem Gefühle menschlicher Ohnmacht, wozu er sich nicht einmal am Sterbebette seiner Rosa hatte aufschwingen können.

Die rundliche, schon etwas angejahrte Französin, die im Hause stets ein einfaches schwarzes Tuchkleid zu tragen pflegte, hatte auf einem der großen Ledersessel Platz genommen und sagte nun in dem ihr eigentümlichen singenden Tone:

»Was sollte Mademoiselle zugestoßen sein, Herr Kommerzienrat? Elle est fatiguée du voyage, c'est tout.«

Der Umstand, daß sie plötzlich in ihre Muttersprache zurückfiel, machte Lang stutzig. Das pflegte das Fräulein immer zu tun, wenn es rasch über eine unangenehme Sache hinwegkommen wollte. Er setzte den Zwicker auf die ganz leicht gekrümmte Nase, musterte die Lorisson mit scharfem Blicke und sagte in festem Tone:

»Sie verbergen mir etwas, Fräulein, ja Sie verbergen mir etwas. Ich sah, wie Sie erschraken, als ich fragte, ob meiner Tochter etwas zugestoßen sei. Berichten Sie über die Reise!«

Um ihr die Aufgabe zu erleichtern, fuhr er sogleich selbst fort:

»Sie sind also von hier zunächst nach Baden-Baden gefahren. Von dort hatte ich zwei Briefe und eine Anzahl Karten. Dann sind Sie ein paar Tage in Luzern gewesen, dann mehrere Wochen auf dem Axenstein. Von dort hatte ich fast jeden Tag Nachricht, und dann, eine einzige Karte meldete mir Ihre Abreise nach Interlaken über den Brünig. Von dort habe ich seit vier Wochen, von belanglosen Grüßen abgesehen, nichts mehr gehört, bis Ihr Telegramm eintraf, das mir gestern die plötzliche Heimfahrt anzeigte. Vorgestern sind Sie vermutlich in Thun abgefahren, wenn Sie nicht einen anderen Weg gewählt haben?«

Eine tiefe Blässe bedeckte plötzlich das Gesicht der kleinen Dame.

»Nein, Herr Kommerzienrat,« stotterte sie. »Wir sind noch acht Tage in Pallanza gewesen. Wir kommen direkt vom Lago maggiore.«

»Vom Lago maggiore?«

Lang fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als ob er den Sinn dieser einfachen Worte nicht recht begreifen könne.

»Und wie, wie,« stammelte er dann in sichtlicher Erregung, »wie sind die Karten aus Interlaken an meine Adresse gelangt, wenn Sie beide in Pallanza gewesen sind?«

Jetzt erst bemerkte die Lorisson, daß sie sich und ihre Herrin verraten hatte. Davon, daß Karten an den Vater von Interlaken aus abgesandt werden sollten, hatte Irma allerdings gesprochen. Wie ihr das nur hatte entfallen können, daß das Fräulein dem Zimmermädchen im Hotel Gotthard den Auftrag gegeben, die fertig geschriebenen Karten in Interlaken ein über den anderen Tag in den Kasten zu werfen, damit der Vater in dem Glauben bliebe, daß die Tochter dauernd in Interlaken sei?

»Das muß ein Irrtum sein mit den Karten, Herr Kommerzienrat,« stotterte sie.

»Ein Irrtum?«

Lang zog ein Päckchen Postkarten aus der Tasche seines Rockes.

»Ein Irrtum? Bitte hier von meiner Tochter Hand geschrieben und abgestempelt in Interlaken vor sechs, vor vier, vor zwei Tagen. Schenken Sie mir reinen Wein ein, Fräulein Lorisson! Sie sind in Pallanza gewesen und nicht in Interlaken. Wo Sie gewesen sind, ist mir ja völlig gleichgültig! Aber warum diese Komödie? Warum die Karten aus Interlaken, wenn Sie nicht in Interlaken waren?«

»Es war eine Laune des gnädigen Fräuleins,« erwiderte Mademoiselle Lorisson sich endlich fassend, »nichts als eine Laune, Herr Kommerzienrat, der kleine Abstecher nach Italien, der nicht vorgesehen war, ein Ausflug, den Mademoiselle Irma mit ihren Spargroschen bestritten hat.«

»Und daß sie sich jetzt nicht sehen läßt, ist auch eine kleine Laune? Nein, Fräulein Lorisson, reinen Wein will ich haben. Was ist meiner Tochter auf der Reise zugestoßen? Warum kommt sie nicht selber? Was hat sie nach Pallanza geführt? Warum sollte ich in dem Glauben erhalten werden, daß Sie in Interlaken seien?«

Lang hatte diese Fragen hervorgesprudelt. Nun stand er dicht vor dem kleinen Fräulein, das sich von dem Sessel erhoben hatte und die schmalen Hände flehend gegen ihn ausbreitete.

»O, Herr Kommerzienrat,« schluchzte sie nun, »es ist nicht meine Schuld, diese Reise nach Pallanza, o, Herr Kommerzienrat.«

»Schuld, Schuld, was reden Sie da von Schuld,« donnerte nun Lang. »Heraus mit der Sprache, was ist meiner Tochter zugestoßen? Warum sind Sie in Pallanza gewesen?

»Hören Sie, Herr Kommerzienrat, hören Sie,« jammerte sie. »Das Fräulein ist ohne seine Schuld ins Unglück geraten. Sie wollte sich arrangieren, da sind wir ihm nach Pallanza nachgefahren …«

»Ihm nach?« Wie der Schrei eines Verwundeten kam es von Langs Lippen. »Ihm nach, wem nach, Mademoiselle, wem nach?«

»So hören Sie doch, fassen Sie sich doch, Herr Kommerzienrat,« bettelte sie nun mit tränenerstickter Stimme. »Hören Sie, Sie müssen es doch erfahren, Sie werden ja Rat wissen!«

Fassungslos stand Lang vor der Gesellschafterin seiner einzigen Tochter, als sie nun schluchzend und zögernd berichtete:

»Wir sind in Luzern gewesen, Herr Kommerzienrat, in Luzern, im Hotel Gotthard.«

»Ja, ich höre, in Luzern, Hotel Gotthard, weiter, weiter –«

»Und da, da haben wir an der Table d'hôte die Bekanntschaft eines deutschen Herrn gemacht. – Es war ein sehr vornehmer Herr, ein Herr aus den besten Kreisen, ein Offizier, – Herr Kommerzienrat, ein adliger Offizier – er hieß Lothar von Brandt!«

»Lothar von Brandt,« wiederholte der Kommerzienrat, »also Lothar von Brandt, so heißt der Schurke! – Lothar von Brandt! – Erzählen Sie weiter!«

Mit aller Mühe hatte Lang seine Fassung wiedergewonnen.

»Also im Gotthard in Luzern haben Sie die Bekanntschaft eines Offiziers namens Lothar von Brandt an der Table d'hôte gemacht. So weit waren Sie in Ihrer Erzählung gekommen, Fräulein Lorisson!«

»Der Herr war sehr liebenswürdig, Herr Kommerzienrat, sehr comme il faut, Kavalier durch und durch!«

Lang lachte grimmig vor sich hin.

»Er traf uns am Kai und auf Spaziergängen, und eines Nachmittags schlug er eine Kahnfahrt nach der Tellsplatte vor!«

In stummem Brüten blickte Lang vor sich hin.

»Ich höre, nach der Tellsplatte,« wiederholte er, »nach der Tellsplatte, weiter, weiter!«

Dieses Kind, diese Tochter. Sein einziges, für das er Million auf Million gehäuft hatte!!

»Weiter, weiter,« rief er noch einmal, wie aus einem wilden Traume emporfahrend.

Und Mademoiselle Lorisson erzählte mit leiser Stimme, in ihrem weinerlichen Tone, stockend weiter:

»Wir fuhren mit dem Dampfboot nach Brunnen. Der See war unruhig, und ich leide leicht an mal de mer, Herr Kommerzienrat. Ich war so krank, ach, so krank, als wir in Brunnen ankamen, und Fräulein Irma war so froher Laune. Sie wollte auf die Fahrt nach der Tellsplatte nicht verzichten. Sie ließ mich am Kai in Brunnen und fuhr allein mit Herrn von Brandt!«

»Mademoiselle!« In einem gurgelnden Tone ging dies von Lang gesprochene Wort unter. Ein Zucken fuhr um seine Mundwinkel, und dann sagte er:

»So konnten Sie Ihre Pflicht vergessen, Mademoiselle, so, so, das Heiligste, mein Einziges, das ich Ihnen anvertraute, preisgeben? Wenn mir einer eine Zehnguldennote unterschlägt, dann habe ich das traurige Recht, ihn hinter Schloß und Riegel setzen zu lassen. Was soll ich mit Ihnen anfangen? Sie haben mir mein Kind unterschlagen!«

Eine Minute verrann in tiefem Schweigen. Lang war an das Fenster getreten und drückte den brennenden Kopf an die kühlenden Scheiben.

Leise, als rede es mit sich selber, fuhr das Fräulein fort:

»Das Wetter wurde schlechter, eine Stunde verrann, zwei Stunden verrannen – die beiden kamen nicht zurück. Was ich ausgehalten habe in diesen Stunden, Herr Kommerzienrat, da ich gemeint, das Boot wäre untergegangen –«

»O, wenn es untergegangen wäre,« entfuhr es Langs Lippen. Doch sogleich murmelte er, im Schrecken vor den eigenen Gedanken zusammenfahrend: »Verzeih mir, Himmel, es ist mein Kind, mein einziges Kind.«

Mademoiselle Lorisson wandte den Blick weg. Als wollte sie sich selber alles in das Gedächtnis zurückrufen und als rede sie mit sich allein, setzte sie nun ihre Beichte fort:

»Der Abend kam, und sie kehrten nicht wieder. Der See war längst wieder spiegelglatt geworden. Die ganze Nacht irrte ich am Kai entlang. Die Leute sagten, daß vor Sonnenaufgang jedes Suchen zwecklos sei. Die Nacht wurde mir zur Ewigkeit, endlich huschte das erste Licht der Sonne über die Gletscher. – – Es war elf Uhr mittags, da kam Fräulein Irma allein. Er hatte in Flüelen die Post genommen und war nach Italien gefahren. Da Interlaken in unserem Programme stand, übergab Fräulein Irma die Karten einem Mädchen, das im Gotthard gekündigt hatte und nach Interlaken ging, und wir, wir fuhren ihm nach Pallanza nach! O, Herr Kommerzienrat, Irma war bereit, sich ihm zu Füßen zu werfen, ihn anzuflehen, ihr mit seiner Hand ihre Ehre wiederzugeben. Wir trafen ihn nicht mehr in Pallanza. Er war am Tage vor unserer Ankunft abgereist.«

»Und weitere Erkundigungen nach diesem Schurken haben Sie nicht eingezogen?«

»Doch, Herr Kommerzienrat! Wir reisten nach Mailand. Im Bureau de voyage sah ich ihn. Er stellte sich fremd, da ich eintrat, tat, als ob er uns niemals im Leben gekannt habe. Wir mußten dort alles Aufsehen vermeiden, aber wir folgten seinen Schritten und fuhren ihm nach bis Genua. Dort hat er, wie ich von einem! Bureau de renseignement erfuhr, Passage nach Buenos Aires genommen, und hier, Herr Kommerzienrat, ist sein Bild!«

Es war eine Zeitung, die Mademoiselle Lorisson dem entsetzten Kommerzienrat entgegenhielt. Was Lang von dem italienischen Texte verstehen konnte, was er nur zu gut verstand, war etwa das folgende:

Gegen den früheren Leutnant der Kavallerie Lothar von Brandt wurde nach allen europäischen Hafenplätzen ein Steckbrief erlassen. Er stand im Verdachte, amtliche Gelder in seiner Eigenschaft als Bezirksoffizier unterschlagen zu haben und mit diesen flüchtig gegangen zu sein. Dann folgten das Signalement und die Aufforderung, den Durchgänger zu verhaften.

Langs zitternden Händen entfiel das Blatt.

»Also ein Verbrecher,« schluchzte er, »ein Verbrecher, dem man sie nicht einmal mehr mit Gold aufwiegen könnte, die Ehe, wenn man ihn fände, wenn man auch wollte. Gott, mein Gott! Mein Kind, mein unglückseliges Kind! Und Sie sind sicher, Fräulein Lorisson, daß sich meine Irma so weit vergessen konnte?«

»Sie hat mir alles gestanden, Herr Kommerzienrat,« antwortete Mademoiselle Lorisson tonlos. »Es sei wie ein Rausch gewesen –! Und,« – errötend senkte die kleine Französin den Kopf – »Sie werden Rat wissen, Herr Kommerzienrat, Fräulein Irma fürchtet, daß die Folgen nicht ausbleiben werden!«

Da brach Lang zusammen. Er warf sich vor Mademoiselle Lorissons Augen in den Sessel und weinte, wie er seit dem Tode seiner Rosa nicht wieder geweint hatte.


Die Blicke des jungen Mädchens, welches nun, das schöne orientalische Gesicht mit tiefer Schamröte bedeckt, leise und zögernden Schrittes eintrat, hafteten auf dem unglücklichen Manne. Noch nie hatte sie den Vater so gesehen, und einen Augenblick war es ihr, als ob sie die Tür hinter sich ins Schloß werfen und entfliehen müsse, gleichviel wohin. Nur fort, fort aus diesem Haus, weg, weit weg von diesem Anblicke, so weit sie ihre Füße tragen konnten!

Lang sah nicht auf. Er kannte den Schritt seiner Tochter. Auch ohne hinzusehen, fühlte er, daß Irma zugegen war.

Er fühlte, daß sich sein Liebstes, sein angebetetes und verzärteltes Kind, die Sorge seiner ruhelosen Tage, der Traum seiner Nächte, in seiner unmittelbarsten Nähe befand. Aber aufzuschauen, ihr entgegenzugehen, sie in seine Arme zu schließen, das vermochte er in diesem Augenblicke nicht. Sie rauh und hart zu empfangen, der Unerfahrenheit, dem Leichtsinn ihrer Jugend Vorwürfe zu machen, dazu war er noch viel weniger imstande. Ein weiches, wehes Gefühl hatte sich seiner Seele bemächtigt, wie er es noch niemals in seinem Leben gekannt hatte, das sich zunächst nur in Tränen und unterdrücktem Schluchzen äußern konnte.

Tiefe Stille in dem vornehmen Raume, nur das Ticken der reich geschnitzten, eichenen Standuhr neben dem Kamine, von dem die nackte Gestalt des badenden Mädchens gleichgültig und in wundervoller Schönheit niedersah. Vater und Tochter, die beiden Menschen, die Nächsten, die sich in diesem Augenblicke so viel zu sagen gehabt hätten, einander gegenüber, eines nicht fähig, dem anderen ins Auge zu schauen, beide wie von der Hand eines allgewaltigen Schicksals zerschmettert!

Neben dem großen, aus dunkelbraun gebeiztem Eichenholz aufgebauten Büfett stand in der Ecke unter einem französischen Stilleben ein alter Kameltaschensessel. In diesen ließ sich Irma fallen. Eine tiefe Blässe hatte der Röte auf ihrem schönen Gesichtchen Platz gemacht, die großen dunkelen, mandelförmigen Augen verschwanden unter den langen, schwarzen, seidenweichen Wimpern, zwischen denen sich langsam die Tränen hindurchstahlen.

Das einfache dunkelblaue Kleid, das sie heute morgen angelegt hatte, zeigte in seinem knappen Schnitte die anmutigen Formen des jungen Mädchens, die zu dem gramdurchfurchten Gesichtchen und zu der Blässe von Stirn und Wangen in einem schroffen Gegensatze standen. Das tiefschwarze, prächtige Haar, das dieses blasse Gesicht umwallte und sich nur unwillig zu einer Frisur zusammenzufassen schien, ließ das Scharfe, Abgehärmte, Verzweifelte ihrer Züge nur um so deutlicher hervortreten.

»Weiß er alles?« bebten endlich ihre Lippen.

Wortlos nickte Mademoiselle Lorisson.

Dann wieder die tiefe Stille und das eintönige Ticken der Uhr. Zwei, drei Minuten bedrückenden Schweigens.

Lang hatte sich endlich gefaßt. Unbekümmert um die Blicke seiner Tochter, die ihn fortwährend beobachtend trafen, trocknete er seine Tränen und sagte dann mit fester Stimme:

»Lassen Sie uns allein, Mademoiselle Lorisson! Sie können sich an der Kasse meines Bureaus Ihr Gehalt für den Monat Juni auszahlen lassen. Meine Tochter bedarf Ihres Schutzes nicht mehr.«

Kein Wort der Erwiderung kam von den Lippen der kleinen Französin. Lautlos entfernte sie sich aus dem Speisesaale, in dem sich Vater und Tochter nun allein gegenüberstanden.

Sobald die Gesellschafterin die Tür hinter sich geschlossen hatte, erhob sich Lang und ging rasch auf seine Tochter zu.

»Mein Kind, mein einziges, mein armes, unglückliches Kind!«

Die Arme weit öffnend, barg er Irmas Kopf an seiner Brust.

Mit den Händen, die so weich und so liebevoll sein konnten, die seiner Rosa jeden Stein aus dem gewiß nicht schweren Lebenswege weggeräumt hatten, strich er über das Haar des jungen Mädchens und tröstete mit schluchzender Stimme:

»Ich mache dir keinen Vorwurf, mein armes, armes Kind, du mutterlose Kleine, die von Kindesbeinen an die weibliche Führung entbehrt hat. Keinen Vorwurf mache ich dir. Aber, daß du deinen alten Vater so ganz vergessen konntest –« Tränen erstickten seine Stimme – »das bereitet mir Schmerz, tiefsten Schmerz.«

»Ich habe dich nicht vergessen, Vater,« schluchzte sie. »Da es geschehen war, wollte ich mich in den See stürzen um deines Namens und deiner Ehre willen! – Und da, da dachte ich an dich, und daß du dann ganz allein wärest, und da konnte ich es nicht!«

»Und ehe es geschah, da hast du nicht an deinen alten Vater gedacht?«

»Foltere mich nicht, Vater,« wimmerte sie. »Hörst du, foltere mich nicht. Ehe es geschah, wie es geschah? Er hatte etwas wie Allmacht über mich gewonnen. Ich mußte ihm folgen, willen-, rettungslos! – Ich müßte ihm auch heute noch folgen, wenn er käme, wenn er mich riefe, wenn er jetzt in dieses Zimmer träte, Vater! Wie ein Dämon würde er mich in seine Arme reißen.«

Entsetzt sah Lang auf seine Tochter.

»Irma,« rief er laut, »er, der Verbrecher.«

»Er ist kein Verbrecher,« antwortete sie nun fest. »Und mag in den Zeitungen stehen, was da will. Er ist kein Verbrecher. O, er hat mir erzählt, Vater, von dem herrlichen Schlosse, in dem er aufgewachsen, von dem verschwenderischen Leben, das seine Eltern geführt haben! Und wie dann sein Vater starb und nur Schulden hinterließ, nichts als Schulden, ihm, dem Kavallerieoffizier, der nichts gelernt, der keine Erwerbsquelle hatte. Wie er es dann redlich versuchte, seiner Lage Herr zu werden, und wie er schließlich einen Vorschuß nahm von den Geldern, die man ihm anvertraut hatte, in der festen Absicht, diese Gelder wieder zu ersetzen, das alles hat er mir erzählt, Vater.«

Lang lachte bitter.

»Diebstahl, mein Kind, nennen nüchterne Menschen solch' einen Vorschuß von Geldern, über die man keine Verfügung hat.«

Irma hatte sich aus seinen Armen losgewunden.

Die ihr von der Mutter her im Blute steckende Leidenschaft kam nun trotz allem zum Durchbruch.

»Wir haben leicht urteilen und verurteilen, Vater, wir, die, wie die Leute sagen, im Golde wühlen. Ich hätte ihm gerne deine, meine Millionen zu Füßen gelegt, wenn es nicht schon zu spät gewesen wäre, wenn er mich darum gebeten hätte! Er vermochte alles über mich.«

Da trat die Röte des Zorns in Langs Gesicht.

»Schweig',« rief er mit fester Stimme, sich mühsam beherrschend. »Schweig' und nimm den Verbrecher vor meinen Ohren nicht in Schutz. Wir haben an deine Zukunft zu denken, Kind, hörst du! Er schwimmt zwischen Genua und Buenos, seiner können wir nicht habhaft werden, und wenn wir seiner habhaft werden könnten, dann hättest du einen Mann, dem sich die Tore des Zuchthauses erschließen. Das will ich nicht. Hörst du, beim Andenken an deine Mutter will ich das nicht!«

Er hatte sich hochaufgerichtet, die alte Willenskraft, die Grundlage seines Wesens, die angesichts seines unglücklichen Kindes für wenige Minuten ins Wanken geraten war, kehrte zurück. Sein Verstand begann wieder zu arbeiten, Herz und Gefühl unerbittlich in den Hintergrund zwingend. Der Kaufmann, der es seit Jahren gewohnt war, mit seinen Hunderttausenden seinen Willen durchzusetzen, mit seinem Kredit und seinen Banknoten die Gemüter der Menschen zu bannen, sich jede Arbeitskraft dienstbar zu machen, gewann in seinem Inneren wieder die Oberhand.

»Setze dich hierhin, Irma,« befahl er der Tochter, »und höre deinen alten Vater ruhig an, der als nüchterner, mitten in dem Geschäftsleben stehender Mann etwas von diesem Leben versteht.«

Furchtsam gehorchte die Tochter. Sie kannte den Vater, wenn er einmal diesen Ton angeschlagen hatte. So leicht und willig er sich sonst von den zärtlichen Worten seines Kindes lenken ließ, wenn er einen notwendigen Plan ins Auge gefaßt hatte, wenn ihm ein Entschluß unabänderlich erschien, dann war er nicht mehr der liebevolle Vater, dann war er Adolf Lang, der Inhaber des großen Bankhauses, der seine Maßnahmen traf über Kapital und Zinsen, über Menschenarbeit und Menschenschicksal, ja, wie in diesem Augenblicke, über das eigene Kind.

Die Augen geschlossen, das Gesicht tief auf die Brust herabgesenkt, saß Irma nun da. Als seien es die Worte eines Fremden, die unabwendbare Schicksalsfügung in sich schlössen, drang die Rede des Vaters an ihr Ohr.

»Du bist, was man so zu nennen pflegt, eine glänzende Partie, Irma! Du bist mein einziges Kind, und da ich nicht mehr heiraten werde, wirst du mein einziges Kind bleiben. Du weißt, daß ein einziges Kind dermaleinst alles sein eigen nennt, was dem Vater gehört. Von Geldangelegenheiten habe ich bislang noch niemals mit dir gesprochen, weil es mir nicht nötig schien, und weil ich den Frieden deiner Jugend nicht stören wollte. Ein anderer hat den Frieden deiner Jugend gestört. Wie ein Marder ist er eingefallen bei Nacht, ein Räuber, ein Verbrecher, ein Schurke! An mir ist es, gut zu machen, was jener verbrochen hat, soweit sich das heute noch gut machen läßt. Hast du unter deinen Verehrern, in deinem Bekanntenkreise irgend jemanden, den du heiraten willst?«

»Vater, Vater!« Wie ein Schrei kam es von Irmas Lippen.

Lang blieb ruhig.

»Ich frage dich, ob du unter deinen Bekannten irgend jemanden hast, den du heiraten möchtest, denn heiraten mußt du, und zwar im Verlaufe von wenigen Wochen. Den Tag, an dem jener aus Buenos Aires zurückkehren wird, dürfen wir nicht mehr erwarten.«

Irma sprang auf.

»Ich werde niemals einwilligen, Vater!«

»Du wirst einwilligen, mein Kind,« erwiderte Lang in eisiger Ruhe. »Ich lasse dir heute die Wahl. Nenne mir irgendeinen, dem du deine Hand schenken willst, hörst du?«

Irma schwieg.

Lang aber fuhr fort:

»Nach einer oberflächlichen Schätzung, die ich dir augenblicklich zu geben in der Lage bin, wird dein Erbe, abgesehen von dieser Villa und dem Werte meines sonstigen Grundbesitzes, drei Millionen und siebenmalhunderttausend Gulden betragen. Für dieses Geld kann ich selbst bei den gegebenen Umständen unter den Baronen und Grafen des lieben deutschen Vaterlandes wählen. Aber ich stelle dir die Wahl völlig frei. Nenne mir irgendeinen Namen, welchen du willst, und ich werde die Sache nach deinem Willen aus der Welt schaffen! – Wenn nicht, dann werde ich für dich handeln. Verstehst du mich, Irma? – Doch halt, da fällt mir ja ein, hat nicht der junge Baumann im verflossenen Winter gewissermaßen so versteckt um deine Hand angehalten? War's nicht der junge Baumann, der nach dem Konzerte am folgenden Morgen den Rosenstrauß mit dem albernen Gedichte schickte? Der junge Baumann, von dem du damals schwärmtest, und den ich dir auszureden versuchte?«

Ein wehes Schluchzen schüttelte Irmas Körper.

»Ewald Baumann!«

Als stiege die Erinnerung an eine selige Jugendliebe, an eine schöne Schwärmerei sorgloser und freundlicher Tage empor in ihrem Inneren, so kam dieser Name nun von ihren Lippen.

»Siehst du,« sagte Lang, »Ewald Baumann wäre der schlechteste nicht. Er ist ein solider junger Mann, und die hundertfünfzig Gulden Gehalt, die er als Buchhalter monatlich bei mir bezieht, können eine kleine Aufbesserung schon vertragen. Also Ewald Baumann!«

Regungslos, keines Wortes mächtig, lag Irma in dem Sessel.

Die Uhr holte zum Schlage aus. Ein Viertel nach neun.

Lang klingelte.

»Lassen Sie die Füchse anspannen, Joseph, es ist mir heute etwas spät zum Gehen geworden. Ich bin nicht gern viel nach halb zehn Uhr im Geschäft.«

Mit diesen Worten wandte er sich an den eintretenden Diener und ließ Irma mit ihren Gedanken allein.

Wie die alle auf sie einstürmten, als der Vater nun endlich gegangen war, der Vater mit dem herrischen Blicke in den verstandesklaren Augen, der ihr einen Gatten, gleichviel wer es auch war, aufzuzwingen fest entschlossen zu sein schien.

Sie schüttelte sich in wehem Schluchzen, ihr ganzer innerer Mensch bäumte sich noch einmal gegen diese Zumutung eines furchtbaren Betruges, einer unerträglichen Knechtschaft auf.

In rasch verfliegenden, verschwommenen Bildern zog die an der Seite dieses Vaters und unter den Augen der Lorisson verbrachte Jugend vorüber an ihrem geistigen Auge.

Die Mutter, an die erinnerte sie sich kaum. Ein lallendes Kind war sie gewesen, da man sie eines Morgens in das mit Blumen überladene Zimmer des Erdgeschosses geführt, wo der Sarg der jungen Frau gestanden hatte.

Weiße Rosen in den wachsbleichen Händen, noch im Tode von rührender Schönheit, hatte die Mutter dagelegen, und die kleine Irma war auf den Zehen an sie herangeschlichen und hatte die eiskalte Hand der Toten mit brennenden Kinderlippen geküßt.

Dann waren die Jahre gekommen und gegangen, eines wie das andere, während deren sie die Schule besucht und ihre Aufgaben unter der Aufsicht der Lorisson gemacht hatte, ein begabtes und verwöhntes Kind des Luxus und des Reichtums, dem nie eine Sorge um die Zukunft, nie ein Gedanke an die Ausgestaltung seines Lebens aufgestiegen war.

Wie selbstverständlich hatten mit dem Wachstum ihres Verstandes auch die Ansprüche, die sie an den äußeren Genuß des Lebens stellte, zugenommen, und wie selbstverständlich war ihr alles, wonach sie begehrte, in den Schoß gefallen, alles, was ein junges, reiches Mädchen im Alter von vierzehn bis siebzehn Jahren vom Leben verlangen kann: Süßigkeiten und schöne Kleider, Konzerte und Theater, soweit sich das letztere für ihr Alter schickt, Kränzchen und Ausfahrten in der väterlichen Equipage und endlich auch Reisen an die See und in die Alpen, nach denen sich ihr kleines Herzchen immer gesehnt hatte.

Aber eine unerklärliche Leere, ein Nichtbefriedigtsein von alledem, was ihr dies Leben zu bieten hatte, war in ihrem Innersten zurückgeblieben, und je älter sie geworden, je mehr von Monat zu Monat, von Woche zu Woche, von Tag zu Tag hatte dieses Gefühl in ihrem Herzen die Oberhand über alles andere gewonnen.

Die Märchen von Dornröschen und Schneewittchen, die beide von einem herrlichen Prinzen erlöst werden, hatten längst der Lektüre der Klassiker und dann der von überspannten Romanen allerart, in denen die Heirat die Hauptrolle spielte, Platz gemacht, als plötzlich eines Tages ganz unvermittelt Ewald Baumann in ihren Gesichtskreis eingetreten war.

Im Sommer war es gewesen, kurz vor den großen Ferien, der Vater hatte ihr eine Badereise nach Scheveningen, natürlich wie immer in Begleitung der Lorisson, versprochen, da war es ihr aufgefallen, daß der hochaufgeschossene und blasse junge Mensch jedesmal am Ausgange der Schule stand, wenn der Unterricht in der Selekta sein Ende erreicht hatte. Anfangs hatte sie sich über ihn lustig gemacht und zusammen mit den Schulfreundinnen weidlich über den ungeschickten Anbeter gelacht.

Aber seine Beharrlichkeit und der flehende Blick seiner schönen Augen hatten sie endlich gerührt, und angesichts der stahlblauen Wogen der Nordsee im herrlichen Scheveningen hatte sie sich dabei ertappt, daß sie an den blonden Jungen in der fernen Heimat dachte und die Stunde herbeisehnte, da sie wieder das Schulgebäude verlassen und ihn, heiße Sehnsucht im Herzen, erblicken werde!

Dann hatte sie das Leben, wie es scheinen wollte, für immer getrennt. Sie war eine junge Dame der reichsten Gesellschaftskreise geworden, und er ein kärglich bezahlter Kommis in dem Bankhause ihres Vaters.

Jahrelang hatte sie kaum etwas von ihm gesehen und gehört bis zu dem Tage, da sie in einem Wohltätigkeitskonzerte gesungen, und er ihr ganz unvermittelt einen Rosenstrauß und ein Gedicht ins Haus geschickt hatte. – Und nun?!

Nun stand der, der in anderer Lage für sie aus tausend Gründen niemals in Frage gekommen wäre, plötzlich als letzte Rettung vor ihrer Seele, als Rettung aus der entsetzlichen Lage, in die sie jener andere und ihr eigener Leichtsinn gebracht hatten, und der stolze Vater bot ihr den bettelarmen Jugendgeliebten an. Den bettelarmen!!

Er liebte sie. Nein, er betete sie an. Nicht wie ein Mann ein Weib liebt, dessen Besitz er für sich zu erobern entschlossen ist, o, nein! Er blickte zu ihr empor, wie der Hund zu seinem Herrn, wie der Gläubige zu der Mutter Gottes. – Zu ihrem Sklaven konnte sie ihn machen, das fühlte sie in diesem entscheidungsvollen Augenblicke.

Der Vater hatte recht. Auf den anderen konnte sie nicht warten, dem sich zu Füßen zu werfen sie entschlossen gewesen war.

Im Gedanken an diesen anderen ballte sie die kleine Faust. Dann trocknete sie langsam ihre Tränen. Ihr Blick fiel in den Spiegel. Wie häßlich sie doch das viele Weinen gemacht hatte!

Und sie wollte erobern? Nein, nicht erobern. Mitleidig lächelte sie vor sich hin. Erobern, was man schon besaß??

Wie ein Geschenk des Himmels würde Ewald Baumann sie und ihre Liebe entgegennehmen, er, der einmal den Blick zu ihr emporzuheben gewagt. Ihr Sklave, ihr Höriger würde er sein.

In diesem Gedanken berauschte sie sich. Wenn sie alles genau überlegte, es war ein unabwendbares Schicksal, das da plötzlich über sie hereingebrochen. Es hatte eben kommen müssen, wie es gekommen war. Ihr Temperament, ihre Erziehung, der entnervende Luxus, der sie auf Schritt und Tritt umgab, die Möglichkeit, jeder Laune die Zügel schießen zu lassen, der Mangel einer mütterlichen Führung und diese Lorisson, sie waren schuld daran.

Nur noch körperlich eine Jungfrau, seelisch schon längst eine Gefallene, war sie dem glatten Verführer in die Arme gelaufen, und was geschehen mußte, das geschah.

Pochenden Herzens, Röte auf den Wangen, erinnerte sie sich plötzlich an die heimlichen Leidenschaften der vergangenen Jahre, da ihre stark entwickelte Sinnlichkeit und Genußsucht durch den Klatsch der Dienstboten und die freien Erzählungen der Lorisson genährt worden waren.

Wenn sie offen gegen sich selber sein sollte, sie haßte den Mann, der sie verführt hatte, nicht. O nein, sie sehnte sich aufs neue nach seiner Umarmung.

Und er! Er war in weiter Ferne, ihr unerreichbar, auf dem endlosen Meere – der Vater hatte recht, auf den konnte sie nicht warten!

Ewald Baumann!

Im Gedanken an ihn, der ein Mann war wie jener, den sie besitzen und beherrschen, den sie zu ihrem Sklaven machen konnte, breitete sie jetzt die Arme weit auseinander.

O, sie war schön! Und er, er würde zu ihr wie zu seiner Gottheit emporblicken!


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