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Kapitel XX

Die Flucht über die Heide: Die Felsen

Zeitweise gingen wir, zeitweise liefen wir, und je näher der Morgen kam, um so weniger gingen wir, und um so mehr liefen wir. Trotz aller Eile aber, begann es zu tagen, als wir noch weit entfernt waren von irgend einem schützenden Versteck. Der Tag fand uns in einem großen Tal, das mit Felsblöcken dicht besät war, und durch das ein schäumender Fluß wild brauste. Rings standen kahle Berge, weder gras- noch baumbewachsen.

»Das ist kein geeigneter Ort für dich und mich«, sagte Alan stirnrunzelnd. »Das ist ein Ort, den sie zu bewachen pflegen.«

Und damit lief er schneller als je, zum Wasser hinunter, an eine Stelle, wo der Fluß durch drei Felsblöcke in die Hälfte geteilt war. Mit schrecklichem Brausen stürzte das Wasser hindurch, daß mir das Zwerchfell zitterte.

Alan sah nicht rechts und nicht links, sondern sprang glatt auf den mittleren Felsen, wo er auf Hände und Knie fiel, um sich fest zu klammern, denn der Felsen war nicht groß, und er hätte leicht auf der anderen Seite hinunterfallen können. Ich hatte kaum Zeit, die Entfernung abzuschätzen oder mir der Gefahr bewußt zu werden, ehe ich ihm auch schon nachgesprungen war und er mich bereits aufgefangen und aufgehalten hatte.

So standen wir denn Seite an Seite auf einem kleinen, von schäumender Gischt schlüpferigen Felsen, inmitten des tobenden Flusses, einen weit größeren Sprung vor als hinter uns. Als ich sah, wo ich mich befand, überfiel mich eine tödliche Angst, und ich bedeckte meine Augen mit den Händen. Alan schüttelte mich und ich sah, daß er zu mir sprach, aber ich konnte in dem Brüllen des Wasserfalles und meinem verwirrten Geisteszustand nicht ein einziges Wort verstehen. Ich sah nur, daß sein Gesicht rot vor Zorn war, und daß er mit den Fuß auf den Felsen stampfte. Ich sah auch die Wassermassen vorbeitoben und die Nebel des spritzenden Wassers in der Luft hängen; da legte ich nochmals die Hände vor die Augen und zitterte.

Im nächsten Augenblick hatte mir Alan die Schnapsflasche an die Lippen gesetzt und zwang mich, eine Viertelpinte zu trinken; das Blut stieg mir zu Kopf. Dann legte er seine Hände an den Mund und seinen Mund an mein Ohr und schrie, »hängen oder ertrinken!« drehte mir den Rücken, sprang üben den breiteren Arm des Flusses und landete heil und sicher am drüberen Ufer.

Ich stand nun allein auf dem Felsen, wodurch ich etwas mehr Platz gewonnen hatte. Die Ohren klangen mir vom Branntwein. Ich hatte das gute Beispiel frisch vor meinen Augen und noch eben genug klaren Menschenverstand um zu erkennen, daß ich, wenn ich nicht gleich springe, niemals springen werde. Ich ging tief in die Knie und warf mich vor mit der ganzen Macht, die mir Wut und Verzweiflung gab – eine Kraft, die mir schon manchesmal mangelnden Mut ersetzt hatte. Immerhin reichten nur meine Hände weit genug, ich rutschte ab, faßte wieder Halt, rutschte wieder und glitt wieder in das Wasser zurück, als mich Alan faßte, erst an den Haaren, dann am Kragen und mich mit großer Anstrengung ans Land zog.

Er sprach kein einziges Wort, sondern rannte sofort weiter, um sein Leben, und ich mußte auf die Füße krabbeln und ihm nachrennen. Ich war schon vorher müde gewesen, jetzt aber war ich elend und zerschlagen und halb betrunken. Ich stolperte immerfort, während des Laufens, ich empfand ein Stechen, das mich beinah übermannt hätte, und als Alan wieder stehen blieb – unter einem großen Felsen, der da inmitten vieler anderer stand – war es keineswegs zu früh für David Balfour.

Ich sagte ein großer Felsen, aber eigentlich waren es zwei, die mit den Spitzen gegen einander lehnten, beide einige zwanzig Fuß hoch und auf den ersten Anblick unbesteigbar. Sogar Alan (obwohl man von ihm ruhig behaupten kann, er hätte so gut wie vier Hände), bemühte sich zweimal vergeblich, sie zu erklettern. Erst beim dritten Versuch – und dann nur mit Hilfe meiner Schultern, auf die er stieg und von wo aus er mit solcher Gewalt in die Höhe sprang, daß ich meinte, er breche mir das Schlüsselbein – gelang es ihm, uns eine Zuflucht zu sichern. Einmal oben, ließ er seinen Ledergürtel herunter und mit dessen Hilfe und einigen seichten Vertiefungen im Stein, so daß ich mit den Füßen etwas Halt fassen konnte, kletterte ich zu ihm hinauf.

Dann erst erkannte ich, wozu wir hier heraufgekommen waren. Die beiden Felsen waren nämlich oben etwas ausgehöhlt und gegeneinander geneigt, so daß sie eine Art Schüssel bildeten, wo etwa drei oder vier Männer versteckt hätten liegen können.

Während der ganzen Zeit hatte Alan kein Wort gesprochen, war immer gelaufen und geklettert, in so wilder, wortloser, wahnsinniger Eile, daß ich wohl wußte, er sei in Todesangst und fürchte ein Mißlingen seines Vorhabens. Sogar jetzt, da wir auf dem Felsen waren, sagte er nichts, sondern warf sich flach nieder, guckte nur mit einem Auge über den Rand unseres Versteckes und spähte scharf nach allen Seiten. Es war nun heller Tag geworden. Wir konnten den steinigen Abhang bis ins Tal hinunter sehen, er war ganz mit Felsen besät, und den Fluß von einem Ende zum anderen mit seinen weißen Wasserfällen verfolgen. Aber nirgends war der Rauch irgend eines Hauses oder ein lebendes Wesen zu erblicken, nur einige Adler kreisten schreiend um eine Felsenzacke.

Jetzt endlich lächelte Alan.

»Ja,« sagte er, »jetzt haben wir eine Chance,« dann sah er mich an und lächelte vergnügt: »Kein sehr wackerer Springer, wie?« sagte er.

Bei diesen Worten wurde ich wohl zornrot, denn er fügte gleich hinzu: »Na, na! Dich trifft keine Schuld! Sich zu fürchten und es doch zu tun – das werden die tapfersten Männer! Und außerdem war Wasser dort und Wasser ist etwas, was sogar mich erschreckt. Nein, nein,« sagte Alan, »es ist nicht deine, es ist meine Schuld.«

Ich fragte ihn warum. »Weil ich mich heut' nachts wie ein Dummkopf benommen habe. Denn erstens bin ich einen falschen Weg gegangen – und das in meinem Heimatlande Appin – so daß uns der Tag an einem Orte überrascht hat, wo wir niemals hätten sein sollen, und dank dessen liegen wir hier nicht ganz ungefährdet und ziemlich unbequem. Und außerdem (was das Schlimmere von beiden ist, für einen, der solange in der Heide gelebt hat wie ich) habe ich keine Wasserflasche, und so werden wir hier einen ganzen Sommertag lang liegen müssen, mit nichts anderem als reinem Schnaps. Du glaubst vielleicht, das sei nicht so schlimm, aber wir sprechen noch darüber bevor es Abend wird, David!«

Ich wollte gerne meinen guten Ruf wieder herstellen und bot ihm an, hinunterzulaufen und die Flasche beim Fluß zu füllen, wenn er den Schnaps ausgießen wollte.

»Ich möchte auch den guten Branntwein nicht vergeuden«, sagte er. »Er war dir heute nacht ein guter Freund, denn meiner Meinung nach, säßest du ohne ihn jetzt noch auf diesem Stein. Und überdies könntest du bemerkt haben (der du doch ein Mann von so durchdringendem Verstande bist), daß Alan Breck Stewart vielleicht etwas schneller als gewöhnlich ging.«

»Du!« rief ich, »du bist wie ein Rasender gelaufen.«

»Wirklich?« sagte er. »Na, dann kannst du dich darauf verlassen, daß keine Zeit zu verlieren war. Und jetzt haben wir genug gesprochen. Leg' dich schlafen, mein Junge, und ich werde Wache halten.«

So legte ich mich denn nieder, um zu schlafen. Oben auf dem Felsen war ein Stückchen moosbewachsene Erde, wo auch einige Farenkräuter wuchsen, und dies diente mir als Bett. Das letzte, was ich hörte, war das Schreien der Adler.

Ich glaube, es dürfte gegen neun Uhr morgens gewesen sein, als mich Alan plötzlich weckte, indem er mir seine Hand fest auf den Mund preßte.

»Psst!« flüsterte er, »du hast geschnarcht.«

»Ja«, sagte ich erstaunt über seine ängstliche und finstere Miene, »und warum nicht?«

Er guckte vorsichtig über den Rand des Felsens und winkte mir, dasselbe zu tun.

Es war jetzt heller Tag, keine Wolke zu sehen und sehr heiß. Das ganze Tal lag so klar vor uns wie ein Bild. Ungefähr eine halbe Meile oberhalb des Wassers war ein Soldatenlager. Ein großes Feuer brannte in der Mitte, und Soldaten standen daran und kochten ihr Essen. Nicht weit davon, auf einem Felsen, der beinahe ebenso hoch war wie der unsrige, stand ein Posten, dessen Waffen in der Sonne glitzerten. Die ganze Strecke entlang, den Fluß abwärts, waren andere Posten aufgestellt, bald dichter, bald weiter von einander entfernt.

Ich tat nur einen Blick auf sie und duckte mich gleich wieder in mein Versteck. Es war auch wirklich seltsam, dieses Tal, das noch vor kurzem so einsam im Dämmerlicht gelegen hatte, jetzt von Waffen blitzend und mit roten Röcken und Hosen gesprenkelt zu sehen.

»Siehst du,« sagte Alan, »davor habe ich mich gefürchtet, Davie: daß sie das Wasser bewachen würden. Vor zwei Stunden fingen sie an langsam herein zu rücken, aber Mensch, bist du ein Schläfer! Viel Platz haben wir hier nicht. Wenn sie den Hang hinauf gehen, können sie uns leicht mit einem Glas entdecken, aber wenn sie nur unten im Tal bleiben, dann geht es vielleicht doch. Die Posten stehen flußabwärts nicht so dicht, und wenn die Nacht einbricht, könnten wir versuchen, durchzukommen.«

»Und was sollen wir inzwischen tun?« fragte ich.

»Hier liegen,« sagte er »und abbrennen.«

Und »abbrennen« war wirklich unsere einzige Beschäftigung für den ganzen langen Tag. Man muß bedenken, daß wir auf dem kahlen Felsen lagen wie Kuchen auf dem Roste. Die Sonne schien erbarmungslos auf uns nieder, der Stein wurde so heiß, daß man ihn kaum berühren konnte, und das kleine Fleckchen Erde und Faren, das kühler blieb, war nur für einen groß genug. Wir lagen abwechselnd auf dem bloßen Fels, was der Stellung eines Märtyrers gleichkam, der auf dem Roste gebraten wird. Es kam mir in den Sinn, wie seltsam es sei, daß ich im Laufe weniger Tage so grausam erst Kälte – auf meiner Insel – und jetzt Hitze – auf diesem Felsen – leiden mußte.

Wir hatten die ganze Zeit kein Wasser zu trinken, nur puren Branntwein, was schlechter war als garnichts. Aber wir gruben die Flasche, so gut es ging, in die Erde ein, um sie möglichst kühl zu halten, und feuchteten uns dann Brust und Schläfen an.

Die Soldaten blieben den ganzen Tag unten im Tal, wechselten ihre Posten ab und patrouillierten in kleinen Abteilungen zwischen den Felsen. Deren gab es ringsherum so viele, daß dort einen Menschen suchen ungefähr so viel hieße, wie eine Nadel in einem Bündel Heu finden. Da dies nun eine so hoffnungslose Aufgabe war, wurde sie mit der geringstmöglichen Sorgfalt unternommen. Wir konnten jedoch sehen, wie Soldaten ihre Bajonette hin und wieder in einen Heidebusch stießen, wobei es mich eiskalt überlief, oder sich um unseren Felsen herumtrieben, daß wir nicht zu atmen wagten.

Je weiter der Tag fortschritt, um so unerträglicher wurde die Langeweile und Qual dieser Stunden, denn der Felsen wurde immer heißer, und die Sonne brannte immer stärker.

Endlich gegen zwei Uhr war es nicht mehr auszuhalten, auch hatten wir jetzt nicht nur Qualen auszustehen, sondern Versuchungen zu widerstehen. Denn die Sonne stand nun ein Stückchen weiter westlich, und so fiel auf die östliche, von den Soldaten abgewendete Seite unseres Felsens ein wenig Schatten.

»Ein Tod ist so gut wie der andere,« sagte Alan und glitt hinüber auf die schattige Seite.

Ich folgte ihm sofort und fiel augenblicklich der Länge nach nieder, so müde und schwindlig war ich. Hier lagen wir also ein oder zwei Stunden lang, ganz schwach und mit schmerzenden Gliedern, frei vor den Blicken der Soldaten, wären sie diesseits des Weges gekommen. Aber keiner kam vorbei, alle gingen an der anderen Seite vorüber, so daß unser Fels uns auch in dieser neuen Stellung als Schutz diente.

Endlich kamen wir langsam wieder ein wenig zu Kräften, und da die Soldaten jetzt näher am Flusse lagen, machte Alan den Vorschlag, einen Aufbruch zu wagen. Ich fürchtete in diesem Augenblick nur eines auf der ganzen Welt: noch länger auf diesem Felsen liegen zu müssen. Alles andere war mir erwünscht. So machten wir uns sofort marschbereit und schlüpften einer hinter dem anderen von Fels zu Fels, bald krochen wir im Schatten flach auf dem Bauch, bald rannten wir Hals über Kopf.

Da die Soldaten diesen Teil des Tales in ihrer Art abgesucht hatten und auch vielleicht von der schwülen Nachmittagsluft müde waren, hatten sie ihre Wachsamkeit sehr verringert und standen schläfrig auf ihren Posten oder behielten eigentlich nur das Flußufer im Auge, so daß, wenn wir uns in der Richtung des Flusses an der Bergseite hielten, wir uns ständig von ihnen entfernten. Aber es war ein ziemlich ermüdendes Unternehmen. Ein Mann hätte tausend Augen bedürft, um in dieser unebenen Gegend, in Rufweite so vieler verstreut stehender Posten verborgen zu bleiben. Mußten wir an einer freien Stelle vorbei, so war nicht nur höchste Schnelligkeit notwendig, sondern auch rasche Beurteilung und richtige Erkenntnis des Terrains, sowohl in bezug auf die ganze Gegend, als auch jedes einzelnen Steines, auf den wir unseren Fuß setzen wollten. Denn es herrschte nun eine so vollkommene, tiefe Nachmittagsstille, daß ein rollendes Steinchen einen Lärm gleich einem Pistolenschuß verursacht hätte, der von allen Seiten laut widerhallt wäre.

Um die Zeit des Sonnenunterganges hatten wir trotz dem langsamen Vorwärtskommen eine hübsche Strecke zurückgelegt, wenngleich der Wachposten auf dem Felsen noch immer deutlich zu sehen war. Aber jetzt erblickten wir etwas, das jede Spur von Angst verscheuchte, das war ein tiefer, rauschender Bach, der sich hier durchwand, um in den Fluß zu münden. Kaum hatten wir ihn erblickt, so stürzten wir zu Boden und tauchten Kopf und Schultern in das Wasser, und ich weiß nicht, ob es die Kühle des Stromes, der sich über uns ergoß, oder die Lust des Trinkens war, die uns erquickender schien.

Wir lagen dort vom Uferrand geschützt und tranken wieder und immer wieder und badeten unsere Brüste und ließen die Handgelenke ins fließende Wasser hängen, bis uns die Kälte schmerzte. Endlich zogen wir, herrlich gestärkt, unser Mehlsäckchen hervor und machten uns in der Eisenpfanne einen Haferbrei, der zwar nur ein Gemisch von kaltem Wasser und Hafermehl ist, aber für einen hungrigen Mann eine ganz gute Mahlzeit bildet. Und wenn man keine Möglichkeit hat, ein Feuer anzuzünden, oder wie in unserem Falle seine guten Gründe dafür, es nicht zu tun, so ist es der Hauptbehelf jener, die sich für die Heide entschieden haben.

Sobald die Schatten der Nacht sich herabsenkten, machten wir uns wieder auf den Weg, anfangs mit derselben Vorsicht wie bisher, später aber wurden wir kühner und schritten aufrecht und ziemlich schnell vorwärts. Der Weg führte versteckt und hin- und hergewunden, an der Steilseite des Abhanges entlang und um vorstehende Felsen herum. Mit der Dämmerung waren Wolken aufgestiegen, die Nacht war finster und kühl, und ich ging ohne große Ermüdung, aber in ständiger Angst, niederzufallen und den Berg hinunterzurollen ohne jede Ahnung von unserer Richtung.

Endlich stieg der Mond auf und fand uns immer noch auf der richtigen Fährte. Er war in seinem letzten Viertel und lange Zeit stark von Wolken verdeckt. Aber schließlich verschwanden auch diese, und der Mond schien hell am Himmel, spiegelte sich tief unten in einer schmalen Meeresbucht, während sich oben die Berggipfel finster abhoben gegen die Helle.

Wir hielten beide bei diesem Anblick inne: ich, überrascht so hoch und wie es schien über Wolken zu wandern; Alan, um sich genau zurecht zu finden.

Er schien sehr befriedigt und hielt uns zweifellos außer Hörweite der Feinde, denn während des ganzen restlichen Nachtmarsches verkürzte er uns den Weg durch Pfeifen; da gab es allerhand Melodien: kriegerische, fröhliche, traurige, Marschlieder, die den Fuß im Takte hielten, Lieder meines südlicheren Heimatlandes, die mir die Sehnsucht, heim zu kommen, im Herzen weckten – und all dies, einsam in den großen, dunklen, öden Bergen, die auf uns herabsahen.


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