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Kapitel V

Ich gehe nach Queen's Ferry

Die ganze Nacht hindurch regnete es fort, und am nächsten Morgen wehte ein scharfer, kalter Wind von Nord-West her, daß die Wolken stoben. Trotzdem nahm ich, noch ehe die Sonne heraufgekommen und die letzten Sterne verschwunden waren, meinen Weg zum Bache und tauchte tief in das wirbelnde Wasser. Ganz glühend von meinem Bad, setzte ich mich nochmals ans Feuer, das ich neu anfachte und begann, meine Lage ernstlich zu überdenken.

Es bestand jetzt wohl kein Zweifel mehr über meines Onkels Feindseligkeit; auch bestand kein Zweifel, daß ich mein Leben in der Hand hielt und er jeden Stein umdrehen werde, um mich zu verderben. Aber ich war jung und frisch und hatte, wie die meisten auf dem Lande aufgewachsenen Burschen eine gute Meinung von meiner Schlauheit. Als ich an seine Tür kam, war ich nicht viel mehr als ein Bettler und nicht viel älter als ein Kind. Er war mir mit tückischem Verrat und roher Gewalt begegnet. Es wäre eine feine Vergeltung, die Oberhand zu gewinnen und ihn wie eine Herde Schafe zu treiben und zu lenken.

Ich saß da am Feuer, rieb mir das Knie und lächelte vor mich hin. Ich sah mich schon in Gedanken, ihm ein Geheimnis nach dem anderen herauslocken und dieses Mannes Gebieter und König werden. Der Zauberer von Essendean, hieß es, habe einen Spiegel gemacht, in dem man die Zukunft sehen könnte. Der mußte aus anderem Stoffe gewesen sein als aus brennenden Kohlen; denn in allen Gestalten und Bildern, die ich so vor mich starrend sah, war auch keine Spur von einem Schiff, von einem Mann mit einer Pelzmütze, nichts von einem Knüppel auf meinem dummen Kopf und all dem anderen Elend, das mich so bald befallen sollte.

Endlich ganz aufgeblasen und eingebildet ging ich hinauf und gab meinem Gefangenen die Freiheit. Er wünschte mir höflich einen guten Morgen, ich tat desgleichen und lächelte von der Höhe meiner Selbstgefälligkeit verächtlich auf ihn nieder. Bald saßen wir beim Frühstück, als wäre es tags zuvor gewesen.

»Nun, Herr,« sagte ich in spöttischem Tone, »habt Ihr mir nichts mehr zu sagen?« Und dann, als er keine deutliche Antwort gab: »Es wird Zeit sein, einander klipp und klar zu verstehen«, fuhr ich fort. »Ihr habt mich für einen dummen Bauernbuben gehalten, der nicht viel mehr Mut oder Mutterwitz besitzt als ein Suppenlöffel. Ich hielt Euch für einen guten Mann oder zumindest für nicht schlechter als andere. Es scheint, wir haben uns beide geirrt. Welchen Grund Ihr habt, mich zu fürchten, mich zu betrügen und mir nach dem Leben zu stehen...«

Er murmelte etwas von einem Scherz und daß er gerne ein wenig Spaß treibe und dann, als er mein Lächeln bemerkte, änderte er plötzlich den Ton und versicherte mir, er wolle alles aufklären, sobald wir unser Frühstück beendet hätten. Ich sah ihm am Gesichte an, daß er keine Lüge für mich bereit hatte, obwohl er sich sehr bemühte, eine zu finden; und ich glaube, ich wollte ihm das gerade sagen, als wir durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen wurden.

Ich hieß meinen Onkel auf seinem Platz sitzen bleiben und ging, um aufzumachen. Ich fand vor der Tür einen halbwüchsigen Buben in Seemannstracht. Sobald er mich erblickt hatte, tanzte er einige Schritte zum Klange einer Holzflöte (wie man sie auf Schiffen zu haben pflegt und die ich nie zuvor gesehen oder gar gehört hatte), schnalzte mit den Fingern in der Luft und machte im Takt Schritte dazu. Er war aber ganz blau vor Kälte und in seinem Gesicht lag ein Ausdruck zwischen Weinen und Lachen, der ungemein traurig anmutete und schlecht zu seinen Heiterkeitsgebärden paßte.

»Lustig, Kamerade, lustig!« rief er mit heiserer Stimme.

Ich fragte ihn gelassen nach seinem Begehren.

»O Freude!« sagte er und fing an zu singen.

»Gut,« sagte ich, »wenn du überhaupt kein Begehren vorzubringen hast, werde ich dir einfach und ohne viel Höflichkeit die Tür vor der Nase zumachen.«

»Halt, Bruder!« rief er. »Verstehst du keinen Spaß? Oder willst du, daß ich Prügel bekomme? Ich habe einen Brief vom alten Heasy-oasy an Herrn Belflower.« Er reichte mir einen Brief. »Und ich sag' dir, Kamerad,« fügte er hinzu, »ich bin tothungrig.«

»Gut,« sagte ich, »komm ins Haus und du sollst was zu essen kriegen, wenn ich dafür auch leer ausgehen sollte.«

Damit führte ich ihn hinein und setzte ihn an meinen eigenen Platz, wo er gierig über die Reste meines Frühstückes herfiel, mir von Zeit zu Zeit zublinzelte und Gesichter schnitt, was der arme Kerl, glaub' ich, für männlich hielt. Inzwischen hatte mein Onkel den Brief gelesen und saß in Gedanken da; dann sprang er plötzlich sehr lebhaft auf und zog mich in den entferntesten Winkel des Raumes.

»Lies das«, sagte er und gab mir den Brief in die Hand. Er liegt hier vor mir, währenddem ich schreibe:

»Hawes Gasthaus in Queen's Ferry.

Sehr geehrter Herr! – Ich liege hier mit gelichteten Ankern und schicke Euch meinen Schiffsjungen, um Euch davon zu benachrichtigen. Wenn Ihr noch irgend welche Wünsche habt über See, so ist heute die letzte Gelegenheit, denn der Wind ist günstig zum Ausfahren. Ich will nicht leugnen, daß ich mit Eurem Anwalt, Herrn Rankeillor, Streitigkeiten gehabt habe, und wenn die Sache nicht schnell in Ordnung gebracht wird, könnt Ihr Euch auf einen Verlust gefaßt machen. Ich schicke Euch anbei eine Rechnung ein und verbleibe

Euer ergebenster Diener

Elias Hoseason.«

»Du siehst, Davie,« nahm mein Onkel das Wort, sobald er sah, daß ich fertig wäre, »ich habe bei diesem Hoseason eine Ladung, er ist Kapitän eines Handelsschiffes, der Covenant von Dysart. Wenn du und ich nun mit diesem Jungen hinübergingen, könnte ich den Kapitän bei Hawes oder an Bord der Covenant, wenn vielleicht Papiere zu unterschreiben wären, sprechen und dies wäre nicht nur kein Zeitverlust für uns, sondern wir könnten sogar gleich weitergehen zu Herrn Rankeillor, dem Advokaten. Nach all dem, was vorgefallen ist, wirst du mir auf mein bloßes Wort hin nicht glauben wollen; aber Herrn Rankeillor wirst du glauben. Er führte die Geschäfte von beinahe allen Edelleuten hier ringsherum; ist nebstbei ein alter Mann, hoch angesehen und hat deinen Vater gut gekannt.«

Ich stand ein« Weile da und dachte nach. Ich sollte in einen Hafenort gehen, der zweifellos voll Menschen war und wo mein Onkel wohl keine Gewalttat wagen dürfte und sogar die Gesellschaft des Schiffsjungen schützte mich soweit. Einmal dort, dachte ich, werde ich den Besuch beim Advokaten schon erzwingen können, selbst wenn mein Onkel es jetzt mit diesem Vorschlag nicht ehrlich meinte; und schließlich wünschte ich vielleicht im Grunde meines Herzens, das Meer und die großen Schiffe in der Nähe zu sehen. Man muß bedenken, daß ich mein ganzes Leben in den Bergen verbracht hatte und eben erst vor zwei Tagen zum erstenmal den Hafen gesehen hatte, der wie ein blauer Fleck vor mir gelegen war, und die segelnden Schiffe, die darauf hinfuhren, nicht größer als Spielzeug. Eines kam zum andern, und ich entschloß mich zu gehen.

»Sehr gut,« sagte ich, »gehn wir nach Ferry.«

Mein Onkel nahm Hut und Mantel und gürtete sich einen alten, rostigen Degen um. Dann traten wir das Feuer aus, sperrten die Tür zu und machten uns aus den Weg.

Der Wind, der von Nordwest her kam, blies uns beinahe gerade ins Gesicht. Es war im Monat Juni, die Wiesen waren voll Gänseblümchen, und die Bäume standen in Blüte. Nach unseren blauen Fingernägeln aber und gefrorenen Knöcheln zu schließen, hätte es Winter sein können.

Onkel Ebenezer trabte in der Wegrinne und wankte von einer Seite auf die andere wie ein alter Bauer, der abends vom Pflügen heimkehrt. Er sprach den ganzen Tag über kein einziges Wort, und ich war, was das Reden anbelangte, auf den Schiffsjungen angewiesen. Er erzählte mir, sein Name wäre Ransome und er sei seit seinem neunten Lebensjahr auf der See; aber er wußte nicht, wie alt er war, denn er hatte inzwischen die Rechnung verloren. Er zeigte mir seine Tätowierungen, wobei er sich trotz dem beißend kalten Wind und all meinen Vorstellungen die Brust entblößte; ich dachte, er könnte sich den Tod dabei holen. Er fluchte fürchterlich, wann immer er Gelegenheit dazu finden konnte, aber mehr wie ein dummer Schulbub als wie ein Mann; auch prahlte er mit vielen wüsten und schlechten Taten, die er begangen hätte: heimliche Diebstähle, falsche Anklagen, ja sogar Morde; aber alles mit so geringer Wahrscheinlichkeit in den Einzelheiten und so schwacher, dummer Großtuerei in der Ausführung, daß ich ihn eher bemitleidete als ihm glaubte.

Ich fragte ihn nach dem Schiff (von dem er behauptete, es wäre das feinste Fahrzeug, das nur je gesegelt sei) und nach dem Kapitän Hoseason, den er ebenso hoch pries. Heasyoasy (denn so nannte er den Schiffsherrn immer noch) war nach seinem Bericht ein Mann, der sich um nichts anderes im Himmel oder auf Erden kümmerte; einer der, wie man zu sagen pflegte, »mit vollen Segeln ins jüngste Gericht hineinfahren würde«; roh, wild, skrupellos und brutal; und all dies hatte mein armer Schiffsjunge als etwas Seemännisches, Männliches bewundern gelernt. Nur einen Fehler seines Idols gab er zu. »Er ist kein Seemann,« gab er zu, »es ist Herr Shuan, der das Schiff führt; er ist der tüchtigste Seefahrer von allen, bis auf das Trinken; und ich kann dir sagen, ich muß es wohl wissen. Da, schau her«, er zog seinen Strumpf hinunter und zeigte mir eine große rote Wunde, daß mir das Blut stockte. »Das hat er getan, Herr Shuan hat's getan«, sagte er mit einem gewissen Stolz. »Was,« rief ich, »läßt du dir eine so rohe Behandlung von ihm gefallen? Du bist doch kein Sklave, daß man dich so behandelt!«

»Nein,« sagte das arme Mondkalb und änderte sofort seinen Ton, »und er wird schon sehen! Da schau!« und er zeigte mir ein großes Messer, das, wie er mir sagte, gestohlen sei. »Oh!« sagte er, »er soll's nur versuchen! Ich rat' es ihm! Ich werd' noch fertig mit ihm! Oh, er wäre nicht der erste!« Und er bekräftigte es mit einem armseligen, dummen, häßlichen Fluch.

Ich habe noch niemals für irgendjemand auf der ganzen Welt so großes Mitleid empfunden wie für dieses halbblöde Geschöpf und es wurde mir langsam klar, daß das Segelschiff Covenant (trotz dem friedlichen Namen) nur wenig besser war als die Hölle auf dem Meer.

»Hast du keine Freunde?« sagte ich.

Er sagte, daß er einen Vater in irgend einem englischen Seehafen hätte, ich vergaß den Namen. »Er war auch ein feiner Kerl,« sagte er, »aber jetzt ist er tot.«

»Um Gottes willen,« rief ich, »kannst du nicht irgend einen ehrlichen Lebensunterhalt an Land finden?«

»Oh, nein,« sagt er blinzelnd und sah sehr verschlagen drein, »Sie würden mich in die Lehre stecken. Ich kenne einen noch besseren Trick, ah ja!«

Ich fragte ihn, was für ein Leben denn noch so schrecklich sein könnte wie das seine, da er doch in ständiger Lebensgefahr schwebe, nicht nur von Wind und Wasser bedroht, sondern von der schrecklichen Grausamkeit jener, die seine Gebieter wären. Er sagte, das wäre schon wahr und dann fing er an, sein Leben zu preisen und was für ein Vergnügen es sei, mit Geld in der Tasche ans Land zu gehen und es wie ein Mann ausgeben zu können, Äpfel zu kaufen und sich groß aufzuspielen. »Und dann schließlich ist es auch nicht gar so arg,« sagte er, »andere sind noch ärger dran als ich: da sind die Zwanzig-Pfünder. O Gott! Das solltest du einmal sehen! Na, ich hab' einmal einen Mann gesehen, vielleicht so alt wie du« (ihm schien ich alt) »ah, und er hatte auch einen Bart – na, und sobald wir aus dem Fluß heraus waren und der Wein aus seinem Kopfe – meine Güte...! Wie der schrie und was der angab! Ich hielt ihn schön zum Narren, sag' ich dir! Und dann die Kleinen da auch: O die Kleinen gar! Ich sag' dir, die halt ich in Ordnung! Wenn wir Kleine führen, da krieg' ich auch ein Stückchen Tau und dann peitsch' ich sie.« Und so fuhr er fort, bis es mir endlich klar wurde, daß er mit den Zwanzig-Pfündern jene unglücklichen Verbrecher meinte, die nach Nordamerika als Sklaven verschickt wurden oder die noch unglücklicheren Unschuldigen, die geraubt oder entführt wurden um privater Interessen oder Rachsucht willen.

Da waren wir eben auf der Höhe angelangt und sahen auf Ferry nieder. Der Firth of Forth verengt sich (wie ja allgemein bekannt ist) eben an dieser Stelle zur Breite eines gewöhnlichen Flusses, wodurch eine bequeme Fähre gegen Norden führt und der obere Teil als ein landumschlossener Hafen für alle möglichen Schiffe abgetrennt wird. Genau in der Mitte der Enge liegt eine kleine Insel mit irgend einer Ruine, und am Südufer hat man eine Brücke zur Verbindung mit Ferry gebaut. Am Ende der Brücke auf der anderen Seite der Straße sah ich das Gebäude, das man Hawes Gasthaus nannte, an ein hübsches Gärtchen gelehnt mit einigen Hollunderbäumen und Hagedorngebüschen im Hintergrunde.

Die Stadt Queen's Ferry liegt weiter westlich und die Umgebung des Gasthauses sah um jene Tageszeit hübsch einsam aus, denn das Boot war eben mit Passagieren nordwärts gefahren. Nur ein Kahn lag an der Brücke, auf dessen Bänken einige Matrosen schliefen. Dies war, wie mir Ransome sagte, das Boot des Segelschiffes, das auf den Kapitän wartete. Und etwa eine halbe Meile weit draußen, ganz allein und verankert, zeigte er mir die Covenant selbst. An Bord herrschte Bewegung wie vor der Abfahrt; Segelstangen schwebten hoch in der Luft, um dann befestigt zu werden, und als der Wind aus dieser Richtung kam, konnte ich das Singen der Matrosen hören, wie sie an den Seilen zogen. Nach all dem, was ich unterwegs gehört hatte, sah ich dieses Schiff nur voll tiefen Abscheues an und bedauerte im Grunde meines Herzens all die armen Seelen, die verdammt waren darauf zu segeln.

Auf der Höhe angelangt, schöpften wir alle drei frisch Atem und ich schritt quer über die Straße auf meinen Onkel zu und sagte ihm: »Herr, ich halte es für richtig, gleich zu sagen, daß mich nichts dazu bringen könnte, an Bord dieser Covenant zu gehen.«

Er schien aus einem Traum zu erwachen. »Eh!« sagte er, »was gibt's?«

Ich sagte es ihm noch einmal.

»Gut, gut,« sagte er, »wir werden es dir zu lieb so machen, glaub' ich. Aber wozu stehen wir hier? Es ist verflucht kalt und wenn ich mich nicht täusche, machen sie sich auf der Covenant zur Abfahrt bereit.«


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