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Kapitel II

Ich gelange an das Endziel meiner Reise

Am Vormittag des zweiten Tages sah ich, als ich auf die Spitze eines Hügels kam, das Land rings vor mir zum Meere hin abfallen; und inmitten dieses Abhanges, auf einem langen Grat rauchte die Stadt Edinburgh wie ein Riesenofen. Eine Flagge wehte auf dem Schloß, und Schiffe bewegten sich auf dem Meer oder lagen in der Bucht verankert. Ich konnte beides genau sehen, so weit entfernt ich auch stand, und beides bewog mich, mein Landrattenmaul weit aufzusperren.

Kurz nachher kam ich an einem Haus vorbei, in dem ein Hirt wohnte und der gab mir ungefähr die Richtung an, wie ich in die Gegend von Cramond käme; und so arbeitete ich mich von einem zum anderen durch, bis ich über Colinton westlich von der Hauptstadt auf der Straße von Glasgow herauskam. Dort erblickte ich zu meiner großen Freude und Verwunderung ein Regiment Soldaten, die im Takt zum Klange der Pfeifen marschierten, ein alter rotwangiger General auf einem grauen Pferde an einem Ende und eine Kompagnie Grenadiere mit ihren Bischofsmützen am anderen. Aller Lebensmut schien mir beim Anblick der Rotröcke und beim Klang der fröhlichen Musik zu Kopfe zu steigen.

Ein Stückchen weiter sagte man mir, daß ich im Gemeindebezirk von Cramond wäre, und ich fing nun an, mich in meinen Fragen nach dem Hause der Shaws zu erkundigen. Das schien jene, von denen ich meinen Weg zu erfragen suchte, in Erstaunen zu setzen. Zuerst glaubte ich, daß die Einfachheit meiner Erscheinung – in meinem Bauernanzug, der noch dazu von der Landstraße ganz staubig war – schlecht zu der Größe des Ortes paßte, zu dem ich gelangen wollte. Aber nachdem ich von zweien oder auch dreien denselben Blick und dieselbe Antwort erhalten hatte, da ging es mir langsam auf, daß da etwas Sonderbares um die Shaws sein müsse.

Um diese Furcht schneller zu verscheuchen änderte ich die Art meiner Fragen. Als ich einen ehrlichen Burschen erspäht hatte, der in seinem Karren über eine Wiese herankam, fragte ich ihn, ob er jemals etwas von einem Hause der Shaws, wie sie es nannten, gehört habe.

Er hielt seinen Wagen an und sah mich genau so wie die übrigen an.

»Ja,« sagte er, »warum?«

»Ist es ein großes Haus?« fragte ich.

»Sicherlich«, sagte er. »Das Haus ist ein großes, geräumiges Haus.«

»Ja,« sagte ich, »und die Leute, die darin wohnen?«

»Leute?« rief er, »seid Ihr verrückt? Da gibt's keine Leute dort – was man so Leute nennt.«

»Was?« sagte ich, »nicht Herrn Ebenezer?«

»O ja,« sagte der Mann, »der Gutsherr dort, natürlich wenn Ihr den sucht. Was habt Ihr denn dort zu tun, Herrchen?«

»Ich hab' geglaubt, daß ich dort eine Stelle bekommen könnte«, sagte ich und sah so bescheiden drein, wie ich nur konnte.

»Was?« ruft der Mann so laut, daß sogar sein Pferd scheute. Und dann, »na, mein Herrchen,« fügte er hinzu »es geht mich ja nichts an, aber Ihr scheint ein ordentlicher Bursche zu sein und wenn Ihr von mir einen Rat annehmen wollt, so haltet Euch fern von den Shaws.«

Der Nächste, dem ich begegnete, war ein gewandtes, kleines Männchen mit einer schönen, weißen Perücke, das ich sofort als einen Barbier erkannte, der seine Runde machte. Da ich wohl wußte, daß Barbiere große Schwätzer seien, fragte ich ihn geradezu, was Herr Balfour von Shaws für ein Mann sei.

»Hu, hu, hu,« sagte der Barbier, »das ist so eine Art von einem Mann, gar keine Art von einem Mann eigentlich«, und er fing ganz schlau an, mich darüber auszufragen, was ich eigentlich vorhätte. Aber darin war ich ihm wohl gründlich gewachsen und er mußte zu seinem nächsten Kunden abziehen, um nichts klüger als zuvor.

Ich kann nicht gut beschreiben, was das für ein Schlag war für all meine Illusionen. Je unbestimmter die Anschuldigungen waren, um so weniger gefielen sie mir, denn sie ließen meiner Phantasie um so größeren Spielraum. Was für ein seltsames Haus mußte das sein, daß die ganze Gemeinde staunte und starrte, wenn einer nach dem Weg dahin fragte? Oder was für ein merkwürdiger Herr, daß sein übler Ruf auf der offenen Straße so wohlbekannt war? Hätte mich eine Stunde Weges nach Essendean zurückgebracht, wie gerne hätte ich meine Abenteuer im Stiche gelassen und wäre zurückgekehrt zum Hause des Herrn Campbell. Aber da ich schon einen so weiten Weg gemacht hatte, schämte ich mich, von meinem Vorhaben abzustehen, ehe ich die Sache genau geprüft hatte. Ich fühlte mich aus bloßer Selbstachtung gezwungen, durchzuhalten. Und so wenig mir auch das, was ich hörte, gefiel und so langsam ich auch weiterging, so fragte ich mich doch durch und kam vorwärts.

Es war schon um die Dämmerung, als mir ein kräftiges, dunkles, finster blickendes Weib begegnete, das langsam einen Hügel herunter kam. Als ich meine gewohnte Frage an sie stellte, wandte sie sich schnell um, begleitete mich bis zur Spitze des Hügels, den sie eben heruntergekommen war, zurück und deutete auf einen großen Gebäudekomplex, der auffallend kahl inmitten einer Rasenfläche stand, unten in dem vor uns liegenden Tal. Die Gegend rings umher war gar lieblich; sanfte Hügel, Bäche, Wälder und Felder, deren Getreide mir ganz besonders hoch und schön zu stehen schien. Aber das Haus selbst glich einer Ruine, keine Straße führte hinzu, kein Rauch stieg von den Kaminen empor, auch gab es nichts, was einem Garten glich. Mein Mut sank. »Das?« rief ich.

Das Antlitz des Weibes leuchtete auf in boshaftem Haß. »Das ist das Haus der Shaws!« rief sie. »Mit Blut ward es gebaut; Blut brachte den Bau zum Stillstand; durch Blut soll es fallen. Da sieh!« rief sie wieder, »ich speie auf den Boden und knicke meinen Daumen davor! Dunkel sei sein Fall! Wenn du den Gutsherrn siehst, sag' ihm, was du hörst. Sag' ihm, dies ist das zwölfhundertneunzehnte Mal, daß Jennet Clouston den Fluch gesprochen hat über ihn und sein Haus, über Speicher und Stall, Männer und Gäste und Herr, Frau, Mädchen und Kind – schwarz und schwer sei ihr Fall!«

Und das Weib, deren Stimme sich zu einer Art beschwörendem Sing-Sang erhoben hatte, wandte sich mit einem Ruck und war verschwunden. Ich stand, wo sie mich verlassen hatte und die Haare standen mir zu Berge. In jenen Tagen glaubten die Leute noch an Hexen und zitterten vor einem Fluch. Und dieser, der so unerwartet niedergedonnert war, ein zufälliges Omen, mich warnend, an meinem Vorhaben festzuhalten, ließ mir das Mark in den Knochen erstarren.

Ich setzte mich hin und starrte nach dem Hause der Shaws. Je länger ich hinsah, um so lieblicher erschien mir die ganze Gegend. Rings umher die Hagedornbüsche in voller Blüte, die Wiesen gesprenkelt mit weidenden Schafen, ein Zug Krähen hoch oben in der Luft, alle Anzeichen eines fruchtbaren Bodens und freundlichen Klimas. Doch diese Baracke inmitten all dieses Friedens wollte zu meinen Erwartungen so gar nicht passen.

Es gingen wohl Bauersleute vorbei, als ich da so am Rande des Grabens saß, aber es fiel mir nicht ein, ihnen einen guten Abend zu wünschen. Endlich ging die Sonne unter und dann sah ich, sich scharf gegen den gelben Himmel abhebend, eine Rauchsäule aufsteigen, nicht viel dicker schien es mir als der Rauch einer Kerze. Aber immerhin sie war doch da und bedeutete Feuer und Wärme und Essen und irgend einen lebendigen Bewohner, der es angezündet haben mußte. Und das tröstete mein Herz ungemein – mehr, sicherlich, als eine ganze Flasche voll von jenem Maiglöckchenwasser, von dem Herr Campbell so viel Aufhebens machte.

Und so setzte ich mich in Bewegung und folgte einer schwachen Spur im Grase, die in meiner Richtung führte. Sie war wirklich sehr schwach, als einziger Weg zu einem bewohnten Ort, aber ich sah keine andere. Endlich brachte sie mich zu einigen aufgeschlichteten Steinen mit einer ungedeckten Hütte daneben und einer Menge dürrer Äste darauf. Zweifellos hätte das wohl einmal ein Haupteingang werden sollen, war aber nie vollendet worden. Statt eines Gittertores aus getriebenem Eisen waren einige mit Stroh umwickelte Zaunpfähle im Boden befestigt, und da es keine Gartenmauer gab und kein Anzeichen einer Allee, folgte ich einem Pfad, der rechts an den Pfählen vorbei auf das Haus zu führte.

Je näher ich kam, um so trostloser sah es aus. Es erschien wie der eine Flügel eines Hauses, das niemals beendet worden war. Was im Innern hätte sein sollen, stand frei sichtbar im oberen Stockwerk und hob sich mit Stufen und Stiegen eines unvollendeten Baues vom Himmel ab. Viele der Fenster waren ohne Scheiben und die Fledermäuse flogen ein und aus wie Tauben in einen Taubenschlag.

Als ich nahe gekommen war, begann es langsam Nacht zu werden. In dreien der unteren Fenster, die ziemlich hoch oben waren und klein und fest vergittert, fing das flackernde Licht eines kleinen Feuers zu leuchten an.

War dies das Schloß, zu dem ich gewandert war? Waren es diese Mauern, hinter denen ich neue Freunde und ein großes Vermögen suchen sollte? Nein, in meines Vaters Hause in Essendean pflegte das Feuer und die hellen Lichter eine Meile weit zu leuchten und die Tür sich beim ersten Pochen eines jeden Bettlers zu öffnen.

Ich ging vorsichtig weiter und scharf hinhorchend, hörte ich jemand mit Schlüsseln klappern und ein schwaches trocknes Husten, das stoßweise kam; aber es war kein Ton einer menschlichen Stimme zu hören und kein Hund bellte.

Die Tür war, so gut ich es im Finstern sehen konnte, aus starkem Holz, ganz mit Nägeln beschlagen und ich zog schwachen Mutes meine Hand unterm Rocke hervor, um zu klopfen. Dann stand ich und wartete. Im Hause war es totenstill geworden. Eine ganze Minute verging und nichts regte sich, nur die Fledermäuse oben. Ich klopfte wieder und horchte wieder. Jetzt waren meine Ohren schon so sehr an die Stille gewöhnt, daß ich das Ticken der Uhr drinnen vernahm, wie sie langsam die Sekunden zählte. Aber wer auch immer in diesem Hause sein mochte, er verhielt sich totenstill und mußte sogar seinen Atem anhalten.

Ich war im Zweifel, ob ich davonlaufen sollte; aber der Zorn behielt die Oberhand und ich fing statt dessen an, mit Fäusten und Füßen gegen die Tür zu schlagen und laut nach Herrn Balfour zu schreien. Ich war in vollem Zug, als ich das Husten gerade über meinem Kopfe vernahm. Ich fuhr zurück, sah hinauf und erblickte den Kopf eines Mannes in einer großen Nachtmütze und die Mündung eines Gewehres in einem der Fenster des ersten Stockwerkes.

»S' ist geladen«, sagte die Stimme.

»Ich bin mit einem Brief hergekommen«, sagte ich, »für Herrn Ebenezer Balfour von Shaws. Ist er hier?«

»Von wem ist er?« fragte der Mann mit der Flinte.

»Das ist weder hier noch dort«, sagte ich, denn ich wurde ganz wütend.

»Gut,« war die Antwort, »du kannst ihn auf die Türschwelle legen und dich fortscheren.«

»Das werde ich nicht tun«, rief ich. »Ich werde ihn Herrn Balfour selbst übergeben, so wie es mir aufgetragen worden war. Es ist ein Empfehlungsbrief.«

»Was ist es?« rief die Stimme scharf.

Ich wiederholte, was ich gesagt hatte.

»Wer bist denn du selbst?« war die nächste Frage nach einer beträchtlichen Pause.

»Ich schäme mich meines Namens nicht,« sagte ich, »man nennt mich David Balfour.«

Daraufhin mußte der Mann wohl zurückgefahren sein, denn ich hörte das Gewehr am Fensterbrett rasseln; und erst nach einer ziemlich langen Pause und mit merkwürdig veränderter Stimme folgte die nächste Frage:

»Ist dein Vater tot?«

Ich war so überrascht, daß mir die Stimme versagte. Ich stand still und starrte ihn an.

»Ja,« hub der Mann wieder an, »er wird wohl tot sein, zweifellos, und das führt dich auch her und darum klopfst du an meine Tür.« Wieder Pause und dann verächtlich: »Na gut, junger Mann,« sagte er, »ich will dich herein lassen.« Und er verschwand vom Fenster.


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