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Kapitel VIII

Die Offizierskajüte

Eines Abends gegen neun Uhr kam ein Mann von Herrn Riachs Nachtwache (er selbst war auf Deck) herunter, um sich seine Jacke zu holen. Da ging augenblicklich ein Flüstern durch den Raum, daß Shuan ihm nun endlich den Rest gegeben hätte. Es war nicht notwendig, einen Namen zu nennen, wir wußten alle, wen er meinte. Aber wir hatten kaum Zeit, uns über den Gedanken ganz klar zu werden, noch viel weniger darüber zu sprechen, als die Luke wieder aufgerissen wurde und Kapitän Hoseason die Leiter herunterkam. Er blickte suchend beim schwankenden Licht der Laternen rings umher auf alle Pritschen, dann ging er geradewegs auf mich zu und redete mich zu meiner größten Verwunderung freundlich an.

»Auf, Bursche,« sagte er, »wir brauchen dich, du sollst in der Offizierskajüte bedienen. Du wirft mit Ransome das Lager tauschen. Lauf, schnell, achtern mit dir!«

Während er noch sprach, erschienen zwei Matrosen in der Öffnung, die Ransome auf den Armen trugen. Da das Schiff in diesem Augenblick stark schaukelte, fiel das Licht der schwankenden Laterne hell auf des Knaben Antlitz. Er war weiß wie Wachs, und es lag ein Ausdruck gleich einem entsetzlichen Lächeln darauf. Mir stockte das Blut in den Adern und ich hielt den Atem an, als hätte ich einen Schlag bekommen.

»Lauf, schnell achter, lauf! achtern mit dir!« rief Hoseason.

Daraufhin streifte ich an den Matrosen und dem Knaben vorbei (keiner sprach oder rührte sich) und lief die Leiter hinauf auf Deck.

Das Schiff schaukelte stark und schwindelerregend auf dem Kamm einer langen, anschwellenden Woge. Es neigte sich nach der Steuerbordseite und ich konnte links, unter dem gebauschten Ende des Focksegels die untergehende Sonne noch ziemlich hell scheinen sehen. Dies zu einer so vorgerückten Stunde setzte mich zwar in Erstaunen, aber ich besaß zu wenig Kenntnisse, um daraus den richtigen Schluß zu ziehen – daß wir nördlich um Schottland herumsegelten und uns jetzt zwischen Orkney und den Shetlandinseln auf hoher See befanden und die gefährlichen Strömungen des Pentland Firth glücklich vermieden hatten. Ich für mein Teil, der so lange im Finstern gelegen hatte und nichts von widrigen Winden wußte, glaubte, daß wir bereits den halben Weg oder noch mehr über den Atlantischen Ozean hinter uns hätten. Und wirklich (ich wunderte mich zwar ein wenig über die späte Stunde des Sonnenunterganges) gab ich nicht sehr Acht darauf und beeilte mich, übers Deck zu kommen, lief durchs Wasser und hielt mich an den Tauen fest; daß ich nicht über Bord fiel, verdanke ich nur der gütigen Hilfe einer Hand auf Deck, die mir allezeit gnädig gewesen ist.

Die Offizierskajüte, in die ich sollte, und wo ich jetzt schlafen und bedienen mußte, stand etwa sechs Fuß über dem Deck und war, im Vergleich zur Größe des Schiffes, ziemlich geräumig. Ein festgemachter Tisch und eine Bank waren darinnen und zwei Bettstellen, eine für den Kapitän und die andere abwechselnd für die beiden Steuermänner. Alles von oben bis unten war mit verschließbaren Schränken versehen, um die Habe der Offiziere und die Schiffsvorräte einsperren zu können; unterhalb war noch ein zweiter Vorratsraum, in dem man durch eine Hühnersteige von der Mitte des Decks aus gelangen konnte. Tatsächlich waren an diesem Ort die meisten und besten Eß- und Trinkvorräte und alles Pulver verstaut; alle Schießwaffen, mit Ausnahme der beiden schweren Messinggeschütze, waren in einem Gestell an der hintersten Wand der Kajüte verwahrt, die meisten Degen wurden an einem anderen Orte aufbewahrt.

Das Tageslicht fiel durch ein kleines Fenster mit Läden an beiden Seiten und durch ein Dachfenster ein. Nach Einbruch der Dunkelheit brannte ständig eine Lampe. Sie brannte auch jetzt, als ich eintrat, nicht sehr hell, aber es genügte, um Herrn Shuan am Tische sitzen zu sehen, die Branntweinflasche und einen kleinen Zinnkrug vor sich. Er war ein großer, kräftig gebauter Mann, mit tiefschwarzem Haar; er starrte wie ein Blödsinniger vor sich auf den Tisch.

Er achtete nicht auf mein Kommen, auch rührte er sich nicht, als der Kapitän, der mir gefolgt war, eintrat; dieser lehnte sich an das neben mir befindliche Lager und blickte finster auf den Steuermann. Ich hatte große Angst vor Hoseason und hatte meine guten Gründe dafür; aber etwas sagte mir, daß ich mich gerade jetzt nicht zu fürchten brauche. So flüsterte ich ihm ins Ohr: »Wie geht's ihm?« Er schüttelte den Kopf wie einer, der nichts weiß und nicht nachdenken will und sein Gesicht war sehr ernst.

Bald darauf kam Herr Riach herein. Er warf dem Kapitän einen Blick zu, der deutlicher als Worte es auszudrücken vermochten, besagte, daß der Knabe tot sei. So standen wir alle drei ohne ein Wort zu sprechen und starrten auf Herrn Shuan nieder und Herr Shuan seinerseits saß, ohne ein Wort zu sagen, und starrte auf den Tisch.

Plötzlich streckte er die Hand aus, um nach der Flasche zu greifen; da schritt Herr Riach auf ihn zu, nahm sie ihm weg – mehr durch Überrumpelung als durch Gewalt – stieß einen derben Fluch aus und rief: »Von dieser Art Arbeit ist nun schon genug geleistet worden und der Himmel wird zur Strafe noch Unheil senden über das Schiff.« Mit diesen Worten schleuderte er die Flasche durch die offenstehende Tür ins Meer.

In einem Augenblick war Herr Shuan auf den Beinen, er sah noch immer wie geblendet drein, aber sein Blick bedeutete Mord, ja, und er hätte es getan, zum zweitenmal in dieser Nacht, wäre nicht der Kapitän dazwischengetreten.

»Setzen!« brüllte der Kapitän. »Du Saufbold, du Schwein! Weißt du, was du getan hast? Du hast den Buben erschlagen!«

Herr Shuan schien zu verstehen, denn er setzte sich wieder nieder und legte seine Hand an den Kopf.

»Ja,« sagte er, »er hat mir einen schmutzigen Krug gebracht.«

Bei diesen Worten sahen wir einander alle drei, der Kapitän, ich und Herr Riach eine Sekunde lang voll Entsetzen an, dann schritt Hoseason auf seinen ersten Steuermann zu, faßte ihn an der Schulter, führte ihn zu seiner Pritsche und hieß ihn, sich niederlegen und schlafen, in einem Ton, wie man mit einem Kinde zu sprechen pflegt. Der Mörder weinte ein wenig, zog aber seine Seemannsstiefel aus und gehorchte.

»Ah!« rief Herr Riach mit einer schrecklichen Stimme, »Ihr hättet Euch schon vor langem ins Mittel legen, sollen. Jetzt ist's zu spät.«

»Herr Riach,« sagte der Kapitän, »was heute nachts geschehen ist, darf in Dysart niemals bekannt werden. Der Knabe ging über Bord, so soll es heißen, und ich gäbe gerne fünf Pfund aus meiner eigenen Tasche, wenn es wahr wäre!« Er wendete sich zum Tisch: »Wozu habt Ihr die gute Flasche hinausgeworfen?« fügte er hinzu. »Das hat keinen Sinn gehabt, mein Herr. Hier David, bring mir eine andere«, und er warf mir einen Schlüssel hin. »Ihr werdet selbst ein Glas nötig haben, Herr!« fügte er zu Riach gewendet hinzu. »Es war häßlich mitanzusehen.«

So setzten sie sich beide nieder und stießen mit den Gläsern an, während der Mörder, der bisher wimmernd auf seinem Lager gelegen hatte, sich, auf den Ellbogen gestützt, ein wenig erhob und mich und die beiden anstarrte.

Dies war die erste Nacht meiner neuen Beschäftigung und im Laufe des nächsten Tages lernte ich auch das übrige ganz gut kennen. Ich mußte bei den Mahlzeiten bedienen, die der Kapitän zu regelmäßigen Stunden zusammen mit dem jeweils diensthabenden Steuermann einnahm. Den ganzen Tag über lief ich mit einem Schluck Schnaps von einem zum anderen und nachts schlief ich auf einer Bank, über die ein altes Segel geworfen wurde, im hintersten Winkel der Kajüte. Es war ein hartes, kaltes Lager, auch konnte ich nie ohne Unterbrechung schlafen. Denn irgend jemand kam immer herein vom Deck, um einen »Schluck« zu machen, und wenn die Wache gewechselt wurde, setzten sich die beiden oder oft alle drei hin, um zusammen ein Gläschen zu leeren. Wie sie dabei gesund bleiben konnten oder wie ich es konnte, verstehe ich bis heute nicht.

Anderseits war es ein leichter Dienst. Es mußte kein Tischtuch aufgebreitet werden, die Mahlzeiten bestanden entweder aus Haferbrei oder eingesalzenem Pökelfleisch, nur zweimal wöchentlich gab es Pudding. Und obwohl ich nicht allzu behende war (auch nicht allzu fest auf meinen Seemannsfüßen stand) und oft hinfiel mit allem, was ich ihnen brachte, zeigten sowohl Herr Riach als auch der Kapitän merkwürdig viel Geduld mit mir. Ich konnte es mir nicht anders erklären, als daß sie ihr Gewissen beruhigen wollten und wohl niemals so gut gegen mich gewesen wären, wären sie nicht vorher viel schlechter gegen Ransome gewesen.

Was Herrn Shuan anbelangte, so hatte sicherlich der Trunk oder sein Verbrechen oder beides zusammen seinen Geist umnachtet. Ich kann nicht sagen, daß ich ihn jemals bei klarem Verstande gesehen hätte. Er gewöhnte sich niemals an meine Anwesenheit, stierte mich immerfort an (manchmal, schien es mir sogar, voll Schreck) und fuhr mehr als einmal vor meiner Hand zurück, wenn ich ihn bediente. Ich war von Anfang an ziemlich überzeugt davon, daß er keine klare Vorstellung davon hatte, was er getan und am zweiten Tage meines neuen Dienstes wurde meine Annahme bestätigt. Wir waren allein und er hatte mich schon geraume Weile angestarrt, als er plötzlich aufsprang, blaß wie der Tod, und zu meinem größten Entsetzen ganz nahe an mich herankam. Aber ich hatte keinen Grund mich zu fürchten.

»Du warst früher nicht hier«, fragte er.

»Nein, Herr«, sagte ich.

»Es war ein anderer Bub da?« fragte er wieder. Und als ich ihm geantwortet hatte, »Ah!« sagte er, »das hab' ich mir gedacht!« und er ging wieder und setzte sich, ohne noch ein Wort zu sagen hin, nur um Branntwein rief er.

Alles zusammen war es keine allzu schwere Zeit, solange es dauerte, was (wie Ihr gleich hören sollt) nicht lange war. Ich bekam so gut zu essen, wie nur einer von ihnen, und hätte ich nur gewollt, so wäre ich von morgens bis abends betrunken gewesen, wie Herr Shuan. Auch Gesellschaft hatte ich, und zwar gute Gesellschaft. Herr Riach, der das Gymnasium besucht hatte, sprach mit mir, wie zu einem Freund – wenn er nicht brummig war – erzählte mir viele merkwürdige Dinge und auch manche belehrende. Sogar der Kapitän, obwohl er mich meist hübsch in Entfernung hielt, zeigte sich hin und wieder ein bißchen weniger zugeknöpft und erzählte mir von fremden Ländern, die er gesehen hatte.

Der Schatten des armen Ransome lastete schwer auf allen vieren von uns und auf mir und Herrn Shuan besonders drückend. Auch hatte ich noch einen besonderen Kummer. Hier war ich nun und mußte schmutzige Arbeit leisten für drei Männer, die ich verachtete, und von denen einer wenigstens an den Galgen gehörte; dies war die Gegenwart. Was die Zukunft anbelangte, konnte ich mich nur an der Seite von Negersklaven, in den Tabaksplantagen arbeiten sehen. Herr Riach ließ mich nie wieder, vielleicht aus Vorsicht, ein Wort von meiner Geschichte erwähnen. Der Kapitän, dem ich mich zu nähern versuchte, stieß mich wie einen Hund zurück und wollte kein Wort hören. So sank mein Mut mit jedem Tage, bis ich sogar froh war, meine Arbeit verrichten zu können, nur um nicht nachdenken zu müssen.


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