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Meine poetischen Jahre

Als ein Ihnen innerlich Fremder erscheine ich vor Ihnen, als ein Vertrauter möchte ich Sie verlassen. Dies habe ich mir zur Aufgabe gesetzt. Ich will damit beginnen, Ihnen meinen ersten dichterischen Versuch zu erzählen. Es war auf dem Gymnasium. Ich hatte bemerkt, daß so ziemlich alle meine Kameraden dichteten. Warum und wozu, begriff ich freilich nicht. Item, es mußte doch wohl ein Vergnügen dabei herausschauen; sonst hätten sies schwerlich getan. Da wollte ichs denn auch versuchen (etwa wie man zu rauchen versucht, wenn alle rauchen). Also an einem schönen Maientag hinaus ins Grüne mit Bleistift und Papier. Erste Schwierigkeit: Setzt man sich zum Dichten? oder legt man sich? oder spaziert man herum? Zweite Schwierigkeit: Kommt es einem eher im Wald oder im Freien? auf dem säuberlichen Weg oder im Grase? Einstweilen legte ich mich unter einen blühenden Kirschbaum. Da lag ich denn und schaute in die Luft. Eine Stunde, zwei Stunden. Mir ward über die Maßen wohl, aber es kam nichts. Freilich sah ich den dunkelgrünen Tannenwald, den blauen Himmel und tausend schöne Dinge umher. Daß man das zeichnen oder malen könnte und möchte, ja, das begriff und fühlte ich. Allein wie man Tannenbäume in vierzeilige Strophen verwandle, oder Schlüsselblumen in Reime, von dieser Übersetzungskunst keine Ahnung! Allmählich überschlich mich dabei ein sanfter Schlummer, und wie ich aus dem Schlummer erwachte, kroch ich beschämt unter dem Kirschbaum hervor, ohne auch nur eine Zeile, ohne ein einziges Wort zustande gebracht zu haben.

Was hat da gefehlt? Man kann nicht die Natur abdichten wie man eine Landschaft abzeichnet. Die Übersetzung des konkreten Frühlings in Gedanken, Worte, Vers und Reime bedingt so schwierige und komplizierte Geistesabstraktionen, daß die Menschheit Jahrtausende dazu gebraucht hat. Ein Frühlingsgedicht direkt von den Bäumen ablesen wollen, heißt eine zweitausendjährige Kulturarbeit in zwei Stunden versuchen. Abgesehen davon, daß man bekanntlich nicht von außen herein, sondern von innen heraus dichtet, daß die Dichtkunst es nicht mit der konkreten Wirklichkeit zu tun hat, sondern mit der Gemütsreaktion auf die seelischen Reflexe der Wirklichkeit und so weiter. Das also war mein erster dichterischer Versuch. Vielversprechend kann man ihn unmöglich nennen. Wenn wir indessen bedenken, daß unser reiner Tor Gymnasiast ist, der die griechische und lateinische Metrik kennt, daß er einen Wackernagel und einen Jacob Burckhardt zu Lehrern hat, so merken wir aus dieser Probe schon ein wichtiges Charakteristikum: wir haben es mit einer außerordentlich starken Naivität zu tun. Was ist Naivität? Sie ist nicht der Gegensatz zu Wissen, Weisheit oder Erfahrung. Naivität kann mit Gelehrtheit und auch mit Weltkenntnis übereins gehen. Sie ist auch nicht der Gegensatz zum Verstand; der naive Mensch kann vielleicht überlegen gescheit und scharf denken. Sondern sie ist der Gegensatz des lebendigen Keimes zur Umgebung. Wessen Innenleben so stark und unaufhaltsam treibt, daß es das ganze Bewußtsein erobert, alles andere daraus fortstoßend, der ist naiv im künstlerischen Sinn.

Hienach hatte ich gehofft, der Poesie zeitlebens ledig zu sein. Es sollte jedoch anders kommen. Einige Jahre später nämlich (diesmal auf dem Obergymnasium) gelangte ich zu der Einsicht, daß zwei Talente, welche die Natur verliehen hatte (das malerische und das musikalische), mangels jeder technischen Ausbildung unheilbar verloren waren. Da aber für eine Künstlernatur jenseits des Reiches der Schönheit kein Friede blüht, zeigte sich als einzige Rettung die Poesie. Dieser Ausweg erschien zwar höchst bedenklich, weil sich bisher weder Fähigkeit noch Lust noch Neigung zu Poesie und Literatur gemeldet hatte, vielmehr von alledem das Gegenteil. Aber er erschien doch möglich, insofern hier die Versäumung der Technik nicht eine hoffnungslose Verspätung für einen Siebzehnjährigen bedeutet. Was aber das poetische Talent betrifft, so lebte ich damals der Überzeugung, daß der Begriff Talent ein falscher sei, daß, was man Talent nennt, im Grunde nichts anderes wäre als Wahrhaftigkeit gegen sich selbst, Talentlosigkeit mithin nichts anderes als die Folge eines Verrates gegen das künstlerische Gewissen.

Kurz, mit einem verwogenen, aber reifen Entschluß band ich da mein Leben an die mir bisher völlig fremde, ja sogar gleichgültige Poesie. In der Meinung, sie müsse für die abhanden gekommene Musik und Malerei nolens volens Vikariieren. Was sollen wir nun dazu sagen? War das Vernunft oder Wahnsinn? Ich urteile: Wenn es sich umgekehrt verhalten hätte, wenn einer wollte für die Poesie die Musik oder die Malerei Vikariieren lassen, oder für die Musik die Malerei und so weiter, ja, dann würde er schlimm fahren. Denn Musik und Malerei setzen ein spezifisches Talent voraus, das angeboren sein muß. Die poetische Begabung dagegen ist keine spezifische, ja nicht einmal eine einfache, sondern eine Komplikation, und zwar nicht sowohl von Fähigkeiten als von seelischen Zuständen. Darum führen viele Wege zur Poesie. Der Weg vom Zeichenstift her aber ist eine Hauptstraße und Siegesallee. Denn Poesie und bildende Kunst sind einander näher verwandt, als man gewöhnlich annimmt. Alle diejenigen nun, die vom Zeichenstifte her zur Poesie kommen, werden in ihren poetischen Werken das malerische Ursprungszeugnis zeigen. Kein Taumel, keine Phantastik, kein lauttönender Versgesang, keine Rhetorik, kein Sprachschwall. Dagegen Maß und Ruhe, Streben nach Plastik, also nach Anschaulichkeit, Bedürfnis der Genauigkeit, Sicherheit und Festigkeit. Mitsehen und Miterleben der Szenen bis zur Innigkeit. Endlich Glückseligkeit beim Schaffen, die bei dem einen oder andern in falschen Optimismus, philosophischen Optimismus umschlägt. Ferner ist ihnen allen gemein: die Ehrfurcht vor dem weißen Papier, folglich das Bedürfnis nach Sauberkeit des Sprachstils, sogar auch Sauberkeit des Schriftstils, also nach Kalligraphie. Lichtrausch und Farbentaumel sind keine unterscheidenden Merkmale, da sie auch bei Dichtern anderer Herkunft vorkommen. Merkwürdigerweise finden sich von dem künstlerischen wählerischen Farbensinn, den Sie wohl von Farbenrausch und Farbengeschmier unterscheiden müssen, kaum Spuren. Gottfried Keller ist der einzige, bei welchem ich solche Spuren erblicke. Noch seltener ist in der Poesie der treffsichere Bildhauerblick für Miene und Gebärde, eine für die hohe Poesie wegen des Symbolwertes der Gebärde unschätzbare Fähigkeit. Hier scheint mir Dante, der ja auch den Zeichenstift zu führen verstand, wahrscheinlich sogar meisterhaft, der größte. Von dem echten natursprünglichen Bildhauerblick müssen Sie wohl unterscheiden den Cinquecentoblick, der die Gebärden an fertigen Kunstwerken einfach abliest, und den theatralischen Blick, der die Gebärden aus dritter Hand holt. Der erstere erzeugt in der Poesie leblose, der letztere unwahre Gestalten. Sehr deutlich sind die malerischen Spuren bei Gottfried Keller, vor allem das Sonnenlicht, welches bei ihm überzeugender auftritt als bei jedem andern, da es immer geschaut ist. Dann das gedämpfte (Interieur-)Licht, das Helldunkel, das Braungold, kurz die Lichtgebung der Niederländer. Die Träume, echte künstlerische Palettenträume. Luftperspektive, daher die überzeugende, einzig dastehende Wirkung der Eingangsszene im »Landvogt von Greifensee«. Dann die Fähigkeit, durch die Farbe eines Kleides eine Szene zu stimmen, und so weiter.

Ohne Zweifel werden Sie auch in den spätem Schriftstellerwerken deutliche Spuren der ursprünglich malerischen Veranlagung finden. Ich will Ihnen das Wichtigste davon nennen, Kleinigkeiten wie etwa ein allzubreites direktes Ausmalen von Licht und Sonnenstrahl übergehend.

Erstens. Unser Autor erkennt für seine eigene Tätigkeit eine Poesie jenseits der Plastik überhaupt nicht an. Vergleichen Sie in den Balladen das Frühlingsgedicht »Die Blütenfee« mit den üblichen Lenzgedichten. Keine Szene bringt ihm Befriedigung, ehe sie so herausgearbeitet ist, daß ein Maler sie malen möchte. Als der Kern und Mittelpunkt aller Poesie gilt ihm das Epos und der Mythos. Also dasjenige Gebiet, wo Dichter und Maler zusammentreffen. Denn dem Epiker wie dem Maler ist die Erscheinung wichtiger als der Trieb. Zweitens. Ganze Bücher sind aus malerischem Auge und Gefühl entsprossen: so die »Schmetterlinge«, eine optische Lyrik. So wiederum neuestens der »Olympische Frühling«, der mit einem Böcklin oder Klinger ein Stück näher verwandt ist als mit irgendeinem Dichter. Drittens. Licht und blauer Himmel sind für ihn höchste Wirklichkeit und wahrhaftige Gegenwart, die leuchtenden Stunden des Tages inspirieren ihn als neueste Zeitprobleme und Tagesereignisse, wie einen andern die soziale Frage. Viertens. Seine Vorliebe für die hellenisch-mythologische Welt gilt nicht dem hellenischen Menschlichkeitsideal, sondern der Farbenwirkung von Fleisch und Bein in Wald, Luft und Meer. Fünftens. Unser Autor verspürt Velleitäten, den Menschenkörper ein wenig zu korrigieren, eine Art leiblichen Übermenschen zu konstruieren. Er hat öfters bemerkt, sogar gespürt, daß blaue Augen, blonde Haare, schwarze Augen und kastanienbraune Haare, rote Lippen und weiße Zähne schön sind. Die Natur hätte, meint der Verfasser, für den Rest auch etwas weniger geizig mit [der] Palette umgehen können. Folglich wird im »Olympischen Frühling« die Übergöttin Hera ein bißchen farbiger ausgestattet. Nach olympischer Ästhetik ist dies erlaubt. Und so weiter, bis zu der übermütigen Personifikation der Farben in »Eugenia«. Selbst die Wiedereinführung des Reimes in das deutsche Epos ist malerisch. Wo das Bild leuchtet, soll auch die Sprache glänzen. Denn der Reim bedeutet für den Vers Licht! Selbst gewisse anscheinend zufällige Eigenschaften, sogenannte Schrullen und Launen, vermöchte ich Ihnen aus dem malerischen Ursprung zu erklären. So eine gewisse Abneigung gegen Theater, gegen Kostümierung, Festzüge und andere Schauspiele, weil das Auge hier unechte Garderobenbilder statt wahrhaftige gewahrt. Dagegen wieder Vorliebe für Zirkus, Ballett und so weiter, wegen der Eurythmie der Bewegung. Endlich noch eine negative Wirkung. Sie werden in meiner langjährigen Zeitungstätigkeit kein einziges Urteil über bildende Kunst, keine einzige Besprechung eines Gemäldes finden. Die bildende Kunst war mir zu lieb.

Und die Einflüsse der musikalischen Veranlagung auf das dichterische Schaffen? Nach alter Erfahrung sind es vorwiegend hemmende Wirkungen. Es ist falsch, zu glauben, der Dichter, der musikalisch ist, singt, Klavier spielt, werde besonders wohlklingende Verse machen. Im Gegenteil. Die Musik zehrt mit ihrer überlegenen Konkurrenz dem Dichter den wesentlichsten Teil der Lyrik, die Stimmungslyrik, weg. Was einer singen kann, sagt er nicht. Eine Stimmung freilich [ver]läßt sich nicht auf das Klavierspiel: der Zorn. Und so entstanden dann die »Literarischen Gleichnisse«. Ist übrigens die Einbuße an Lyrik ein reiner Verlust? Ich behaupte: nein. Denn sie bringt Größe ein. Es ist groß, wenn das zufällige private Menschenleid des Künstlers keinen Ausdruck in seinem Schaffen findet.

Freilich kommt auch viel darauf an, in welchem Entwicklungsstadium sich ein bildnerisches Talent befand, und welche Tiefe und Stärke es hatte, ehe es umgepflanzt wurde. In unserem Falle haben wir es mit einer ererbten, deshalb tief innerlichen Verwachsung der ganzen Seele mit dem Bildnertalent zu tun. Diese angeborne Verwachsung auseinanderzureißen, die künstlerischen Kategorien gewaltsam zu verlernen, das wird blutiges Lehrgeld kosten. Da ferner unser Junge immer naiv verfährt, keinen andern Führer duldet als die Stimme seines künstlerischen Gewissens, so wird die Lehrzeit eine unerhört langwierige sein, und es werden anfänglich die abenteuerlichsten, unglaublichsten Irrfahrten stattfinden. Anderseits jedoch war auch dem kühnen Unterfangen zum voraus das schließliche Gelingen verbürgt. Denn ein zäher Wille an der Hand des künstlerischen Gewissens führt ganz sicher zum Ziel. Was wird nun wohl unser Candide (nennen wir ihn fortan so) zuerst in der ihm wildfremden Poesie angegriffen haben? Sie erraten es alle: »Natürlich ein Drama«. Leider! Ja! Darüber, daß jeder deutschsprechende Jüngling »natürlich ein Drama« schreibt, ließe sich etwas Ernstes und Scharfes reden. Nicht gegen die dramatischen Jünglinge, sondern gegen jene, die von demselben Drama die Jugend abmahnen, nach welchem sie den Zeigefinger ausstrecken.

Also ein »Drama«. Oder vielmehr, was sich Candide unter einem Drama vorstellte. Indem ich Ihnen jetzt das haarsträubendste dramatische Experiment erzähle, das wohl je auf Erden außerhalb des Irrenhauses unternommen wurde, mache ich Sie darauf aufmerksam, daß Candide von Anfang bis zu Ende vollkommen vernünftig und logisch, ja sogar echt künstlerisch verfährt. Er begeht nur den einzigen Fehler, daß er die Kategorien der bildenden Kunst in die Poesie mit hinübernimmt. Folgendermaßen konstruierte Candide sein Drama: Das Drama, nicht wahr, ist eine Kunstform? Und eine Kunstform, versteht sich, ist eine Form. Erstens. Also Papier und Bleistift her und die Form des Dramas nach den Regeln der Dramaturgie dargestellt: »Aufsteigende, schwebende, absteigende Handlung« ergibt gezeichnet: eine aufsteigende, eine schwebende, eine absteigende Linie. Fünf Akte: vier Taktstriche. Jede Form muß eine Grundlage haben: Also eine waagrechte Linie darunter. Was zeigt sich jetzt dem Auge? Zwei umschließende Dreiecke, drei eingeschlossene Vierecke, hm! Das wäre also die berühmte Kunstform des Dramas? (Proportion hat sie, das ist wahr.) Es ist etwas Unheimliches dabei: nämlich es ist doch auch gar zu leicht, diese Form zu zeichnen. Die Form eines Pferdekopfes zu treffen, ist entschieden schwerer. Sollte aber wirklich die Poesie so viel leichter sein als das Zeichnen? Endlich erscheint eine Schwierigkeit. Jetzt sind wir auf dem rechten Wege. Wie bringt man nämlich den Inhalt eines Dramas, also den Text (mithin etwa tausend bis zweitausend Sätze) in eine verkürzte dramatische Miniaturform von einigen Zentimetern? Geht das überhaupt? Kann man einen Text komprimieren wie Leuchtgas? Entschieden nicht. Wir werden uns auf andere Weise helfen müssen. Aber wie? Das ist die Aufgabe. Die prinzipielle Lösung ist leicht: Habe ich die Form reduziert, so muß ich auch den Inhalt reduzieren, also den Text so stark komprimieren, bis er in die Form geht. Allein ist das möglich? Kann man zweitausend Sätze in beliebigem Maßstabe reduzieren, also zum Beispiel auf zwei Quadratzentimeter, so wie man auf dem Globus die ganze Schweiz auf einige Zentimeter reduzieren kann? Antwort: Nein. Was denn? Erstens Stenographie? Genügt nicht. Zweitens Mikrographie? mit Mikroskop? Das Auge verbietets. Drittens Brachypoesie und Stenologie? Noch nicht erfunden. Viertens symbolische Zeichen für ganze Sätze und Reden? Zu undeutlich. Ja, wenn man sich erlauben dürfte, den Text außerhalb der geometrischen Formfigur in ein Heft zu schreiben, wie die andern! Aber solche gewissenlose Ausflüchte begeht unsereiner nicht. Ein Inhalt gehört in die Form, nicht außerhalb. Punktum! Oder malt etwa ein Maler, wenn er auf der Leinwand nicht Platz findet, auf die Staffelei und auf die Hosen? Nein, sondern er nimmt eine größere Leinwand. Ach, da haben wirs ja! Wie einfach! Wir müssen das Format größer nehmen, so groß, daß in die geräumigen Figuren der Text hineinmag. Und nun stellte sich unser Dramatiker vor eine leere Zimmerwand, dachte sich meterhohe Dreiecke und Vierecke, also die Form des Dramas, darauf und dachte den gedachten Text in die gedachten Dreiecke hinein. Ein förmliches Dachdeckerdenken. Das ging zuerst ganz glatt. Aber siehe! wie schade! Nach wenigen Wochen war die Zimmerwand vollgedacht. Man mußte das Format noch viel größer nehmen. Gefunden! Hinaus in die Natur. Dort in der Luft zwischen Himmel und Erde ist Platz. Verstehen Sie die Meinung? Der Himmel sollte das Papier vorstellen, der Gedanke die Tinte und das Auge die Stahlfeder. Das ist Candides (unseres Dramatikers) Schreibzeug. Allein die Natur ist keine leere Zimmerwand. Da gibt es allerlei unnütze Dinge: Berge und Seen, Städte und Dörfer, Sonne und Regen und Krammetsvögel, die einem mitten durch das Drama fliegen. Das mußte vor allem mit dem Willen hinweggesehen werden. Wenn Sie aber etwa glauben, das sei eine Kleinigkeit, die Welt wegzusehen, so täuschen Sie sich. Mehrere Stunden brauchte es jedesmal, bis das Gedankenbild, also die dramatische Gestalt, solche Lebenskraft erreichte hatte, daß es sich nach außen projizierte und vor die sichtbare Welt hinstellte. Hernach erst konnte die Arbeit beginnen. Heftig und hastig die kurze Zeit benützend, da der Wille dem stetig vordrängenden Weltbild noch Meister blieb.

Stellen Sie sich jetzt gefälligst einmal das liebliche Tagespensum dieser Dramatik vor. Erstens, jeden Morgen ein paar Stunden lang die Welt hinwegsehen, zweitens darauf stundenlang das Gedankenbild genau so wieder herstellen, wie es am Abend vorher dagestanden hatte, drittens hernach wieder stundenlang alle die vielen Ergänzungen, die einem nachts eingefallen waren, mit den Gedanken hineinkorrigieren, und endlich viertens spät am Abend, wenn schon Kraft und Wille versagten, mit der Arbeit beginnen. Entschieden, ich hätte nicht gedacht, daß das Dichten so mühsam wäre. Fünftens, ungerechnet die täglichen zufälligen Anfechtungen. Denn ein Gymnasiast, ein Student wirkt ja nicht ungestört. Schulaufgaben, Maturitätsexamen, Kollegien, sogenannte Lehrer und Professoren, das alles mußte man ja auch noch hinwegsehen. Trotz diesen fast übermenschlichen Selbstanforderungen rückte die Arbeit vor und brachte durchaus nicht unbedeutende (wenn auch unreife) Ergebnisse, bis sich das ereignete, was sich über kurz oder lang ereignen mußte. Bei so gewaltiger Willensspannung, bei so tiefer Intuition gerät die Grundwelle der Seele in Bewegung und wirft unaufhörlich ahnungsschwere Phantasiebilder auf. Da aber die Jugend nicht versteht, fremdartige Bilder auszuscheiden, sondern alles an sich Wertvolle meint in das große Erstlingswerk unterbringen zu müssen, so wurde natürlich das Werk durch den neuen inadäquaten Zustrom täglich gesprengt. Was der Abend getan hatte, vernichtete der Morgen. Kurz, die Sisyphusarbeit mit ihrem ganzen Gefolge der Hölle. Und nun denken Sie sich diese Selbstmörderei durch drei lange Jahre mit verbissenem Willen fanatisch durchgeführt, ohne Ruh und Rast, ohne Gnade mit sich selber, Tag für Tag! Wie war das überhaupt möglich? Wie konnte es geschehen, daß unser törichter Junge seinen grotesken Irrtum nicht einsah oder seiner wenigstens nicht überdrüssig wurde?

Antwort: Die Arbeit verlief (wie ich Ihnen gesagt) in der großen, freien Natur. Dort aber weht ein merkwürdiges Pulver, das bei starker seelischer Vertiefung bedeutende Dinge geschehen läßt: Ekstasen, Visionen, Ahnungen, Symphonien. Durch das aberwitzige Drama schaute das Haupt der Gorgo. Ob daher schon das Werk tausendmal verloren war, die Arbeit war es nicht. Auf solchem Wege entsteht eine Persönlichkeit. Man ist nachher jemand. Und was auch immer, sicher kein Dilettant. Eine Dogge, die sich verbissen hat, läßt nicht mehr von selbst los. Die muß man herunterreißen. Äußerer Zwang brachte nach drei Jahren die Erlösung: ein Ortswechsel, verbunden mit der Nötigung, plötzlich eine Probe niederzuschreiben. Diese plötzliche Niederschrift (in visionärem Geist, aber prosaisch erzählender Form) bewies dem Patienten erschreckend klar den Zusammenbruch seines vermeintlichen Dramas. Aber siehe, von andern Augen gelesen, meldete sich das Erstaunen. Man sprach von Talent, man munkelte von Druckenlassen. Dies damals nicht getan zu haben, darauf verzichtet zu haben, als ein Zwanzigjähriger mit einem unreifen fragmentarischen Werk Aufsehen zu erregen, das zähle ich als meine erste schriftstellerische Leistung. Mit so etwas verdammt sich einer zu literarischer Vornehmheit auf Lebenszeit. Aber in derselben Stunde wechselt auch die Schildwache des Lebens: Der bunte Dämon zieht ab und ein strenger zieht auf.

Aber was nun? Der Name Drama war mir unheimlich geworden, und Jacob Burckhardt, mit dem ich damals privatim verkehrte, sagte mir bei diesem Anlaß ein denkwürdiges Wort: »Das Drama«, sagte mir Jacob Burckhardt, »ist eine Kunstform, deren Gelingen wesentlich von äußern zufälligen Vorbedingungen abhängt, welche in gegenwärtiger Zeit nicht vorhanden sind.« Heute, nach dreißig Jahren, erlaube ich mir, diesen Satz zu ergänzen. Ich sage, gezwungen durch mein Gewissen, was ich schon seit Jahren sagen soll: Es ist heutzutage absolut menschenunmöglich, in deutscher Sprache für das deutsche Theater nach deutscher Ästhetik ein solches Drama zu schreiben, welches bleibenden poetischen Wert hätte. Darum mißlingt jedem bedeutenden Dichter ein Theaterstück ebenso sicher wie es dem unbedeutendsten Schlaumeier, Streber oder Modepedanten sicher gelingt. Sie werden mir erwidern, ein geborner Dramatiker vermöchte es unter allen Umständen. Hierauf erwidere ich: Wir haben ja so einen geborenen Dramatiker gehabt, der wahrhaftig alle nötigen Eigenschaften besaß, die Kraft der Charakteristik, Sprachgewalt, meisterhafte Beherrschung der Form. Dramatischer Aufbau, Konzentration, Kurzschluß und so weiter: Conrad Ferdinand Meyer. Und das Ergebnis: Nach einem ganzen Leben des Ringens um das Drama: Null. Warum hat es keiner zustande gebracht? Weil es absolut unmöglich ist.

Allein was nun? Wie wäre es (bis auf weiteres), einmal gründlich die Verskunst zu lernen? Platen zu studieren? Ein vernünftiger Gedanke, nicht wahr? Und doch ein gewaltiger Irrtum. Man kann nämlich nicht die Verskunst für sich lernen, wie man Kontrapunkt oder Zeichnen lernt. Wer Sonette wegen der Sonettenform dichtend übt, lernt dabei gar nichts. Man lernt in der Poesie nichts an gleichgiltigen Stoffen, sondern nur an seinem eigenen Herzblut. Wer mit einem Werk, an welchem sein Herz hängt, die Treppe hinunterstürzt, daß an allen Stufen Blut klebt, der lernt dabei etwas. Ferner taugt weder Platen noch Rückert zum technischen Vorbild. Denn ein Versvirtuos ist deswegen noch lange kein Versmeister. Im Gegenteil. Alles das sah ich glücklicherweise ohne Zeitverlust sofort ein oder empfand es wenigstens. Indessen sollte Platen durch einen Zufall doch wichtige Folgen bewirken. Irgendwo in Platen nämlich steht ein Distichon zum Preise Homers. Mit dem Nachsatz: »Ähnliches schuf bloß Ariost.« Ebenso zufällig las ich um dieselbe Zeit in Burckhardts Renaissance das Urteil: »Ariost, Italiens größter Dichter.« Diesen Ariost mußte man sich doch einmal ansehen. Es war hier in Zürich. Auf der Universitätsbibliothek fand sich eine Prosaübersetzung des »Rasenden Roland« von Heinse, dem bekannten Ardinghello-Heinse. Dieses Buch nun wirkte auf mich wie der Mosesstab auf den Felsen: Mit jauchzendem Jubel sprang da plötzlich die Poesie in breiten Strömen hervor. Und mit ihr die Selbsterkenntnis: Ein Epiker mochte ich sein. Hier auf diesem Punkte der Poesie, dem Zentralpunkte, fühlte sich der ehemalige Malerlehrling sofort daheim und zu Hause. Deshalb, weil Malerei und Epos die Hauptsache gemein haben, daß ihnen die äußere Welterscheinung wichtiger ist als das innere Weltgetriebe (eine Weltanschauung, für welche sie eine überzeugende Autorität zitieren können, nämlich den Weltschöpfer). Also ein Epiker wollte unser Student werden. Da aber in der Poesie der Aufstieg nicht schrittweise, auch nicht stufenweise geschieht, sondern im Sprung und Schwung, so war er auch schon das, was er werden wollte. Derselbe Junge, der vor einem Jahre noch ein Drama in Dreiecken an den Himmel denken wollte, entwirft jetzt ohne weiteres mit voller Sicherheit detaillierte epische Dichtungen derartiger Natur, daß ich sie sämtlich heute unverändert übernehmen und ausführen möchte. Bei einigen davon habe ich es später auch wirklich getan. »Eugenia« zum Beispiel stammt von damals her. Ebenso die Balladen »Theseus' Hochzeit«, »Das Sterbefest«: das heißt, damals wurden sie als große epische Gedichte geplant, fünfundzwanzig Jahre später dann zu Balladen kondensiert.

Demgemäß habe ich Ihnen diesmal nicht von einer Sisyphusarbeit, sondern von einer Ceresarbeit zu berichten. Wie ein goldener Sommer, sonnig und selig, sproßte allenthalben die Saat empor, und eine ordnende Hand beherrschte das Arbeitsfeld. Hier im Epos empfand der junge Dichter instinktiv die Gesetze der Kunstform, wußte die Inspirationen zu teilen, das Verschiedene zu trennen, Ableger zu selbständigen Setzlingen zu pflanzen. Es war eine verhältnismäßig kurze, aber inhaltsvolle und gesegnete Periode. Damals erhielt die Begabung die Eigenschaften des Reichtums und der Freudigkeit.

Ungefähr zwölf bis sechzehn Monate ging das so fort in Mut und Vermögen, in Glück und Gelingen. Da ereignete sich plötzlich etwas Neues, das diese Arbeit beiseite stieß. Etwas, was ich »Heimsuchungen« nenne. Sie erraten, was das Wort sagen will. Ungefragt und unwillkommen (vielmehr dem heftig widerstrebenden Willen zum Trotz) steht einesmals ein ernstes, großgestaltetes Poesiebild gebieterisch da. »Hier bin ich« sagt es und läßt sich nicht mehr beseitigen. Das nenne ich eine Heimsuchung. Dergleichen Heimsuchungen also beginnen jetzt. Erst vereinzelt, allmählich häufiger, schließlich in anstürmenden Lawinen. Durch sie (und nicht etwa durch Grillen und Schrullen) bin ich während der nächsten zehn Jahre zwangsweise in Gegenden der Poesie geführt worden, die seit der dorischen Völkerwanderung kein Dichter mehr betreten hat, in das Gebiet des Mythos und der kosmischen Poesie. Gegenden der Poesie, von denen die Neuzeit vergessen hat, daß sie existieren, von denen die Weisheit predigt, sie wären der Kulturmenschheit unzugänglich. (Woraus ich wohl schließen muß, daß ich nicht zur Kulturmenschheit gehöre.) Es sind ferner aber auch hohe Gegenden. Da gelangt man auf jene wundersame Bergstraße, wo die zwei vornehmen Schwestern, die Zwillingskinder des Weltengeistes, die Religion und die Poesie, noch denselben Weg wandeln, Hand in Hand, stolzen Schrittes und ernsten Gesanges. Ehe sie auf getrennten Pfaden abwärts steigen, jene nach der Pforte der Gerechtigkeit, diese durch das Tor der Schönheit. Wessen Poesie aber von dorther stammt, dessen Verhältnis zur Poesie, das fühlen Sie, wird ein anderes sein als das gewöhnliche. Es ist ein dem religiösen verwandtes. Es kommt zu einem Heimweh nach der Bergstraße, zu einem sehnsüchtigen Glauben, zum unbedingten Gehorsam, zur Opferbereitschaft. Auch, ja nicht zu vergessen, zu einer höchst energischen Verachtung der Lügenpfaffen mit ihrem Anhang. Der kastalische Quell tuts dem Dichter nicht allein; er lechzt auch nach dem Bache Kison. Unvermeidlich geschieht hiebei auch die Personifikation der Poesie. Mit dem zu Schanden gelogenen Namen ›Muse‹ können wir jedoch eine erlebte Wahrheit nicht verunehren. Wissen Sie mir einen besseren Namen? Ich pflege für mich die hohe Poesie, die kosmische Poesie »die große Unbekannte« zu nennen. Wenn ich also fortan diesen Namen ausspreche, so wissen Sie, was ich meine.

Man fragt immer oder denkt es:

Erstens. »Warum dichtet er beständig über den Wolken, warum kommt er nicht ein wenig ins tägliche Leben zu uns herab?« Hierauf antworte ich: Haben Sie auch schon einmal gehört, daß alle Menschen sterben müssen, daß ein Tier das andere lebendig auffrißt? Wie stellen Sies an, das wieder zu vergessen? Der Dichter jedenfalls kann das nie vergessen; denn der Dichter ist ein Mensch, der, was andere in seltensten Momenten, am Grabe, fühlen, beständig sieht und fühlt. Da aber die Ursache der Naturnotwendigkeiten nicht in den Cabarets artistiques von Montmartre, sondern über den Wolken liegt, darum dichtet unser Dichter über den Wolken.

Zweitens. Man hat ferner gefragt: »Warum ist er immer unverständlich? warum spricht er beständig symbolisch?« Deshalb, weil Symbolik der einzig mögliche künstlerische Ausdruck für das Übersinnliche ist. Ob nun Symbolik verständlich oder unverständlich sei, ist eine andere Frage. Was ist verständliche Symbolik? Die man gelernt hat. Der Ring am Finger. Grafenkrone, Taschentuch. Aber wer bei dem Adler des Prometheus eine so verständnisinnige Miene macht, sollte bei dem Löwen des Prometheus nicht gar so verblüfft dreinschauen.

Drittens. Man hat mich endlich verwundert gefragt: »Sieht denn unser Sonderling die Gegenwart nicht? Hört er die Stimme des Zeitgeistes nicht?« O ja, er sieht die Gegenwart genau, so genau, daß er sie scharf zeichnen könnte. Und die Stimme des Zeitgeistes. Da müßte einer schon bedenklich übelhörig sein, wenn er die nicht hörte. Finden Sie nicht auch? er macht ein bißchen viel Lärm für einen »Geist«, der ›Zeitgeist‹. Aber die Überzeugungskraft von Gegenwart und Zeitgeist vermag ich nicht zu entdecken. Wenn Sie im Konzert sitzen und draußen Straßenlärm, Gejohl, Krakeel, Hundegebell entsteht, nicht wahr, dann laufen Sie deswegen nicht aus dem Konzert auf die Straße, um mitzukrakeelen? Sondern was tun sie vielmehr? Sie schließen eilends Tür und Fenster. Aus demselben Grund nun, wenn die Gegenwart lärmt und der Zeitgeist bellt, belle ich nicht mit, sondern schließe Tür und Fenster, um der Stimme der großen Unbekannten zu lauschen. Summa: ich höre und spüre den Hauch des Zeitgeistes, aber ich bin dagegen immun.

Die erwähnten Heimsuchungen begannen (anscheinend harmlos) mit einem kurzen fertigen Gleichnis »Prometheus und Epimetheus«. Das Thema verlangte und duldete nicht mehr als hundert bis zweihundert Verse. Heute wollte ich das Gedicht in ein paar Tagen fertigstellen. Statt dessen kostete mich dieses Gleichnis (hätte ichs nicht erlebt, so würde ichs nicht glauben) zehn Jahre! Warum? Wieso? Ich hatte von der Dynamik des dichterischen Schaffens, insbesondere von der formalen Ausarbeitung, von der Umsetzung eines Phantasiebildes in die Sprache, noch gänzlich falsche Vorstellungen. Ich meinte, man gelange zur Form von innen heraus, auf organische Weise: durch Keimtrieb, Saft, Wuchs und Blüte. Ich meinte, die Ausführung einer Dichtung werde und geschehe; ich ahnte nicht, daß sie getan werden müsse. Ich wußte nicht, daß ein poetischer Inhalt in alle Ewigkeit nie von sich aus die Sprachform erreicht, daß die Phantasie (wegen ihres leichten spezifischen Gewichtes) nie zum Ausdruck herniedersteigen kann, daß alle Denkarbeit ein in den Hauptzügen fertiges Thema nicht weiter ins Klare fördert, sondern nur kompliziert, mithin immer weiter von der Vollendung fortstößt. Da ich aber dies nicht wußte, geschah das Unvermeidliche: zuerst Hunderte von Varianten, darauf Sprengung des Themas durch Vertiefung, Vergrößerung und Erweiterung, darauf Tausende von Varianten, dazwischen der Lawinensturz neuer fremdartiger Heimsuchungen und so weiter und so weiter. Und nun schwelte unser Dichter im ewigen Feuer. Je mehr Zeit ergebnislos verstrich, um so angestrengter arbeitete er, und je angestrengter er arbeitete, desto weiter schob er das Ziel in die Ferne. Etwas Fehlerhaftes aber zu veröffentlichen galt ihm für eine ewige Schande, schlimmer als Diebstahl. Und da bei dieser grausamen Mühle Jahr um Jahr entschwand, die Jugend auf Nimmerwiedersehen entführend, entwickelte sich natürlich in dem gepreßten Herzen ein starkes Pathos. Dieses Pathos gebar die tiefgefühlte symbolische Erzählung von Prometheus, der seine Hündchen erwürgt. Die Hündchen bedeuten die Herzenswünsche und Lebenshoffnungen, die der Mensch seinem strengen Genius opfert. Aber wehe ihm, wenn das Opfer der Jugend umsonst war. Dann kommt Reue und Verzweiflung über das verfehlte Leben! Das ist der Löwe, der mit bösen Augen vor Prometheus' Lager lauert. Unser Dichter verfiel (zu seinem Heil) nicht dem Löwen. Und er brauchte die Opfer nicht zu bereuen. Was aber dem Genius geopfert wurde, soll einer nicht bereuen. In jenen zehn weihevollen Passionsjahren hat unser Dichter so schwierige Aufgaben der Poesie empfangen und auch erledigt, daß ihm später jede andere Aufgabe der Poesie leicht erschien; in jenen zehn Jahren hat er sich das Recht erworben, ein Selbstbewußtsein zu hegen; in jenen zehn Jahren füllte sich ihm Herz und Seele bis zum Überlaufen mit Poesie, wie ein Schwamm mit Wasser. Die endliche Erlösung geschah auch diesmal durch einen Zwang, vermittelt durch einen Ortswechsel. Aus weiter Ferne in die Heimat zurückreisend, geriet ich auch durch München. Dort kam ich vor einen Kunstladen zu stehen. Und wie ich eine Zeitlang gestanden hatte, stand ich nicht mehr allein. Ein Gespenst stand neben mir, das mir schlimme Worte zuflüsterte. Was das für ein Gespenst war in der Kunststadt München vor dem Kunstladen, und was es flüsterte, erraten Sie leicht. Aus Entsetzen vor diesem Gespenst nun schrieb ich, heimgekehrt, den ersten Teil meines »Prometheus und Epimetheus« kurz entschlossen nieder. Sie kennen gewiß alle einen Kalenderhelgen, wo ein armer Sünder zwischen einem Engel und einem Teufel schwitzt, die sich um seine Seele balgen. So ging es zu. Zur Linken das Münchner Gespenst, zur Rechten die große Unbekannte, inmitten der Dichter. Die große Unbekannte errang ob der Arbeit den Sieg. Ich durfte mich, tief aufseufzend, »Felix Tandem« nennen, das heißt einen, der nach siebzehnjährigem heißem Ringen endlich etwas geleistet hatte, was er glaubte vor dem heiligen Antlitz der Poesie verantworten zu dürfen. Und nun erwartete ich bescheiden und ehrfurchtsvoll die Antwort der Öffentlichkeit. Wahrhaftig! ehrfurchtsvoll! Ehrfurcht vor der Öffentlichkeit! Vor der Öffentlichkeit!!! Von allen Naivitäten, die mir je passierten, erachte ich diese für die tollste.

Hiemit ist das Thema meines Vortrages im wesentlichen erledigt. Allein, wenn ich jetzt aufhörte, würde ich Ihnen statt eines kleinen Rätsels ein größeres aufgegeben haben: Der Dichter, den ich Ihnen soeben geschildert, ist ja ein ganz anderer Mensch als jener, von dem Sie sonst gehört und etwa gelesen haben! Das ist ja wie mit dem Messer abgeschnitten! Wie kommt der Mytholog dazu, übermütige Aufsätze, »Lachende Wahrheiten«, ein »Wettfasten«, einen »Friedli« und »Conrad« zu schreiben? Mit einem Wort: Wie reimt sich Felix Tandem mit dem Herrn Meyer?

Dieses Rätsel muß ich Ihnen noch lösen. Der Gegensatz zwischen jenem und diesem Schriftsteller ist teils ein bloß phänomenaler, teils ein tatsächlicher. Erstens: zunächst das Phänomen. Übersehen Sie nicht, daß ich Ihnen nur eine einzige Seite, freilich die wichtigste des Felix Tandem geschildert habe. Der war aber außerordentlich vielseitig. Dem Bewußtsein der Vielseitigkeit entsprang das Bedürfnis nach einem Pseudonym, oder vielmehr nach einem »nom de guerre«. Von dem, was der Privatmann etwa zufällig schreiben würde, wollte er das, was er aus Inspiration dichtete, schon durch den Namen klar unterscheiden. Ich will Ihnen einige Lieblingssätze aus der Poetik des Felix Tandem zitieren, damit Sie die Übereinstimmung des Verfassers von »Prometheus« mit dem Verfasser der »Lachenden Wahrheiten« spüren. Ich zitiere also jetzt ungedruckte Kernsprüche des siebenundzwanzigjährigen Felix Tandem: »Erstens. Der Roman ist eine Kunstform für Klatschbasen und Klatschvettern. Zweitens: Charakteristik ist ein gesundes, angenehmes, durchaus nicht anstrengendes Unterhaltungsspiel für glatzköpfige Knaben. Drittens: Kindischer und alberner hat noch kein Zeitalter über literarische Dinge gedacht als das unsrige. Viertens: Geschichtsphilosophie. Für den geistigen und moralischen Halt der Menschheit genügen jeweilen drei große leitende Ideen. Aber sie müssen dumm sein«. Wie Sie sehen, konnte der als unverständlich verschriene Felix Tandem auch deutlich sprechen. Beachten Sie anderseits, daß es auch dem spätem Schriftsteller, also dem übermütigen Feuilletonisten, immer mit der Sache, die er so fröhlich verfocht, grimmig ernst war. Ich habe nie in meinem Leben eine witzige Plauderei geschrieben. Endlich bitte ich Sie, ja nicht den beleidigenden, feindseligen, herausfordernden Ton zu überhören, den unser Schriftsteller, der gegenwärtige, anstimmt, so oft er sich mit seiner Zeit über literarische Dinge auseinandersetzt. Diesen verächtlichen Ton bezieht er nicht aus seinem Charakter, denn er ist bescheiden, auch nicht aus seinen wenigen gedruckten Büchern, denn die geben ihm kein Recht hiezu, sondern er leiht ihn von weiland Felix Tandem, dem zürnenden Propheten der großen Unbekannten, deren Majestät von Krethi und Plethi verraten wird. Soweit das Phänomen: Der einstige und der jetzige Schriftsteller sind nicht verschieden, sie zeigen sich nur von einer andern Seite.

Hienach gebe ich einen tatsächlichen Widerspruch zu. Nicht wahr, der natürliche Verlauf der Produktion wäre nach der innern Entwicklung, wie ich sie Ihnen geschildert, der folgende gewesen? Der Verfasser hätte nach Veröffentlichung seines Erstlings »Prometheus«, gestärkt durch den herzlichen und ehrerbietigen Gruß der literarischen Welt und belehrt durch das Urteil der Kritik, zunächst sein eruptives Büchlein verbessert und vollendet. Hernach wäre er an sein Lebenswerk geschritten, das heißt, er hätte den poetischen Vorrat der Epik und Mythik, den er während siebzehn Jahren gesammelt, verarbeitet und ausgegeben. Das ist wohl (nicht wahr) Ihre Meinung? Es war auch die meinige. Das kam nun eben ganz anders. Warum? Wieso? Wir können hier nicht Biographie üben. Anderseits aber habe ich Ihnen Vertraulichkeit versprochen und bin sie Ihnen daher schuldig. Nehmen Sie an, Sie würden, während Sie (ohne an etwas Böses zu denken) mit einem Gemälde unter dem Arm nach einer Gemäldeausstellung wanderten, dummerdings von einem Osterochsen überrannt. Können Sie sich denken, daß Sie, wenn Sie wieder aufstehen, anders aussehen werden als vorher? Können Sie sich denken, daß es vielleicht lange, lange Jahre brauchen wird, ehe die verstauchten Glieder und der eingedrückte Brustkorb wieder ganz in Ordnung sind? Können Sie sich denken, daß möglicherweise verborgene innere Schäden zurückbleiben, deren Natur erst bei der Sektion erkannt werden wird? Um aber nicht Rätsel mit Mysterien zu erklären, will ich Ihnen auch den Namen des Osterochsen mitteilen. Es ist ein Kollektiv-Ochs: der Minotaurus der Gegenwart. Sie kennen alle das liebenswürdige Tierchen, das sich vor den Klassikern auf dem Bauche wälzt, während es gleichzeitig mit den Hufen den Boden untergräbt, worauf sie stehen. Dieser Minotaurus hatte zwar damals, Anno 1880, ein etwas anders geformtes Horn als jetzt, nämlich ein idealeoides. Die Denkerstirn war aber dieselbe. Kurz, mit Epik und Mythik war es vorbei, und statt der innern Entwicklung herrschte fortan das äußere Hemmnis und Hindernis. Diese neue Lage nun, also die Zwangslage, benutzte unser Schriftsteller dazu, einstweilen (bis auf freundlichere Zeiten) zu lernen, was nur immer zu lernen war, sein Talent nach allen möglichen Richtungen auszuweiten, sogar Exkursionen in das Gebiet des Feindes (also in die Prosa) nicht verschmähend. Denn einem extramundanen Talent konnte eine gründliche Mastkur mit lebendigen Menschen von Fleisch und Blut nicht schaden. Dagegen für die Schmierkur des Romans hat er sich nie begeistern können. Er blieb immer bei seiner alten Ansicht, ein Dichter sollte höchstens einen Roman schreiben: seinen. Alle Bücher daher, die in den zwanzig Jahren zwischen 1880 und 1899 erschienen sind, haben die Bedeutung von Studien und Proben. Wohlverstanden, sie sind nicht etwa bloß zum Zwecke des Studiums geschrieben; nein, es sind echte Werke, um ihrer selber willen entstanden. Allein jedes dieser Werke trägt zugleich ein Visier, das nach einem künftigen höhern Ziel ausschaut.

Aus dem Charakter der Studie und Probe erklären sich Ihnen jene Eigentümlichkeiten, die Sie vielleicht bisher desorientieren, von selbst. Erstens: Die verblüffende Versatilität unseres Schriftstellers, der immer da auftaucht, wo man ihn am wenigsten erwartet. Die Versatilität liegt eben im Wesen des Studiums. Kaum ist eine Aufgabe erlernt, so sucht man anderswo neue Schwierigkeiten auf. Zweitens: Die vorsichtige, sparsame Ausgabe von Kraft, Herz und Leidenschaft. Der Verfasser mußte eben sorgsam mit diesen kostbaren Dingen haushalten, um dereinst das Epos mit ungeschwächter Kraft und unzerrüttetem Nervensystem wieder anzugreifen. Drittens: Die Leichtigkeit, Verluste von Manuskripten, angefangenen Werken und so weiter zu ertragen, sie scheinbar leichtsinnig preiszugeben wie die Eidechse den Schwanz. Ja, wer seine Kinder verloren hat, der weint seinen Kaninchen nicht nach. Anders verhält es sich dagegen mit der scheinbaren Kleinigkeit, Kargheit, Seltenheit der Produktion. Dieser Eindruck beruht auf einer optischen Täuschung. Sie müssen eben erfahren, daß die veröffentlichten Bücher nur einen kleinen Teil der Werke des Verfassers vorstellen, daß der größere Teil ungedruckt blieb, weil sich kein Verleger dafür fand. Zwei Beispiele. Zwischen »Extramundana« und »Schmetterlinge« liegt scheinbar eine Pause von fünf Jahren. Während dieser vermeintlichen Pause hat unser Dichter geschrieben: Ein Epos, eine Tragödie, ein großes zweibändiges ästhetisches Werk, eine langjährige wissenschaftliche Arbeit ungezählt, drei (nichtsnutzige) Theaterstücke und eine Unmasse von kleinen Erzählungen. Fünf Jahre angestrengtester Arbeit, elf Stunden täglich, ohne Ferien, ohne Rasttag, das ist [die] fünfjährige Pause. Ein zweites Beispiel: Unter den gedruckten Büchlein findet sich ein Idyll: »Gustav«. Dieses Idyll ist der klägliche, winzige (zufällig gerettete) Überrest einer üppig strömenden Produktion im Gebiete der Prosaerzählung oder, wenn das besser lautet, der Novelle. Erfahren Sie, was da teils schon geschrieben, teils zur sofortigen Ausführung bereit und fertig war. Ein großer Zyklus Heimliger Geschichten, beginnend mit einer humoristischen Erzählung: »Das Wettfasten«. Zweitens: Eine vaterländische Erzählung, »Alkohol«, worin an einem tragischen Fall nachgewiesen wird, daß wir die Weinflasche zu nahe bei der eidgenössischen Fahne stehen haben. Drittens: Eine zweite vaterländische Erzählung, »Die erste Schlacht«, worin in prophetischem Bilde die Wahrheit dargestellt wird, daß die Festpatrioten und die Patrioten, die im Unglück standhalten, schwerlich die nämlichen Personen sind. Viertens: Und noch manche andere Erzählung. Von all dem Reichtum steht jetzt das winzige magere Episödchen »Gustav« einsam da, wie ein frierender Hund auf der Heide. Wenn einem aber ein Jahrzehnt lang so ziemlich alles, was man geschaffen hat, im Papierkorb verendet, dann vergeht einem schließlich die Arbeit im Großen. Versuchen Sies einmal!

Überblicke ich im Geiste die zwanzig Jahre Schriftstellertätigkeit, so sehe ich drei Zeitperioden. Erstens. In der ersten Zeit (nach Veröffentlichung seines Erstlings) gemahnt mich unser Dichter an einen verwundeten Vogel, der mit verzweifelten Flügelschlägen sich in der Luft zu halten sucht, bis er endlich doch hernieder muß zum Kampf mit Hunden, Katzen und Krähen. Dieser Periode entstammen die folgenden Werke: Zweiter Teil des »Prometheus«, »Extramundana«, »Elias«, »Eugenia«. Sie bekunden alle noch hohen Flug, entgleisen aber mehr oder weniger bei der Ausführung. (Am meisten der zweite Teil des »Prometheus«.) Zweitens. Hierauf folgt eine Periode der Resignation und des langsamen, aber sichern Wiederaufstiegs, beginnend mit den »Schmetterlingen«. Drittens. Endlich die Periode des Abschlusses der Studien mit den krönenden Werken: »Balladen« und »Conrad«. Diese beiden Werke sind meine künstlerischen Legitimationspapiere. Mir selbst gegenüber und den Gegnern entgegen. Mit den Balladen hätte eigentlich noch eine Sammlung Lieder kommen sollen. Sie war auch schon zur kleinern Hälfte vorwärts gediehen. Allein sie mußten dem »Olympischen Frühling« weichen. Denn wenn es auch theoretisch richtig ist, daß die Lyrik dem Epos und Drama gleichwertig sei, so ist es doch nicht wahr. In der Lyrik allein findet kein Dichter Befriedigung. Ein bloß lyrischer Dichter ist ein fragmentarischer Dichter. Die Sammlung sollte den Titel führen »Glockenlieder und Graslieder«. Ich will Ihnen ein Glockenlied mitteilen:

»Glocke mit dem Silbermund!
Tu mir das Geheimnis kund:
Wohnst mit Kauz und Fledermaus
Einsam in dem Moderhaus.
Sag, woher dein mutger Ton,
Daß die Welt erklingt davon?«

»Einst im kalten, feuchten Schacht
Traf mich stumme Mitternacht.
Aber hier im sonnigen Turm
Tanzt der Wind und jauchzt der Sturm.
Leben lacht mir lichtverschönt,
Und dich wunderts, daß es tönt?«

Ich hatte damit begonnen, Ihnen meinen ersten dichterischen Versuch zu erzählen. Ich will Ihnen zum Schluß beichten, wie mein erstes Gedicht zustande kam. Aber nicht wahr, das bleibt unter uns? Ich war vierunddreißigjährig, als ich das Wagnis zum zweiten Male versuchte. Zwanzig Jahre nach dem fatalen Kirschbaum. Aber was hatte ich diesmal unter dem Arm, um zu dichten? Ein Reimlexikon. Verstohlen schlich ich in mein Studierzimmer, mit bangem Herzklopfen, ungewiß, ob ich als jemand Rechter wieder hervorkommen werde oder als ein heilloser Stümper. Und auch nicht die entfernteste Ahnung davon, ob das Wochen oder Tage oder Stunden koste, einen Vers auf einen andern Vers zu reimen. Nach einem Stündchen schlüpfte ich fröhlich wieder hervor und hatte mein erstes Gedicht. Sie finden es in den »Schmetterlingen« unter dem Titel »Sibylle«:

»Dies ist der Tag, der mir mein Glück gebracht.
Wir schritten durch die finstre Tannennacht.
Da war kein Pfad, kein Laut, kein Sonnenlicht,
Als dein herzinnig Gottesangesicht.

Wie kamen wir dahin? Was suchten wir
Im grabesdüstern Wald? Ich weiß es nicht.
Betäubt und schweigend zog ich hinter dir,
Denn die Versuchung redete mit mir.« …

Dies Gedicht ist also mit dem Reimlexikon entstanden. Freilich diesmal, ehe ich dichten wollte, wußte ich, was ich sagen wollte. Beiläufig bemerkt (um boshaften Vermutungen zu steuern), ich reime jetzt ohne Reimlexikon.

Ich bin zu Ende. Mit dem »Olympischen Frühling« stehen wir in der Gegenwart. Der Dichter ist nach zwanzigjährigem Exil in seine Heimat, das Epos und die kosmische Poesie, zurückgekehrt und gedenkt sie nicht mehr zu verlassen.


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