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Das Haus Widmann

Das Pfarrhaus zu Liestal

Das Pfarrhaus zu Liestal. Das »Paradies auf Erden«

Das Pfarrhaus Widmann in Liestal

Wenn man von Basel in der Richtung nach Olten in die Schweiz fährt, kommt man nach zwanzig Minuten an der häßlichen Rückseite eines sauberen Städtchens namens Liestal vorbei. Von diesem Liestal wüßte ich viel zu erzählen; allein man erzählt nicht von seiner Heimat einleitungsweise. So mache ich denn einen Gedankenstrich, mit einem geheimen Gefühlszeichen darum, nehme einen großen Sprung darüber hinweg und beginne sachlich mit meinem Thema.

In der sogenannten Hintern Gasse Liestals verborgen, nahe der gleichfalls versteckten Kirche, liegt an einer platzartig erweiterten Ausbuchtung das unscheinbare Pfarrhaus. Mehr noch als anderswo bilden in dem ärmlichen Kanton Baselland, der noch vor zwei Menschenaltern nicht viel mehr bedeutete als ein bäurisches Anhängsel der Stadt Basel, die Pfarrhäuser Inseln innerhalb der heimischen Einwohnerschaft. Scheue Ehrfurcht schützt und vereinsamt sie, die nicht einzig dem religiösen Beruf des Pfarrers gilt, sondern auch seiner höheren Bildung und seiner städtischen Lebensart. In denkbar höchstem Grade war das Pfarrhaus Widmann in Liestal isoliert. Die übrigen Pfarrer des Kantons waren doch Schweizer oder hatten wenigstens eine Schweizerin zur Frau, wie zum Beispiel der aus Kärnten stammende Pfarrer Rauczka in Rothenfluh, und ob sie schon städtischer auftraten und einen etwas anders gefärbten Dialekt sprachen, so war es doch baslerische Nachbarluft und unmittelbar verständliche, traute Schweizer Mundart.

Bei den Widmann dagegen war alles fremd, außerschweizerisch: die österreichische Sprache, der großstädtische Ton, das unbefangene, bei einer Pfarrerfamilie auffallende, weltfröhliche Gebaren, fremd sogar die Kleidung und der Küchenzettel. Auf die naheliegende Frage, wie die Liestaler Kirchgemeinde dazu kam, sich einen heimatlosen, wildfremden Flüchtling zum Pfarrer auszusuchen, lautet die Antwort: Gerade das, daß er ein fremder, heimatloser Flüchtling war, diente ihm bei den erzrevolutionären Liestalern zur Empfehlung. Liestal steckte immer voll von politischen Flüchtlingen, weil es einladend die Arme nach ihnen ausstreckte und ihnen Schutz, Lebensunterhalt und Heimat anbot. Nicht umsonst steht in Liestal ein Herwegh-Denkmal. Widmann aber empfahl sich den Liestalern noch ganz besonders dadurch, daß er aus einem Mönchskloster entsprungen war. Soeben, wenige Wochen nur früher, als sie sich Widmann zum Pfarrer holten, im Jahre 1845, waren die Liestaler mit blutigen Köpfen aus einem unglücklichen Privatkriegszug gegen Luzern zurückgekehrt, wo sie die Jesuiten hatten vertreiben wollen. Die herrliche Gelegenheit, zum Trost für die Niederlage die Jesuiten durch die Wahl eines ›Exjesuiten‹ zu ärgern.! Denn Zisterzienser oder Jesuit, das galt den damaligen Radikalen wie Kraut und Rüben. Daß der Fremde sich in der Folge fremd benehmen würde, war vorauszusehen; doch dieser Gedanke schreckte nicht; war man mit so vielen flüchtigen Italienern, Deutschen und Polen gut ausgekommen, so wird es mit einem Österreicher wohl auch gehen. Aus solchen Gründen also, das heißt den Pfaffen und Aristokraten zum Trotz, wurde der flüchtige Zisterziensermönch aus Heiligenkreuz bei Wien zum protestantischen Pfarrer von Liestal berufen. Ganz geheuer war mißtrauischen Gemütern freilich nicht dabei: »Wenn am Ende die Flucht, die Bekehrung, die Heirat bloß Trug und Verstellung wären? ein abgefeimtes, jesuitisches Teufelskunststück, um Liestal allmählich katholisch zu machen?!« Den Jesuiten traute man alles zu.

Die romanhafte Vorgeschichte des Pfarrers Widmann und seiner Frau ist so oft und so gründlich erzählt worden, daß ich sie nicht wiederholen will. Ersprießlicher scheint mir, mitzuteilen, wie es in dem geheimnisvollen, fast märchenhaften Pfarrhaus Widmann in Liestal zuging und wer alles darin wohnte und waltete.

Da war vor allem der Pfarrer selber. Eine auffallend schöne, stattliche, dekorative Erscheinung; hochgewachsen, aufrecht und schlank, mit einem feinen, regelmäßigen, bildschönen Gesicht. Einer jener Menschen, die nirgends unbemerkt bleiben können, nach denen man sich auf der Straße umwendet und seinen Nachbarn fragt: »Wer ist das?« Zugleich sympathisch anmutend, so daß ihm jedermann auf sein bloßes Gesicht hin freund wurde. Wenn er durch die Straße zog, mit jener angeborenen Leutseligkeit grüßend, die gar nicht weiß, daß man auch anders sein könnte, sah man nicht selten die Leute vor Vergnügen und Stolz über seinen Gruß erröten. Seinem Äußern entsprachen seine Lebensgewohnheiten, sein Temperament und seine geistigen Anlagen. Zufriedenheit und Behagen strömten von ihm aus, er verstand die Kunst, stündlich in der Gegenwart zu leben, und wurde schon kraft dieser Eigenschaft ein vorzüglicher, beliebter Gesellschafter; sein Humor, seine Jovialität, seine Gutartigkeit taten das übrige. Weil er sich weltlichen Vergnügungen nicht abhold zeigte, Theater- und Bierhäuser besuchte, herzlich lachen konnte, mit Mutterwitz zahlte, einen saftigen Wienerausdruck nicht verschmähte, überhaupt nicht das mindeste Pastorale zur Schau trug, galt er allgemein für ›freisinnig‹. Das war eine Begriffs Verwechslung; duldsam war er und weitherzig, aber für seine Person und seinen Beruf nicht freisinnig, vielmehr orthodox, ob auch gemäßigt orthodox. Überhaupt lag seine Bedeutung nicht auf theologischem oder philosophischem, sondern auf künstlerischem Gebiete. Musikalisch war er durch und durch. Ohne Musik hielt ers nicht lange aus. »Aber sollen wir denn nicht etwas spielen?« rief er, wenn das Gespräch zu lange dauerte. Er selber vermochte als einstiger Regens chori ein Orchester zu dirigieren, war ein tüchtiger Sänger, ansehnlicher Geiger, leidlicher Cellist, so daß er in Trio und Quartetten seine Noten neben Berufsmusikern zu bewältigen imstande war. Noch weiter als seine ausübende Kunst reichte aber sein Verständnis für Musik.

Dem Pfarrer wie aus dem Gesicht geschnitten, selbstverständlich in verjüngter Ausgabe, war seine Tochter Anna, die Prinzessin Anna, wie neidische Zungen sie tauften. Ein Mädchen von seltener Herzensgüte und Seelenreinheit. Lieblose, scharfe Urteile über einen Nebenmenschen kamen nie aus ihrem Munde, es wäre denn, daß jemand etwas antastete, was ihr heilig war. Daß es schlechte Menschen gibt, dies zu erfahren oder auch nur zu wissen, ersparte ihr die Inselatmosphäre des Pfarrhauses. Die Öffentlichkeit kannte sie als virtuose Klavierspielerin, die schon als elfjähriges Kind in Konzerten aufgetreten war (mit dem F-Moll-Konzertstück von Weber), in der Gesellschaft wurde sie wegen ihrer Anmut gefeiert, ihre größten Vorzüge aber, Charaktervorzüge, offenbarte sie in der häuslichen Intimität. Treue Anhänglichkeit an die Ihrigen war ihre Haupteigenschaft, ihr Lebensatem die unbegrenzte Verehrung ihrer Mutter und ihres Bruders.

Ganz anders die Pfarrerin und der Sohn Joseph Viktor, der Dichter. Diese waren körperlich unansehnlich und verkümmert, die Mutter kränklich, der Sohn schwächlich, dagegen beide an Geist ganz außerordentlich begabt. Die Frau Pfarrer, eine Schülerin Hummels, welche Schubert mehrmals, Beethoven einmal persönlich gesehen und gesprochen hatte, verfügte über ein Klavierspiel, das den Ruf der Genialität genoß und diesen Ruf auch verdiente. Das Spiel der Frau Feuerbach, der Mutter des Malers, hat mich später in mehrfacher Beziehung daran erinnert; doch hatte Frau Pfarrer Widmann noch die Fähigkeit des freien Phantasierens voraus, innerhalb der Grenzen, welche nun einmal die Natur der Frau auf schöpferischem Gebiete abgesteckt hat. Leider erlaubte ihr ihre ewige Kränklichkeit – ich habe sie nie anders als leidend gesehen – nur ausnahmsweise die eigene Betätigung am Klavier. Wenn sie jedoch zur Seltenheit einmal aufstand und sich dem Flügel näherte, herrschte andächtige Feierstille wie vor einem wichtigen Ereignis. Für gewöhnlich saß sie zusammengesunken auf dem Sofa, eine kleine Gestalt, beherrscht von einem merkwürdig bedeutenden, durchgeistigten Augengesicht, beständig mit ihren Brustkrämpfen ringend, aber siegreich ringend, so daß sie fröhlich zu bleiben und ihre Fröhlichkeit den Anwesenden mitzuteilen vermochte. Sie sprach, ihrer Atemnot wegen, nur wenig. Ihre großen, inhaltvollen und freundlichen Augen genügten indessen zur Belebung der Gesellschaft. Wenn sie redete, hatte ihre Stimme etwas unbeschreiblich Herzliches und zugleich Gescheites. Und die Wienersprache klang aus ihrem Munde so treuherzig, so natürlich, so überzeugend, daß man sich wunderte, warum nicht alle guten Menschen ähnlich sprechen.

Und nun der Sohn Joseph oder Pepi, wie ihn die Familie nach Wiener Sprachgebrauch nannte! Das wäre ein so reichhaltiges Kapitel, daß ich es unmöglich hier so beiläufig in Angriff nehmen kann; das verlangte eine besondere, wohlerwogene große Abhandlung für sich, die auch nicht ausbleiben wird, denn Joseph Viktor Widmann gehört der Literaturgeschichte an. Überdies ist ja eine ausführliche Lebensgeschichte Joseph Viktor Widmanns in Arbeit, von berufener Seite, nämlich von seiner Halbschwester Elisabeth Widmann. Sie wird die Lücke ausfüllen, auf sie verweise ich. Einen Satz immerhin, den Hauptsatz kann ich nicht unterdrücken: Die Familie unseres Dichters hat durch schrankenlose Liebe und Bewunderung ihrem Pepi eine ausnahmsweis glückliche Jugend gebettet, und er hat dieses unschätzbare Geschenk mit inniger, herzlicher Verehrung verdankt.

Dann war noch eine Schwester der Frau Pfarrer, Fräulein Wimmer, im Hause, eine jener rührenden, bedauernswerten Wesen, deren Hauptberuf im Leben darin besteht, Tante zu sein. Ihr Herz war in Wien geblieben, wo ihr einst das Schicksal täuschende Zukunftshoffnungen versprochen hatte, und während die übrigen sich allmählich in der Schweiz heimatlich einlebten, schmachtete Fräulein Wimmer bis an ihr Ende nach der verlassenen Großstadt. Ähnlich die baumlange Köchin Marie, welche die Familie Widmann aus Wien mitgebracht hatte. »Muß ich denn in Liestal verblühen?« pflegte sie zu klagen.

Und den verwöhnten wichtigen Pfarrershund Hektor darf ich ja nicht vergessen, den Urhund all der vergnüglichen Hündchen, welche uns der Dichter Joseph Viktor Widmann in seinen Alpenwanderungen so zärtlich vorführt.

Außerdem wohnte im Pfarrhause noch ein kleines Trüppchen junger Mädchen als Pensionärinnen, die von Zeit zu Zeit wechselten. Die brachten dann wieder eine neue Note herein: Übermut und Lachlust, gewürzt mit einem Quentchen Spottfreude. Dieses vielstimmige jugendliche Gekicher aus hübschen Mäulchen trug ebenfalls zu der Märchenatmosphäre des Pfarrhauses bei.

Und jeden Sonntagnachmittag öffnete sich das Haus den Gästen. Ja, diese fremde, entwurzelte Flüchtlingsfamilie, an Geldmitteln so arm wie die Kirchenmäuse, verstand es, einzig durch ihre persönlichen Vorzüge und ihre großstädtische Lebensart eine Auslese von nah und fern heranzuziehen, bis über die Kantonsgrenze, sogar über die Schweiz hinaus. Was irgend Namen hatte oder zu haben glaubte: vorüberreisende Künstler, Dichter, Gelehrte und so weiter sprachen im Pfarrhaus Widmann vor. Alle politischen Flüchtlinge, falls sie nur gesellschaftlich möglich waren, fanden gastliche Aufnahme. Daneben auch Privatflüchtlinge, die ihr Vaterland aus persönlichen, unbekannten Gründen meiden mußten oder mochten. Man verlangte keine Zeugnisse und forschte nicht nach, sondern nahm, was kam, falls es nur annehmbar aussah. Den Grundstock bildeten in dem musikalischen Hause natürlich die Musiker. Kein hervorragendes Mitglied des Basler Orchesters, das nicht im Pfarrhause Liestal verkehrt hätte. Erschienen Primgeiger, so gab es Trio und Quartette, mangelte der Zuzug: Violinsonaten, vom Pfarrer und seiner Tochter ausgeführt. Einheimische kamen selten zum Vorschein. Nicht als ob sie wären ausgeschlossen worden; sondern sie schlossen sich selber aus, vor Schüchternheit und Bescheidenheit. Gelang es jedoch den Widmann, in der Einwohnerschaft ein junges Talent zu entdecken, so wurde es freudig hervorgezogen und gehegt. Entdecken und fördern war überhaupt der menschenfreundlichen Familie nicht bloß eine Lust, sondern ein Bedürfnis; wo nichts zu entdecken war, entdeckten sies hinein. In jedem ihrer Gäste fanden und erfanden sie Vorzüge. Häufig täuschten sie sich, einige Male aber gelang es ihnen doch, aus dem Städtchen oder einem benachbarten Dörfchen ein wirkliches Talent zu erwischen, es zu fördern und zu lebenslänglicher Dankbarkeit zu verpflichten.

So sah es, mit nüchternen Worten berichtet, im Pfarrhause Widmann aus, in der schönsten Zeit, am Anfang der sechziger Jahre, als beide Kinder eben erwachsen und noch daheim waren, als die Pfarrerin noch nicht völlig von ihrer Krankheit überwältigt war. Nicht leicht ist es mir geworden, mit nüchternen Worten über eine Familie zu berichten, in der ich wie der eigene Sohn angesehen wurde, die ich wie eine zweite Heimat segne; zumal jetzt, da sie mit einer einzigen Ausnahme sämtlich tot sind und mich mit ihren schönen Auferstehungsaugen grüßen, jetzt, wo der Sohn der Familie, mein bester, treuester Jugendfreund, im Grabe liegt. Wie oft habe ich glückpochenden Herzens vor der Tür des Pfarrhauses gestanden, ungeduldig die Sekunden zählend, bis Hektor Laut gab und die Köchin Marie den Aufzug in Bewegung gefingert hatte!

Es wird wohl nicht lange dauern, so wird Liestal neben dem Herwegh-Denkmal auch ein Denkmal des Dichters Joseph Viktor Widmann, des einstigen Pfarrerpepi, aufweisen. Übrigens mit oder ohne Denkmal (oder trotz dem Denkmal) werden ewig die abgeschiedenen Geister der Familie Widmann, gesegnet vom Dank der Freunde, das Pfarrhaus Liestal umschweben, wo einst beim Klang Beethovenscher Violinsonaten in den Ring guter, schöner Menschen von draußen die Bäume des Turnplatzes und die Wälder des Schleifenberges zu den Fenstern hereinlauschten und einander zuflüsterten: »Still! Andacht! hier werden edle Träume geboren.«


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