Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Im Reiche der Großeltern

Hinter dem Hause

Sobald ich mich auf meinen Beinen leidlich sicher fühlte, geriet ich so natürlich aus der Wohnstube ins Freie hinunter wie ein flügger Sperling aus dem Nest. Unten befand ich mich im Reiche meiner Großeltern, denn alles weit und breit war Eigentum des Großvaters und seines Bruders, des ›Götti‹. Die beiden Brüder waren über Tag meistens abwesend, der Götti, der Bierbrauer, mit seinen Knechten im Brauhause, der Großvater, der Gärtner und Landbauer, auf dem Felde. Zu Hause schaltete unterdessen die Großmutter; ihrem Schutze durfte man mich getrost überlassen. Ihre Aufsicht über mich war um so erwünschter, als meine Mutter mit meinem neugeborenen Brüderchen genug zu tun hatte.

Vorn hinaus auf die Straße mich zu vergehen, war strengstens untersagt. Mit Recht, denn zu viele Fuhrwerke machten damals, wo es noch keine Eisenbahn gab und der Verkehr von Basel nach der Innenschweiz am Hause vorbeiführte, die Straße unsicher. Aus diesem Grunde bin ich auch nie in die Wiese jenseits der Straße gekommen. Also hinten hinaus, in den Hof, in den Garten, auf den Kegelplatz, an den Rain des Hügels. Dort drohte keine Gefahr, da Zaun und Tor einen sichern Abschluß gegen die Straße bildeten.

Der Hof war geräumig, aber unerfreulich, nämlich leer und düster. Nach links und rechts ermangelte er des Abschlusses. Links ging es zum Kegelplatz und Garten, rechts zu dem nichts weniger als lieblichen Hinterhause der Wirtschaft ›Zur Kanonenkugel‹. Der sonderbare Name wollte daran erinnern, daß vom Überfall der Basler her noch eine Kanonenkugel in der Mauer steckte. Die eine Langseite des Hofes wurde vom Wohnhause der Brüder Brodbeck, der sogenannten Brauerei, und von den Wagenschuppen, Scheunen, Ställen und so weiter eingenommen, die gegenüberliegende von dem gewaltigen, finstern Brauhause, das mir damals noch nichts sagte. So diente mir der Hof hauptsächlich nur als Durchgang. Trotz seiner Häßlichkeit erhielt später in Bern, wenn ich mich nach Liestal zurücksehnte, auch dieser Hof einen heimatlichen Gefühlston; ich konnte kein Hofbild von Ludwig Richter ansehen, ohne dadurch an den Hof der Großeltern zwischen der Brauerei und dem Brauhause erinnert zu werden. Und an die zwei Bäumchen im Hofe knüpft sich eine anmutige Erinnerung aus der Kinderzeit meiner Mutter. Wenn der Wind die Zweige schüttelte, meinte sie: »Ach, wenn doch nur die einfältigen Bäumchen nicht daständen, damit der abscheuliche Wind nicht wäre!« Sie glaubte, die Zweige verursachten den Wind, ähnlich wie ein Fächer.

Mit dem Garten wußte ich auch nicht viel anzufangen. Die Blumen durfte ich nicht abrupfen, die Beete nicht betreten; was tue ich in den langen, einförmigen Wegen, auf welchen nichts zu finden ist, nicht einmal Gras? Und wenn je zur Seltenheit sich etwas Ergötzliches im Garten ereignete, etwa ein Pferd, das durch die Beete galoppierte, so lief alles eilends herbei, um dem Vergnügen ein Ende zu bereiten.

Dagegen der Rain des Hügels benahm sich freundlicher; der lud einen zur Schneckenjagd ein. Und es gab der Schnecken eine Menge, welche einem bereitwillig ihre Kunststücke zum besten gaben, die Hörner vorstreckten, sich ins Gehäuse verkrochen, kurz alles, was sie wußten und konnten. Nur wurde man leider immer bald vom Rain zurückgerufen; entweder hieß es, das Gras wäre zu naß, oder man zertrete die schöne Matte, oder ich verstieg mich zu hoch hinauf. Auf diesem Rain war es, daß meine Mutter als Kind meinte, oben am Hügelsaume gehe es in den Himmel (»Er ist so nah, sieh, wie er aus dem Grase guckt dort oben«).

So verblieb als Hauptbühne zur Verlustigung der Kegelplatz und der freie Raum daneben. Dort stolzierte ich herum, einen zweispitzigen Obersthut auf dem Kopfe, den mir die Großmutter aus Zeitungspapier zurechtgefaltet hatte. Sie verstand das wie niemand sonst, aus Papier einen Obersthut zurechtzuklappen. Eins, zwei, drei war der Hut fertig. Leider ging er auch eins, zwei, drei in Fetzen, so daß ich dutzendmale im Tage zur Großmutter laufen mußte, um einen frischen Hut zu beziehen. Kamen Nachbarkinder zu Gast, so wurde mit kriegerischen Gesängen in Reih und Glied marschiert. Eines der Lieder schloß mit der Drohung: »Wenn nur der Wolf nicht kommt!« Beim Namen Wolf stob alles auseinander. Eigentlich tat es uns ein bißchen leid, daß er nicht kam, der Wolf. Wir hätten ihn gerne über den Hügelsaum heruntergucken sehen, die Schnauze leckend und mit dem Schwanz wedelnd, vorausgesetzt, daß er aus Kartenpapier gewesen wäre. Gab es Unfälle, ein Umpurzeln auf den Boden oder was sonst, so wurde eilends zur Küche oder Wirtschaft der Großmutter gelaufen. Etwas Weibliches war dort jederzeit zu finden, wenn nicht die Großmutter selber, die große Therese, die Kellnerin, oder die Köchin. Die bliesen einem den Schmerz mit einem Segenssprüchlein weg; wenn sie aber versicherten »jetzt, tuts dem Büblein nicht mehr weh« und es mir trotzdem noch weh tat, erboste ich.

Das Ende des Kriegsspiels war meistens eine gewisse Enttäuschung. Ich beobachtete nämlich gar wohl, daß die Leute, die auf der Straße vorbeizogen, meinen stolzen Obersthut nicht ernst nahmen, wie keck ich auch marschierte und krähte. Man möchte aber ernst genommen werden. Um ernst genommen zu werden, ersehnt das Büblein den Bart.

In der Wirtsstube

Der Götti, der Bierbrauer, hatte im alten Hause der Brauerei ein Wirtsstübchen eingerichtet, unten an der Straße. Weil er lange Zeit ledig blieb und nachher eine kränkliche Frau heiratete, die früh an Schwindsucht starb, fiel meiner Großmutter neben der Leitung des eigenen Haushaltes auch der Haushalt des Götti und die Führung der Wirtschaft zu.

In früheren Zeiten, in der Kindheit meiner Mutter, war es in dieser Wirtsstube kriegerisch hergegangen, es war ein Revolutionsstübchen. Eines Morgens kehrten die Basler mit Trommeln und Trompeten, Flinten und Säbeln bei der Großmutter ein, während unterdessen ihr Mann und der Götti von den Flühen gegen die Basler knallten und ihre Kinder, hastig in finsterer Nacht in den Kanton Solothurn hinüber gerettet, unter freiem Himmel auf einem Bauernwägelein wohnten. Die Basler taten der Großmutter nichts zuleide, bezahlten sogar Speise und Trank, dagegen schossen sie beiläufig hinten auf dem Kegelplatz ein harmloses, blödes Männlein, den Dalang Micheli, durchs Bein, wahrscheinlich unabsichtlich. Den Dalang Micheli legte man dann in der Brauerei aufs Bett, und das Großmütterchen verband und pflegte ihn.

Allmählich versammelten sich dann mehr und mehr die revolutionären Flüchtlinge aus aller Herren Ländern in Göttis Wirtsstube. Übrigens in friedlicher Angelegenheit: als Kostgänger, weil die Großmutter vorzüglich kochte. Einzig mit dem Munde wurde zwischen Fleisch und Gemüse gegen die Fürsten, Pfaffen und Aristokraten gefochten. Von diesen Flüchtlingen wußte meine Mutter viel zu erzählen. Zum Beispiel von einem gewissen Doktor Fein, der von sich zu rühmen pflegte: »Fein bleibt fein« und den die frommen Weiber mit den Besenstielen totzuschlagen drohten, weil er nicht an Gott glaubte. Oder von einer Polin, die in Mannskleidern umherging und Pulver in ihren Branntwein schüttete, damit er weniger schal schmecke. Die hielt dann, als die Revolutionszeit der dreißiger Jahre vorbei war, friedlich eine Kinderschule. Eines Tages führte sie ihre Schülerinnen nach Freiburg im Breisgau. Dort verschwand sie mit dem Gelde und ließ die Mädchen sitzen, die man dann am andern Tage zurückholen mußte. Eines der Mädchen war meine Mutter.

Zu meiner Kinderzeit war es ein stilles, ruhiges Stübchen, das vom Wirten nicht viel anderes mehr behalten hatte als den Namen. Selten verirrte sich ein vereinzelter Gast herein, etwa ein vorüberziehender Fuhrmann, den ich dann als Eindringling herzhaft verabscheute. Tatsächlich diente jetzt die sogenannte Wirtsstube den vereinten Familien des Götti und des Großvaters zur Wohnstube und Eßstube. Weil aber die Großmutter dort zu finden war, wurde es auch meine Wohnstube, wohin ich mich verzog, wenn der Aufenthalt im Freien nicht gedieh. Also bei Regenwetter und zur Winterszeit. Es regnet aber oft, sogar in dem sonnigen Baselland, und der Winter ist lang. Und einen gesunden Buben in einer Stube zu beruhigen, dazu braucht es Geduld. Nun, die Großmutter hatte Geduld, unendliche Geduld.

Auch der Großvater. Er war sanft und gutmütig, nur war er eben ein Mann, und eines Mannes Geduld, wenn es nicht mehr zum Aushalten ist, nimmt schließlich ein Ende. Wenn er alles versucht hatte, mich auf den Knien geschaukelt, mir die Geißel in die Hand gegeben, mir seine Lieder vorgesagt, vom Joggeli, der nicht Birnen schütteln wollte, und vom Kopf, den man an die Mauer stoßen solle, und ich trotz allem noch unausstehlich blieb, übernahm ihn der Jähzorn, der Jähzorn der sanften Leute. Dann nötigte er mich, zur Strafe einen Satz aufzusagen, den er mir vorsprach und der mein Kennzeichen enthielt. »Was bist du?« fragte er mich, und ich sollte antworten: »Ein verdrossener, störrischer, widriger, unausstehlicher Bub.« Das Sprüchlein sagte ich herzhaft mit lauter Stimme auf, ohne Zaudern noch Widerstreben, rein sachlich, aus Wahrheitsgründen, und das offene Geständnis schaffte ihm für gewöhnlich Erleichterung. Es kam aber auch vor, daß er aufsprang und mich den Schweinen zum Fressen vorzuwerfen drohte, wenn ich nicht artig würde. Und wirklich übermannte ihn eines Tages der Jähzorn dermaßen, daß er mich auf den Arm lud und mit mir zum Schweinekoben lief. Bah, dachte ich, das ist blindes Bangemachen, er wird schon beizeiten umkehren. Als er jedoch wahrhaftig das Guckloch öffnete und die scheußlichen Ungetüme mit greulichem Gebrüll gegen mich emporjuckten, da wurde mir tüchtig angst, so daß ich mörderlich zu schreien anfing. Geholfen hat diese Kur freilich nichts.

Was schließlich half, und gründlich half, waren die Märchen, die mir die Großmutter erzählte. Nachdem ich von dieser Kost geschmeckt hatte, verlangte ich nach nichts andrem. Nur immer und ewig erzählen, meinetwegen stets das nämliche, die Geschichte von den Geißlein und dem Wolf, von der Kohle und dem Strohhalm; ob ich das schon auswendig wußte, ich mochte es immer von neuem hören, und zwar von der Großmutter, von niemand anders. War der Märchenschatz der Großmutter zu Ende, und er war nicht groß, so heischte ich die Geschichte von der Krähe. Das war eine höchst einfache Geschichte: eine Krähe fiel vom Baum und brach sich das Bein; bekam ich es von jemand anders erzählt, so rümpfte ich verächtlich die Lippen, erzählte es aber die Großmutter, so wirkte es auf mich durch ihre Stimme wie ein Märchen.

So wurde mir durch die Großmutter eine ungemütliche, von Fuhrknechten heimgesuchte Wirtsstube zur Märchenstube.

An dieser Wirtsstube haften meine meisten Erinnerungen aus dem zweiten Lebensjahr, wie ich ja auch in Wirklichkeit, nachdem ich einmal gehen gelernt hatte, die meiste Zeit des Tages dort zubrachte. Ich wußte nichts anderes, als daß ich dorthin gehörte. Weil aber erst im zweiten oder dritten Lebensjahr des Menschen der Wachzustand über den Schlafzustand das Übergewicht gewinnt, empfand mein Bewußtsein die Wirtsstube als die Geburtsstätte meines Ich und das ganze frühere Wiegen- und Wohnstubenleben als unvordenkliche Vergangenheit. Wenn ich daher am Mittag zum Essen und am Abend zum Schlafen aus der Wirtsstube der Großmutter in die Wohnung meiner Eltern hinaufstieg, so überkam mich ein Gefühl, als begäbe ich mich aus der Gegenwart in längst überwundene Urzeiten zurück.

Der Götti

Der Pate (Götti) und Oheim meiner Mutter, von aller Welt kurz der Götti genannt, war der Schrecken der Familie. Wenn es hieß: »Der Götti kommt«, wurde jedermann vor Bangigkeit nervös. Er sah auch wirklich fürchterlich aus: eine wuchtige Gestalt, ein Gesicht wie ein Menschenfresser, eine pockennarbige Haut, blutunterlaufene rollende Augen, Arme und Fäuste, um einen Ochsen totzuschlagen. So schaute er im Frieden drein – wessen mußte man sich nicht versehen, wenn er in Zorn geriet! Ein zorniger Götti! Bei dieser bloßen Vorstellung zitterten die Herzen. Und schreckliche Dinge erzählte man sich von seiner Gewalttätigkeit. Ein in Basel wohnender Verwandter, der Schwager der Großmutter, wagte sich, weil baslerischer Gesinnung verdächtig, wegen des Götti nur heimlich in finsterer Nacht in die Brauerei; man mußte ihn verstecken wie einen Verbrecher. Einen Berliner Schwätzer, der die Trommelkunst des öffentlichen Ausrufers abfällig beurteilte, nötigte er, seine eigene Trommelkunst vorzuweisen, und als das kläglich ausfiel, schlug er ihn windelweich. Das war seine Logik.

Hinter dem schrecklichen Äußern steckte jedoch ein achtbarer und keineswegs böser Mensch. Fürs erste war er ehrlich, und das ist schon nicht wenig; ferner war er außerordentlich fleißig und tüchtig in seinem Geschäft, der Bierbrauerei, so daß er das gemeinsame Heimwesen gedeihlich emporbrachte. Mit seiner Gewalttätigkeit stand es auch nicht so schlimm, wie die Sage lautete. Es blieb meistens bei der Drohung. Während in der Schule und auch mancherorts in den Familien kräftig geprügelt wurde, waren pädagogische Schläge in Göttis Familie unbekannt. Er war gütig gegen seine kranke Frau und gnädig gegen seine Kinder, und, was ihm besonders zur Ehre gereicht, er war unparteiisch gerecht, in solchem Maße gerecht, daß er seinen Neffen um des Fleißes willen vor seinem eigenen, etwas arbeitscheuen Ältesten bevorzugte. Und merkwürdig, der schreckliche Mensch mit der Ungeheuerstimme war ein guter Sänger und fand beim Singen angenehme Töne.

Er litt selber darunter, daß ihn die Natur mit so fürchterlichen Eigenschaften bedacht hatte. »Ich meins ja nicht böse«, pflegte er zu brüllen. Er meinte es wirklich nicht böse. Übrigens kam ihm seine Stärke in seinem Brauerberufe und auch in seinem Wirtsgeschäfte zustatten, wenn es zur Seltenheit eine Rauferei gab. Immerhin, so stark wie mein Vater war der Götti doch nicht. Wurde der Götti im Streit nicht mehr Meister, so holte man meinen Vater aus der Kanzlei, sperrte die Fenster auf und warf Matratzen auf die Straße. In Kürze flog einer nach dem andern aus den Fenstern. So wurde erzählt. Doch das waren andere Zeiten. Mitangesehen habe ichs nicht, überhaupt niemals einen Streit in der Wirtsstube erlebt.

Uns Kindern hat der Götti niemals das mindeste zuleid getan, nicht einmal ein böses Wort gegeben. Wir bewegten uns daher um den Götti ohne jede Befangenheit, wie die Maus im Löwenkäfig. Nur mußte man schleunig den Platz räumen, wenn der Götti mit seinen Brauknechten zum Mittagessen einbrach. Falls man sich da nicht rechtzeitig rettete, so geriet man im Hausgang zwischen ein Dutzend wildstampfender gestiefelter Beine, daß man besorgte, aus Versehen zertreten zu werden wie ein Frosch auf dem Exerzierfeld. Nachher, wenn die wilden Knechte mit dem Essen fertig waren, und das geschah sputig, wurde es in der Wirtsstube wieder geheuer.

Zuwachs und Nachkommenschaft

Sowohl der Großvater wie der Götti hatten mehrere Kinder. Des Großvaters Ältesten, den ›Onkel Henri‹, bekam ich erst in späteren Jahren zu Gesicht; damals wohnte er als angehender Kaufmann in Bordeaux, was er hauptsächlich meinem Vater verdankte, der in der Brauerei den guten Geist spielte, indem er nach Kräften verhinderte, daß sämtliche Kinder verbauerten. Ich wußte von Onkel Henri nur das, daß jedesmal, wenn ich eine schöne Zeichnung bewunderte, es hieß: »Das hat der Onkel Henri gezeichnet.« Der zweite Sohn, namens Karl, war zu Hause, ging aber noch zur Schule. Weil er noch so jung war, wurde er zum Unterschied von Onkel Henri der kleine Onkel, der Ünggeli, genannt. Vom Götti waren ebenfalls zwei Söhne im Hause, die auch noch in die Schule gingen, Adolf und Karl. Es lebten also zwei Karl Brodbeck und mit mir drei Karl, mit meinem Vater sogar vier Karl in der Brauerei.

Die drei Schulbuben nun, der Ünggeli, der Adolf und der Karl, begannen, nachdem einmal die Wirtsstube mein täglicher Aufenthalt geworden war, sich angenehm bemerkbar zu machen. Sie halfen, wenn sie von der Schule heimkamen, mich unterhalten, luden mich auf ihre Achseln, was weder die Großmutter, noch die lange Therese konnte, gaben mir eine Art Zeichenunterricht, indem sie mir die Hand führten. Ein Strich mit etwas Wolle darüber ergab einen Baum; ein Punkt mit einem Schnabel davor und Wolle dahinter ein Huhn oder eine Krähe, nach Belieben. Ich hatte sie alle drei gleich lieb, und sie waren mir sämtlich gleich zugetan.

Und eines Tages lernte ich sie begeistert bewundern. Die Großmutter war wieder einmal mit mir zum Steinenbrücklein gegangen. Während wir von dort nach dem unheimlichen Bache in den gefährlichen Abgrund hinunterblickten, erschienen wahrhaftig unten, mitten im Wasser, drei tapfere Burschen, die furchtlos im Bache umhersprangen und mit Stangen in den Uferbäumen herumschlugen (wahrscheinlich gab es dort Haselnüsse). Und wie sie näher kamen, waren es der Ünggeli und der Adolf und der Karl. Jene Stunde lernte ich die Bewunderung kennen. Helden! Von da an war ich stolz auf die drei, mein Herz jauchzte ihnen zu. In der Folge, in meiner Berner Zeit, wenn ich nach Liestal in die Ferien durfte, wurden die drei sogar die Hauptpersonen.

Übrigens war noch ein zweiter Adolf da. Ein kleines Geschöpf, von dem man behauptete, er wäre mein Bruder, von dem ich aber nicht begriff, wozu er nützlich sei; noch weniger, weswegen man solch ein Wesen aus ihm mache wie von mir selber. Ich genügte für mein Bedürfnis, was brauchte ich einen Bruder? Und nicht bloß unnütz war er, sondern mitunter sogar hinderlich. Wenn ich die Großmutter belästigte, wollte er sie ebenfalls belästigen; wenn ich im Kinderwagen gefahren wurde, saß er gegenüber und nahm mir die Hälfte Platz weg, so daß wir uns mit den Füßen bekriegten. Hingegen als er dann auf die Beine stand, so daß er zum Spielkameraden taugte, ließ ich ihn mir gefallen, also zum Beispiel bei der Schneckenjagd. Und eine geradezu erbauliche Szene brüderlicher Eintracht führten wir einmal im Hofe auf. Die Großmutter hatte eine mit Wasser gefüllte Badewanne im Hof aufgestellt, damit der Sonnenschein das Wasser wärme. In diese Badewanne wurden wir beide gleichzeitig hineingesetzt. Nichtsdestoweniger erfolgte jetzt – unglaublich! – kein Zank und kein Platzneid, im Gegenteil, wir jauchzten, patschten und spritzten um die Wette, friedlich, mit vereinten Kräften. Zur eigentlichen, bewußten Bruderliebe jedoch kam es erst in den Schuljahren.

Auf dem Felde

Ein reines, ruhiges, seliges Stücklein Leben ließ mich eines Morgens die Güte des Großvaters genießen. Ich danke ihms heute noch. Er nahm mich auf ein Mättelein jenseits der Gestadeckbrücke mit. Dort arbeitete er irgend etwas, einen Korb mit Eßwaren neben sich; mich ließ er derweilen im Grase herumstoffeln, wohin ich mochte und konnte. Keine Gefahr, daß ich ihm entlaufe, denn mit meinem Alleingehen sah es noch schwach aus. Das saftige Mättelein behagte mir, es war wie eine Insel abgeschlossen, hinten durch einen Weg, vorn durch ein winziges schmales Bächlein, und hinter dem Bächlein schaute das Städtlein Liestal zu uns herunter. Während ich so zufrieden am Rande des Bächleins nach Neuigkeiten schnupperte, ereignete sich ein wundersames Abenteuer. Ein richtiger, echter, lebendiger Storch gesellte sich zu uns, in meiner nächsten Nähe spazierte er im Grase umher, als ob er zu uns gehörte; ich konnte ihn fast mit den Händen greifen. Es war unaussprechlich schön. Und eine lange, lange Zeit dauerte die Wonne, immer von neuem blieb er wieder da. Schade, schließlich flog er doch davon, aufs Kirchdach. Und wir reisten nach Hause, in den gemeinen Alltag. Aber unsäglich schön war es gewesen.

Ein anderes Zufriedenheitsglück verschafften mir meine drei heldenhaften Freunde, die Buben aus der Brauerei. Auf einem Acker des Großvaters, das Gitterli genannt, wurde ich unter einen hohen, schlanken Baum gesetzt, der mir außerordentlich wohl gefiel. Man erblickte nämlich durch den Baum den glänzenden Himmel, und an den Zweigen hingen unzählige Büschel von lieblichen kugelrunden roten Beeren. Siehe, da erschienen der Ünggeli und die beiden Buben des Götti, stellten eine Leiter an den Baum und kletterten in schwindelhaften Höhen mutig darin herum. Erstaunlich und unterhaltlich anzusehen. Das Beste aber kam erst noch. Sie brachten mir von den Beeren herunter, hängten mir sie um die Ohren und ermunterten mich, sie zu essen. Und wahrhaftig, sie schmeckten; schmeckten ausgezeichnet, besser als Zucker. Ein Baum, der einem Süßigkeiten spendet wie eine Urgroßmutter; wenn das nicht ein Wunder ist!

Von jener Stunde her hat mein Herz dem Kirschbaum eine besondere Zärtlichkeit aufbewahrt.

Überhaupt schafft es ja ein ganz anderes Gemütsverhältnis zur ›Natur‹, das will sagen zu den irdischen Dingen unter freiem Himmel, wenn man sie im frühesten Kindesalter erlebt, als wenn man sie erst nachträglich durch Spaziergänge und Ausflüge kennenlernt. Vollends wenn ihre erste Bekanntschaft auf dem Grund und Boden des Familieneigentums geschlossen wird, entsteht etwas wie Seelenverwandtschaft mit den Dingen. Die trauten Gestalten der Angehörigen färben auf das Gefilde ab. Aus diesem Grunde, ich meine, weil ich als kleines Kind die ›Natur‹, also die Landschaften der Erdoberfläche, nie anders als in Gesellschaft der Meinigen gesehen habe, wird mir das, was andere ihr Naturgefühl nennen, zum Heimatgefühl. Der Kirschbaum der Aphrodite, der Nußbaum der Pandora, das Gras des Baldur, das Korn der Mittagsfrau sind auf den Feldern meines Großvaters gewachsen. Das Versetzen haben sie gut vertragen, sogar bis auf den Olymp.

Die Betzeitglocke

Als mein Brüderchen so weit war, daß er nachts keiner Pflege mehr bedurfte, wurde uns Kindern ein besonderes Schlafstübchen angewiesen, hinten hinaus gegen das Läublein, den Hof und das Brauhaus. Ich erinnere mich noch genau, wie ich am ersten Abend nach dem Umzug verwundert durchs Fenster das düstere Brauhaus musterte und in Gedanken zu mir sagte: »So! angesichts dieses finsteren Ungeheuers wird also fortan dein Leben dahinlaufen. Merkwürdig, sonderbar. Eigentlich nicht schön, das Brauhaus, und außer ihm sieht man ja nichts.«

In diesem neuen Schlafstüblein nun gab es jeden Abend beim Auskleiden ein ausgelassenes Freuden- und Freundschaftslustspiel mit Jauchzen, Lachen und Strampeln. Nämlich zum Auskleide- und Waschgeschäft vereinigten sich um uns die drei Liebsten aller Lieben: die Großmutter, Mama und Agathe. Agathe hieß unser Dienst- und Kindermädchen. Die stammte aus dem badischen Schwarzwald, war ein hübsches, stattliches Geschöpf und uns Kindern treu zugetan. Nach der zärtlichen, ich möchte fast sagen, jubelnden Anhänglichkeit zu schließen, die sie uns einflößte, muß sie ein ganz außerordentlich treffliches Kindermädchen gewesen sein. Agathe war uns unentbehrlich, bedeutete uns für sich allein eine ganze Heimat. Galt es in der Folge einen Wohnungswechsel oder eine Auswanderung, so genügte der eine Satz: »Agathe kommt mit«, um uns mit der Veränderung zufriedenzustellen.

Der Freudensturm beim Auskleiden und Waschen mag wohl zum Teil körperliche Ursachen gehabt haben: überschüssiges Gesundheitsgefühl, gereizt durch die Nacktheit und das Wasserplatschen; Hauptsache war indessen das dreifache Freundschaftsglück, die Liebesversammlung.

Unterdessen lag schon der Schlaf in den Betten, uns erwartend. Und kaum waren wir zur Ruhe gelegt, so senkten sich die Lider. Aber nachdem Agathe sich entfernt, die Mutter uns sorgsam zugebettet und mit Gruß und Kuß gesegnet hatte, unersättlich, zu immer neuen Malen, geschah zuweilen noch ein Nachspiel, indem die Großmutter ins Stübchen zurückgeschlichen kam und den bereits halb Schlafenden ein frommes Sprüchlein vormurmelte, das wir ihr nachsprechen sollten. Es kam vor, daß im nämlichen Augenblick die ferne Betzeitglocke leise ertönte. Ihr Ton ist nie in meinem Herzen verklungen, weil er zum Abendsprüchlein der Großmutter das Schlummerlied sang.

Der Vater tritt auf

In der Kinderstube wußte weder der Vater mit uns, noch wir mit ihm viel anzufangen. Anders, als wir sprechen und gehen konnten und männliche, kriegerische Anwandlungen bekundeten. Da hatte er Freude an seinen ›gesunden, urwüchsigen Buben‹ und wir an ihm. Erstens trug er, wie sichs gehört, einen Schnurrbart. Ein Mensch muß einen Schnurrbart haben; fertig. Sodann begeisterte uns seine Stärke, die allerdings außerordentlich, sogar berühmt war. Dann hatte er in seiner Kanzlei Säbel, Flinten, Sporen, das ging noch über die Geißeln des Großvaters. Endlich offenbarte er soldatische Liebhabereien und Kenntnisse, und das war der Gipfel.

War anständiges Wetter, so führte er uns in den Hof und ermunterte uns zum Taktschritt, wozu er kommandierte und durch die Fäuste einen Trompetermarsch blies, alles eingeleitet, abgeschlossen und unterbrochen mit vergnügtem, lautschallendem Lachen. Dem sah einmal der Oberst Sulzberger, ein Freund meines Vaters, zu, hatte sein Ergötzen daran, schenkte mir seine besondere Gunst, setzte mich auf seine Knie und gewährte mir jede Art Spaß und Neckerei, die mir einfiel. Daraus entspann sich ein gegenseitiges Freundschaftsverhältnis, er erkor mich zu seinem Liebling und ich ihn zu meinem Vorbild. Wenn mich jemand fragte: »Was willst du einmal werden, wenn du groß bist?«, so antwortete ich bestimmt, mit fester Stimme: »Ein Oberst Sulzberger.« Durch die Gunst des Oberst Sulzberger fühlte ich mich dem eiteln Soldatenspielen enthoben und unter die ernsthaften Soldaten eingereiht. Denn der Oberst Sulzberger war ein echter Oberst, dem die wirklichen, erwachsenen Soldaten gehorchten, und nicht bloß das, er war der Höchstkommandierende des ganzen Kantons.

Überdies vergönnte uns Papa ein über alle Begriffe herrliches Kunststück, das er eigens für uns ersonnen hatte. Er stellte sich auf das Läubchen, das hinter unserer Wohnung im ersten Stock über den Hof ragte, schickte uns in den Hof hinab und ließ sich vom Ünggeli Bohnenstangen hinaufreichen, während wir schon vor Freuden zappelten. Unter den Bohnenstangen wählte er die längste und stärkste aus, indem er sie der Reihe nach mit den Händen auf ihre Festigkeit prüfte. Die ausgewählte Stange reichte er mir in den Hof hinunter, während er das obere Ende behielt. »Jetzt faß an! fest! aber fest!« Nachdem ich mich mit Armen und Beinen an der Stange festgeklammert hatte, zog er mich durch die Luft zu sich hinauf, indem er stetig mit den Händen tiefer griff; oben angelangt, pflückte er mich auf das Läubchen. Nachher tat er das nämliche mit dem kleinen Adolf, trotz dem ängstlichen Abmahnen der umstehenden Zuschauer. Diese Luftfahrt verschaffte uns solch ein Vergnügen, daß er sie noch oft wiederholen mußte.

Des Dichters Vater Karl Spitteler

Des Dichters Vater Karl Spitteler. 1809-1878

So trat der Vater auf. Leider war es nur ein kurzes Gastspiel. Denn diesen nämlichen Sommer verreiste er im Auftrag der Regierung nach Bern. Und blieb so lange in Bern, daß wir ihn fast ganz wieder vergaßen.


 << zurück weiter >>