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Vierter Teil:
Herbst 1862

»Ich will«

Verfinsterung

In der biblischen Geschichte findet sich, wenn ich nicht irre, der Spruch: »Ein schwarzer Geist kam über Saul, daß er die Lanze nach David warf.« Solch ein schwarzer Geist, so daß ich Lust verspürte, nach meinen Freunden die Lanze zu werfen, kam im Herbste 1862 über mich.

Zunächst nach meiner Heimkehr aus der Winterthurer Pflanzschule hielt das Gefühl des Glückes und der Gehobenheit noch einige Zeit vor. Das erste Mal, als ich Anna wieder begegnete, auf der Straße war es, glaubte ich mich geheilt. »Ach so«, triumphierte ich, »bloß einer kleinen Abwesenheit hat es bedurft, um mein Herz von dem langjährigen Liebesspuk zu befreien?« Als ich aber durch Pepis Gegenwart, der aus Heidelberg in die Ferien heimgekehrt war, genötigt wurde, wiederum fast täglich im Pfarrhause zu verkehren, fiel ich in die alten Geleise zurück, indessen mit einem gewaltigen Unterschied. Was mir früher Schmerz verursacht hatte, bewirkte jetzt, durch den Schmerz hindurch, Grimm. Statt zu ›verzweifeln‹ wie einst, knirschte ich jetzt. Ein unsäglicher Widerwille, ähnlich dem Widerwillen des erfahrenen Patienten gegen den Zahnarzt und seine Zange, beherrschte mich, das nämliche Gleicherlei wie im letzten Winter nochmals durchzukosten. Von neuem Annas freundliches Lächeln, hinter welchem doch keine Spur von Liebe wohnte! Von neuem die Vorlesereien Pepis mit dem Gefolge von blinden Bewunderern, wo ich als eine Null unter vierstelligen Zahlen mitbewundern durfte! Von neuem die Geigereien im Sopran- und Alt- und Baßschlüssel, mit Zuströmen von Krethi und Plethi. Überhaupt das ganze Pfarrhaus, das sich störrisch weigerte, meine philosophische Bedeutung zu erkennen!

Dazu noch Erschwerungen. War Pepi nicht mehr ganz der nämliche wie im Frühjahr? Mir wollte es scheinen. Wir unternahmen eine zweite Wanderung durch Baselland zusammen; die alte Übereinstimmung wollte sich nicht mehr einstellen. Im Pfarrhaus nahmen diesen Herbst die Fremden überhand. Statt des frühern Klavierspiels und der Violinsonaten im Familienkreis gab es anspruchsvolle, kalte Streichquartette. Jeden Sonntag machten der Flüweel und mit ihm der Primgeiger, der Blondeel, das Pfarrhaus unsicher. Nicht mehr aus Eifersucht war ich ihnen gram: ich verabscheute sie als Eindringlinge. Endlich übermannte mich mit den abnehmenden Tagen wieder wie im vorigen Jahre eine schwere Naturmelancholie.

Das alles vereinigte sich zu einer schwarzen Wolke, verfinsterte mein Gemüt und entzündete meinen Zorn. Ich witterte Zusammenbruch und Todesatem, so etwas wie Weltuntergang. Die Witterung übersetzte mein Verstand: nicht Weltuntergang, sondern dein eigener Untergang. Ehe ich aber zusammenbrechen würde, wollte ich die erlittenen Qualen ungerechter Demütigung vergelten, meinen Groll, meine Verachtung aussprechen. Eine ingrimmige Lust überkam mich, jemand zu beleidigen, womöglich die ganze Welt, wenigstens meine Freunde, jedenfalls Anna. Ich weiß nicht, ob ich jemals angenehm gewesen war; sicher ist, daß ich jetzt unausstehlich wurde. Es brauchte die unerschöpfliche Güte und Nachsicht meiner Freunde im Pfarrhaus, um mich zu ertragen und mir nichts nachzutragen. Wohl schämte ich mich über mich selber und strafte und haßte mich; allein ich konnte nicht anders. Es war wie eine Krankheit, wie ein fremder, finsterer Geist. Oh, wie ich den geistumnachteten König Saul verstand, der die Lanze nach seinem Liebling David schleuderte, weil der ihm unaufhörlich sanft lächelnd vormusizierte! Umsonst mahnte mich die Klugheit: »Was wirst du später vor der Welt für eine Figur machen, wenn man erfährt, wie widerwärtig du gewesen bist!« Getrost erwiderte ich: »Entweder aus mir wird nichts, dann erfährt die Welt überhaupt nichts von mir. Oder es wird etwas aus mir, dann wird mein Biograph schon dafür sorgen, daß ich mich lieblich ausnehme.« Schließlich war ich doch gescheit genug, um einzusehen: so kann es nicht weitergehen. Auf diesem Wege gehe ich entweder zugrunde, oder ich werde häßlich. Zugrunde gehen? Meinetwegen, immerhin nicht spurlos. Häßlich werden? Pfui, nein, das nicht. Es mußte daher etwas Rettendes geschehen. Und zwar gleich. Und ich will es geschehen machen. Ich will etwas wollen, etwas unternehmen. Und wohlverstanden, etwas Großes muß es sein, woran ich meine Persönlichkeit fühlen, betätigen und beweisen kann. Allein was? Ratlos, doch entschlossen schaute ich nach Betätigungsmöglichkeiten aus; wie ein in die Enge getriebener Hecht unter dem Wasserfall, der sich umsieht, über welche Felsen er den rettenden Hochsprung versuchen will.

Musiker?

In was für ein Schaffen, in welcherlei Unternehmen mich werfen? Das war die Frage. Eine Lebensfrage; denn es galt, mich aus einer Gemütshölle zu retten. Zum vornherein stand fest: Außerhalb der Grenzen des Schönen gibt es für mich kein Heil, keinen innern Frieden. Davon kann also gar keine Rede sein. Laß sehen, was gibt es für schöne Künste? Maler? Ist schon öfters überdacht worden. Geht nicht; mein Vater erlaubt es nie; alles, nur gerade das nicht. Möchte es auch gar nicht mehr, abgesehen davon, daß ich viel zu alt dazu bin. Habe keine Lust, zeitlebens den Carlo dolce zu spielen, schöne Farben auf eine Leinwand zu streichen, während es inwendig kocht und grollt. Es muß etwas sein, wo ich meine trotzige Seele aussprechen kann. Poesie? Ausgeschlossen, gar kein Gedanke. Das ist nicht dein Fach; da ist der Pepi Meister. Ja, was bleibt dann noch übrig? Musiker?

Kaum hatte mein Gedanke das Wort ausgesprochen, so erfaßte mich die Sehnsucht. Ja, ja, ja, Musiker. Aber nicht Klavierspieler, sondern schaffender Musiker, Komponist. Der Wille öffnete das Tor, und durch das offene Tor, glücklich über die Erlaubnis, fluteten die Töne herein, die bisher im Unbewußten gesummt hatten. Zwei oder drei Oktoberwochen lang war ich Komponist, ergab mich den keimenden Melodien, setzte im Gedächtnis Sonatenthemen und Streichquartettanfänge mit dem Willen fest, versuchte auch, wohl oder übel (vielmehr übel) einige Noten niederzuschreiben. Das war ernst gemeint und ist auch ernst zu nehmen. Denn in der Musik lebt meine Seele, sie war und ist meine Lyrik, aus ihr, und zwar allein aus ihr schöpfe ich meinen Kunstgenuß, sie allein ist mir unentbehrlich; einzig für die Meister der Musik fühle ich persönlichen Dank und Liebe. Daß ich nicht Musiker geworden bin, daran sind einzig äußere Zufälligkeiten schuld. Der Zufall, daß ich in meinen Studentenjahren niemals ein Klavier hatte, daß ich niemals recht Klavier spielen konnte, daß mir niemand Unterricht im theoretischen Teil der Musik erteilte, daß ich nicht Noten zu schreiben verstand, oder nur mühsam und stümperhaft. Eine bezeichnende Anekdote: Als ich im Jahre 1880 meinen »Prometheus« niederschrieb, wobei meine Seele von erhabenen Gefühlen gewaltig wogte, fiel mir gar nicht ein, daß man diese Gefühle in Worten ausdrücken könnte, sondern ich versuchte, die Leutholdschen Gedichte in Musik zu setzen (wieder ohne Klavier). Im Jahre 1865 und 1866 erzwangen sich meine musikalischen Inspirationen sogar den Vorrang über meine poetischen. Kurz, es handelte sich im Herbst 1862 nicht um flüchtige musikalische Velleitäten, sondern um einen echten Willen, und keineswegs um einen hoffnungslosen Willen. Es beweist gar nichts, daß die wenigen Themen, die ich notierte, an Wert gleich Null sind; die Poesie, die ich in den drei nächsten Jahren verübte, war noch viel wertloser, nämlich tief unter Null; und ich bin schließlich doch ein Dichter geworden.

Freilich bekam ich bald die Hindernisse schmerzlich zu spüren, die mir aus dem Mangel jeder musikalischen Vorbildung, jeder Hilfe und Anleitung erwuchsen. Ich erkundigte mich nach Lehrbüchern über die Kunst der Komposition. »Albrechtsberger« empfahl mir Pfarrer Widmann. Aber wer leiht mir einen Albrechtsberger? Einen »Lohe« konnte ich erwischen, einen harmlosen Verfasser, der sich anheischig machte, Dilettanten kurzerhand in Komponisten umzuwandeln. Zum vorneherein mißtrauisch gegen eine solche Metamorphose, sah ich bald ein, daß ich es da mit dem Spielchen eines unschuldigen Menschen zu tun hatte. Eine Ungewißheit vor allem plagte mich: Wenn ich im Geiste einen D-Dur-Akkord höre, so bleibt es der nämliche D-Dur-Akkord, ob ich ihn in die Mittelstufe oder ob ich ihn eine Oktavstufe tiefer oder höher setze. Wer sagt mir nun, auf welche Tonhöhe ich ihn setzen soll? Eifrig bat ich bei Fachmusikern um Aufschluß. Die verstanden meine Zweifel gar nicht. »Das sagt einem das Gefühl.« Ja, indessen bloß unter der Bedingung, daß mans in den Ohren, mit andern Worten in der Erfahrung, im Gedächtnis hat. Mir aber fehlte jegliche Erfahrung. Und dann, ach, der Altschlüssel, den ich für Streichquartette brauchte, wer lehrt mich den? Und noch manche andere Nöte.

In solchen musikalischen Sorgen und Kümmernissen war ich befangen, als ein kleines, unbedeutendes Vorkommnis jäh wie ein Blitz meiner Zukunft eine andere Richtung gab.

Nein, Dichter!

An einem der letzten Oktoberabende, Pepi war schon seit einiger Zeit wieder in Heidelberg, als ich nach beendeter Klavierstunde mich im Pfarrhaus verabschiedete, raunte mir Fräulein Wimmer eine Neuigkeit zu: Pepis »Aristodemos« sei vom Wiener Burgtheater abgewiesen worden und soeben zurückgekommen. Ein grenzenloses Erstaunen überfiel mich. Ein Stück von Pepi, dem Einzigen, Unvergleichlichen, dessen dichterisches Genie wir alle bewunderten, als untauglich zurückgewiesen! Dann steht ja sein dichterisches Genie nicht so himmelhoch über jedem Zweifel. Und wenn er nicht unbestrittener Alleinherr der Poesie ist, dann hat er ja auch kein Monopol; dann ist ja die Poesie kein abgeschlossenes, verbotenes Revier mehr, dann darf gewissermaßen ein jeder –. Und jäh wie der Blitz, hell wie der Mittag, durchfuhr mich ein Gedanke: Das ists, nicht die Musik, nicht die Malerei, sondern die Poesie. In ihr kannst du deinen Trotz, deinen Grimm, überhaupt alles aussprechen, was dich bedrückt und was du zu sagen hast. Und sie bedingt keine technischen Studien, heischt keine Schule, keinen Unterricht, keine Hilfe, keinen Lehrer. Du bekommst es einzig mit deiner Seele und mit deinem Kunstgewissen zu tun. Und noch etwas: hei Glück! du kannst im stillen und geheimen schaffen, ohne daß irgendein Mensch es ahnt. Kein Lehrer, kein Vater kann dich über der Arbeit ertappen, kein Ungläubiger dich mit spöttischem Lächeln beleidigen. Alles inwendig; höchstens vielleicht ein paar stenographische Wörtlein, die niemand lesen kann.

In fieberhafter Aufregung eilte ich nach Hause: »Und jetzt bleibts dabei. Und zwar fürs Leben. Nichts mehr von Zweifel. Und sofort ans Werk, diesen Abend noch, diese Stunde. Einen Nagel in die linke Hand nehmen, den Willen in die rechte Hand, geschwind ein Thema aussuchen, gleichviel welches, und dann mit dem Willen den Nagel durch das Thema schlagen, daß es festhält, und wenn der Teufel daran rüttelte«. Zu Hause war der Tisch fürs Abendessen gedeckt, es mochte ungefähr sechs Uhr sein, die Lampe brannte, Papa und Mama waren noch nicht im Eßzimmer. Also entschließe dich, und zwar sogleich: welches Thema willst du wählen? Daß es eine Tragödie sein mußte, verstand sich von selber. Denn damals galt einzig das Drama für große Kunst. Überdies verlangte ja meine private Katastrophenstimmung das Pathos. Also was für ein Drama? Ein Einfall: Ein Hauslehrer, der sich in die Schwester seines Zöglings verliebt und deswegen mit den Eltern Streit bekommt. Mir scheint, das ginge. Etwa fünf Minuten lang überdachte ich das Thema. Dann verwarf ich es. Das gäbe eine Fundgrube für Geschmacklosigkeiten und Taktlosigkeiten wie weiland dein Potozki. Ein widriger Held, eine hausbackene Luft: fort damit. Etwas Edleres, etwas Größeres, wo man aus dem Stoffe selbst schon Schwung schöpft. Am ehesten etwas Historisches. Ich holte ein altes Schulbuch und blätterte darin. Da fiel mein Auge auf den Namen Saul. »Gefunden!« schrie mein Herz. »Saul, das ist ja mein Ebenbild, der Trotzige, der Meuterer gegen Gott und das Schicksal, der grimmige, finstere Lanzenschleuderer. Triumph! Unter seinem Decknamen kann ich mein Ich darstellen!« Beschlossen, den Nagel durch das Thema. Fertig. In diesem Augenblick trat meine liebe Mama ins Zimmer. Ich ließ mir nichts anmerken, sondern aß ruhig zu Nacht wie gewöhnlich. Aber inwendig fühlte ich den Nagel durch meinen Saul, und aus diesem Gefühl quoll über mein wundes Ich ein mächtiger Trost, etwas wie ein leuchtendes Heilmittel.

Das ist die Stunde, die mich zum Dichter geschlagen hat.

Nachprüfung

Getrost hatte ich mich schlafen gelegt, als jemand, der ein Kind im Herzen spürt; bang erhob ich mich am folgenden Morgen. Sich plötzlich, im Willensfieber, innerhalb einer kleinen Stunde der Poesie auf Lebenszeit verschworen haben! Wie werde ich heute, in nüchternem Zustand, meinen gestrigen Beschluß beurteilen?

Auf der Eisenbahnfahrt mußte ich die Prüfung zurückstellen, der Aufgaben und der Störungen halber. Aber später, in den Schulstunden, und namentlich in den Erholungspausen nahm ich sie vor. Eines wurde mir sofort klar: mein Beschluß, mit dem Verstande beurteilt, war Wahnsinn, ein verrückter, naturwidriger, zur Unmöglichkeit verdammter Einfall. Ich und ein Dichter! Ich, der zur Poesie gar kein Verhältnis hatte, schlimmer noch, der sie nicht liebte, der es nicht über sich vermochte, ein einziges Schillersches Drama zu Ende zu lesen, der an Goethes Faust kein Gefallen fand, dem weder Vergil noch Horaz, noch Sophokles, noch Molière das mindeste Vergnügen, geschweige Begeisterung verschaffte, der die Lyrik verachtete und den Namen Lyriker wie einen Schimpf- und Schandnamen verabscheute, der nicht imstande war, zehn Verse auswendig zu lernen, weder deutsche, noch lateinische, noch französische (mit einziger Ausnahme des griechischen Homer), der nicht begriff, was in der Poesie die Sprache zu tun hat, der nichts von Verskunst wußte (denn das dumme bißchen Jambeln und Hexametern für den deutschen Aufsatz war ja doch bloß verächtlicher Tand), der keine Ahnung hatte, wie es ein Mensch anstellt, um einen Reim zu können – so einer will Dichter werden! Ich hörte im Geiste das Hohngelächter aller meiner Kameraden und Bekannten, wenn sie darum wüßten. Kein Zweifel, es war Wahnsinn, strafwürdige Verwegenheit, ein Ding der Unmöglichkeit.

Dann aber sprang mein Trotz mit geschlossenen Füßen hoch empor. »Just darum, weil es Wahnsinn ist, weil es unmöglich ist, weil ich anerkanntermaßen nicht das geringste Talent dazu besitze, just darum will ich es. Ich will euch einmal an einem Beispiel beweisen, daß das einfältige Gerede vom Talent ein albernes Gefasel ist. Was ihr irrtümlich der natürlichen Anlage zuschreibt, ist eine Charakter- und Gewissenssache. Wer ehrlich ist, so daß er befolgt, was ihm seine Seele zuflüstert, der hat das, was ihr fälschlich Talent nennt, der bringt es in jeder Kunst – merkt euch, was ich sage –, in jeder, gleichviel in welcher, zu etwas Großem. Jenen aber, von welchen ihr aussagt, ihnen fehle das Talent, denen fehlt einfach das Gewissen. Sie sind verächtliche Wichte, die ihre Seele verraten haben. Jeder Mensch kann ein Genie sein, wenn er will; er braucht bloß aufmerksam hinzuhören, was inwendig in ihm flüstert, und das nicht zu verleugnen. Und er soll auch ein Genie sein; wer kein Genie ist, ist ein Krüppel, ein Lump, und zwar ein verächtlicher; denn er liefert hierdurch den Beweis, daß er einmal in seiner Kindheit eine Todsünde gegen die Wahrhaftigkeit begangen hat. Gelt, das klingt euch neu?

Ihr schüttelt eure Ohren? Wohlan, ich will euch beweisen, daß ich recht habe. Paßt auf, was ich euch sage. Daß ich kein sogenanntes Talent zur Poesie von der Natur mitbekommen habe, steht fest, nicht wahr? Nun wohl, was gilts? Ich werde einmal ein großer Dichter sein. Lacht nur und höhnt! Es wird eine Zeit kommen, wo ihr nicht mehr lacht und höhnt. Und zu jener Zeit werde ich euch daran erinnern, daß ihr heute gelacht und gehöhnt habt. Aber natürlich – euch Schwätzer kenne ich –, wenn ich es werde erreicht haben, dann möchtet ihr mit den Gedanken feige Krabbenwendungen machen und behaupten: er hat doch Talent zur Poesie gehabt, nur wußte er es nicht. Darum noch einmal redliche, bündige Antwort: Habe ich poetisches Talent oder nicht? Euer Grinsen sagt ›Nein‹. Gut, an dieses grinsende Nein werde ich euch festnageln. Und nun gehe ich ans Werk, euch zu überführen.«

So lautete an jenem Morgen das Ergebnis meiner Nachprüfung. Mutig, freudig unterschrieb ich meinen gestrigen verwegenen Entschluß und schritt sofort in den Schulstunden an den Plan meines »Saul«.

Aber gut, daß ich einen Mann nicht sah, der hinter mir stand und mich mitleidig anschaute: »Wenn du wüßtest, wenn du vorauswüßtest – ich fürchte, du würdest vor Entsetzen dich mit beiden Händen am Kopfe fassen und Mund und Augen aufsperren wie ein Wahnsinniger, der ein Gespenst erblickt, hernach schaudernd entlaufen und, vor Anna hinkniend, ihr die Hände küssen, dein Gesicht in ihrem Schoße verbergen: Rette mich, du Einzige, du unerschöpflich Gute, rette mich vor dem Sisyphus-Schicksal! Nicht Sisyphus, nicht Dichter sein! Nicht groß werden und berühmt! Nichts sein, nichts werden, sondern der letzte, unbedeutendste, unbekannteste Farbenmaler, hungernd und frierend zuoberst in einem Dachstüblein, herzlich zufrieden, wenn mir gelingt, ein Gesicht halbwegs richtig auf ein Blatt Papier zu zeichnen. Nenne mich wieder Carlo dolce und sage mir, du habest mich ein wenig lieb. Denn ich weiß ja, ob du mirs schon nicht sagst, und ob ichs schon nicht glaube, daß du mich liebhast.« Solche Worte redete der Mann, der hinter mir stand, aus seinen Augen. Glücklicherweise sah ich ihn nicht und hörte ich ihn nicht.

Vorher und nachher, hüben und drüben

Und nachdem ich meinen Beschluß nachgeprüft, gebilligt, mit meiner Unterschrift bekräftigt hatte, machte ich einen langen Strich darunter und zerschnitt mit dem Messer, dem Strich nachfahrend, alle Verbindungen zwischen dem Hüben und Drüben. »Den Menschen, der bisher meinen Namen beansprucht hatte und meine Haut ausfüllte, kenne ich nicht mehr. Ein neuer Mensch hat jetzt das Recht auf meinen Namen und meine Persönlichkeit, einer, der ein Ziel im Auge, einen Willen in der Brust, einen Zorn in der Faust hat. Jener war sanft, gutmütig, weichherzig gewesen: ins Grab mit dem; der andere, der neue, der harte, der zähe, der böse wird hinfort mein Ich sein. Meine gepriesenen Talente, Zeichnen, Malen, Musik und so weiter? Löwe, sperr den Rachen auf, würg mir ohne Gnade diese Hündchen, damit ich gar nichts mehr von ihnen höre. Meine Freunde? Ich brauche, ich will, ich dulde keine Freunde. Ich weiß von nichts mehr als von meinem Plan, meiner Dichtung, meinem ›Saul‹«.

Eine Datumsgravierung, wie sie ein Frischbekehrter einkerbt; es fehlte einzig, daß ich meinen Namen änderte; verbunden mit dem leidenschaftlichen Wunsch, mit der Vergangenheit aufzuräumen, um reinen Tisch, unbeschriebene Fläche für meine Poesie zu gewinnen. Für ›böse‹ hielt ich mich, weil ich Metall geschluckt hatte, weil ich männlich geworden war. Das Auskehren der Vergangenheit brauchte ich zur Fernhaltung aller Störungen, um mich zu sammeln, auch um nicht von unnützen Gefühlen (»Verzweiflungen« und so weiter) entmannt zu werden. Mit der übrigen Vergangenheit verwarf ich meine sämtlichen bisherigen Kenntnisse, die nicht so gering waren, wie man aus meinen Zeugnissen und meinem Unfleiß, meinen Naivitäten schließen möchte. Durch diese Verwerfung und durch die ausschließliche Beschäftigung mit einem einzigen Gedichtplan während dreier Jahre ergab sich dann eine Barbarisierung meines Geistes mit Verengerung des Horizontes, so daß ich eine Zeitlang fanatische und anarchistische Züge bekundete. Zu den verworfenen Kenntnissen gehörten auch die wenigen literarischen, die ich vom Deutschunterricht bei Wackernagel und von meinen Aufsatzübungen her hatte. So unglaublich es klingt, daß ein Mensch gerade in dem Augenblick, wo er sich der Dichtkunst verschwört, seine literarischen Kenntnisse und Fähigkeiten verscharrt, es war so. Ich verstand eben unter »Poesie« etwas so Hohes, so Heiliges, so Inspiratorisches, daß mir das bisherige Jambeln als unpoetischer Plunder erschien. Dergleichen gelangte gar nicht mehr in mein Bewußtsein. Deshalb »konnte« ich, mit dem gemeinen Schriftstellermaßstab gemessen, auf literarischem Gebiet, nachdem ich Dichter geworden war, viel weniger, als ich vorher gekonnt hatte. Der sechzehnjährige Zeichner Carlo dolce war dem zwanzigjährigen »Dichter« gemeinliterarisch weit überlegen. Man vergleiche zum Beispiel die schauerlichen Versversuche des Zwanzigjährigen mit den glatten metrischen Aufsätzen des Sechzehnjährigen.

Natürlich kann es selbst dem stärksten Willen nicht gelingen, die Vergangenheit zu annullieren, die Folgen früherer Ursachen aufzuheben, sein Ich zu halbieren und eine Hälfte wegzuschneiden, die Wurzeln der eigenen Persönlichkeit auszureißen. Ein Psycholog, ein Literaturkundiger, ein Biograph würde wohl herauszufinden vermögen, daß der »Dichter« von dem Carlo dolce keineswegs so grundverschieden war, wie er meinte, wünschte und beabsichtigte, und daß der Neue sein Neues nicht aus dem Nichts, sondern aus dem Alten bezog. Immerhin muß der Augenblick, wo aus dem Patienten ein zielbewußter Willensmensch wurde, als ein Hauptdatum gelten, als ein solches, welches einen tiefklaffenden Abschnitt bezeichnet.

Für mein damaliges Gefühl bedeutet der Unterschied zwischen gestern und heute, ich meine, zwischen meinem Seelenzustand unmittelbar vor und unmittelbar nach dem Entschluß zur Poesie, eine abgrundtiefe Kluft ohne Brücke. Als mir Anfang November auf der Straße nach Bourglibre (heute heißt das Dorf, glaube ich, Sankt Ludwig) der Flüweel begegnete, den ich jüngst noch, vielleicht vor kaum vierzehn Tagen, im Pfarrhaus getroffen hatte, schien er mir wie aus einem fernen, vergessenen Jahrhundert aufzutauchen.

Die ersten Tage meines jungen Dichtens

In fieberhaftem Eifer stürzte ich mich in meinen »Saul«. Zum Erlösungstrieb (Rettung vor Seelennot durch eine Tat), zum jungen Schaffensdrang, zum Willenskrampf gesellte sich noch ein schärferer Sporn: die Angst. Und zwar eine doppelte Angst. Erstens Angst vor der Unmöglichkeit meines Beginnens, da ich mir bewußt blieb, mit dem mir wildfremden Dichten etwas wahnwitzig Verwegenes unternommen zu haben, eine Angst, die mich zeitlebens nie ganz verlassen hat und die mich immer von neuem zittern macht, wenn ich ein größeres poetisches Werk in Angriff nehmen soll. »Das kannst du ja nicht!« ruft es jedesmal. Zweitens die Todesangst, die buchstäbliche, die Angst vor dem bevorstehenden leiblichen Tode. Ich hatte nämlich in letzter Zeit soviel Katastrophenahnung gewittert, so viel Todesodem geschluckt, daß ich, ohne einen körperlichen Grund dazu zu besitzen, felsenfest davon überzeugt war, ich müßte in den nächsten Monaten sterben. Nun schreckte mich der Tod an sich nicht im mindesten, aber eines trug mein Gedanke nicht, sterben zu müssen, ehe ich ein Werk geleistet. Mein »Saul« wurde ursprünglich von mir als Testament eines Sterbenden gefühlt, das nach meinem Tode von mir zeugen sollte, genau wie später mein »Olympischer Frühling« (man merkt ihms nicht an, weil durch die Schöpfertätigkeit Auferstehung des Verfassers geschah). Mein Dichten am »Saul« war mithin in meinen Augen ein Wettlauf mit dem Tode. Dadurch kam die fiebernde Angst in mein Schaffen, dadurch wurde mein Dichten tragisch. An welchem Datum ich sterben würde, sagte mir meine Ahnung nicht genau; aber ich meinte zu wissen, daß mein Werk spätestens zu Weihnachten vollendet sein müsse. Also beschloß mit leidenschaftlichem Schwur mein Wille: Zu Weihnachten wird mein »Saul« fertig sein, ob sich die Schwierigkeiten himmelhoch türmten. Zur Bekräftigung dieses Beschlusses erwählte sich mein Wille ein Symbol. In Basel, draußen vor dem Sankt Albantor an der Sankt Jakobsstraße sah ich Maurer den Keller zu einem neuen Hause bauen. »Omen!« rief ich. »Ehe ihr euer Haus unter Dach bringt, schaffe ich meinen Saul zu Ende.« Aber bald bekam ich Ursache, die Maurer zu beneiden. (»Der Neubau« in meinen Balladen.)

Das »Dichten« selber übte ich auf eine ungewöhnliche Weise. Ich suchte nämlich nicht im Kopfe mit dem Geiste, sondern schöpfte im Freien draußen mit den Augen, mit der Ahnung, mit dem Geruch (ja, wirklich mit dem Geruch) Weltwitterung und Wahrheitsodem, aus den Wolken, aus den Feldern, aus den Rheinufern, aus allen Weltgegenständen, allen Luftbewegungen, allen Lichtspielen, schöpfte so lange mit starren Blicken, bis Bilder am Himmel hervorleuchteten. Also das nämliche Verfahren, wie es früher der Orpheus, der Philosoph am Steinenbrücklein geübt hatte; nur daß es diesmal nicht auf Gedanken, sondern auf Bilder abgesehen war, und daß nicht der Lange Hag bei Liestal, sondern die Umgegend von Basel den Schauplatz hergab. (Im Winter nützte das Steinenbrücklein nichts, weil finstere Nacht herrschte, wenn ich abends heimkehrte.) Mein »Dichten« war also ein Ablesen von Offenbarungsbildern. Die Offenbarungsbilder wurden mir aber nur im Freien geschenkt, nie in den Häusern; deshalb lief ich täglich nach dem Mittagessen weit vor die Tore der Stadt, am öftesten durch Klein-Basel hinaus, aber auch gegen Bourglibre, gegen Sankt Jakob und so weiter ins Weite und Unbekannte, soweit als die freie Zeit zwischen den Schulstunden reichte. Wenn ich dann von meinen Dichterzügen in die Stadt zurückkehrte, kam ich aus einer andern Welt; jedes Haus der Vorstadt, einen Fabrikkanal, alles und jedes begrüßte ich mit Staunen als eine Merkwürdigkeit, als ein Erdenwunder, als etwas, das Weltseele enthält. Das nannte ich »Dichten«. Daß es etwas anderes war, als was sonst die Menschheit Dichten nennt, ist klar; daß auf diese Weise nie ein Drama zustande kommt, geschweige in anderthalb Monaten, ist selbstverständlich, daß, wer das Dichten so anfängt und fortsetzt, erst mit seinem fünfunddreißigsten Jahre dazu gelangt, sein erstes Buch zu schreiben, ist begreiflich.

Wenn es aber nicht ein Dichten war, was ich da trieb, was war es dann? Ich bekenne meine Ratlosigkeit, dafür den richtigen Namen zu finden. Jedenfalls war es, ob noch so unzweckmäßig, etwas Erhabenes. Davon zeugt die Spur, welche jenes rätselhafte Treiben in meinem Herzen hinterlassen hat. Noch manches Jahr nachher spürte ich jedesmal, wenn der Oktober sich zum November neigte, das sehnsüchtige und wehmütige Verlangen nach Wiedergewinnung jener Seelenhöhe, auf der ich mich in den ersten Tagen meines jungen Dichtens befunden hatte. Noch im Sommer 1868, als schon der »Prometheus« in meiner Seele keimte, saß ich an einem trüben Tage, der in der Lichtstimmung dem trüben November 1862 glich, auf einer Rheininsel bei Mannheim (ich glaube, »Au« hieß sie), in der Hoffnung, daß vielleicht die nämliche Naturstimmung ähnlich gewaltige Offenbarungserscheinungen erzeugen könnte, wie dazumal beim jungen »Saul«. Und als das nicht gelang, glaubte ich mich gesunken und verworfen.

Von der tragischen Höhe meines damaligen Lebensgefühls zeugt ferner der Umstand, daß die kleinen begleitenden Alltagsvorkommnisse sich wie wichtige Ereignisse in mein Gedächtnis eingruben, daß in Traum und Wachen mich symbolischer Odem, der Nachhauch meines »Dichtens« umwehte. In der zweiten Nacht nach meinem Entschluß, Dichter zu werden, sah ich im Traum Anna in einem Hohlweg mir entgegenkommen und mich mit wehmütigen Augen anschauen: »Warum gehst du an mir vorüber?« fragte mich ihr Blick. Traurig erwiderte ich: »Liebe Anna, lebwohl, ich ziehe jetzt einen andern Weg.« Einige Wochen vorher hatte ich mich mit einem Basler Lehrer und Organisten zu gemeinsamem Gitarrenspiel (»vierhändig« kann ich nicht wohl sagen) verbündet, infolge seines Inserates, der einen Mitspieler suchte. Das erste Mal, daß ich nach meinem Dichterentschluß wieder mit ihm zusammenkam, spielten wir zusammen aus seinen Noten einen Trauermarsch von Beethoven oder angeblich von Beethoven (ich habe zwar die Töne nach fünfzig Jahren noch im Ohr, kann sie aber nirgends bei Beethoven unterbringen). Diesen Trauermarsch legte ich als meinen Grabgesang aus; denn mein »Saul« wollte ja mein Testament bedeuten. Von dem symbolischen Neubau an der Sankt Jakobsstraße habe ich schon erzählt, auch von der Begegnung mit dem Flüweel auf der fernen, einsamen pappelumsäumten Bourglibrestraße. Wir begrüßten uns freundlich, er überrascht, mich hier zu treffen, ich so erstaunt, als ob ich einen längst Verstorbenen erblickte. – Eines Abends saß ich bei meinem kranken Großvater, der schon die Schatten des nahenden Todes spürte. Ich half ihm Maiskolben schälen, bei welcher Gelegenheit mein Vater sich darüber ärgerte, daß ich beständig Mais und Reis verwechselte. Der Großvater und ich miteinander im fahlen Dämmerlicht Mais (nicht Reis) schälend, von denen der eine wie der andere bald sterben muß, auch dieses Bild grub sich zu lebenslänglicher Gegenwart in mein Gedächtnis. – Und warum gelingt es mir nicht, den nichtswürdigen Umstand zu vergessen, daß am ersten Abend meines »Saul«, als mein Entschluß noch keine vier Stunden alt war, Böllerschüsse zur Feier einer Hochzeit ertönten und ich dabei an ein altes schwarzes Pferd denken mußte, das mit hangendem Kopf neben dem Kanönchen stand? Ich weiß, warum es mir nicht gelingt. Weil jene Tage dermaßen mit tragischem Pathos getränkt waren, daß es für mich überhaupt nichts Unbedeutendes in der Welt gab. – Was ist denn zum Beispiel an sich dabei, daß ich einmal während meines »Dichtens« bei Kleinhüningen über den Rhein her die Trompetensignale der französischen Dragoner vernahm? Und doch hat mein Gefühl das wie ein gehaltvolles Ereignis gebucht. Kurz, ich lebte so, als ob ich die Erde zum ersten Mal erlebte.

Ein Vorfall aber hatte mehr als bloße Stimmungsbedeutung. Von einem meiner Dichterzüge zurückkehrend, kam ich durch die Langen Erlen. Dort trat ein Schulkamerad aus dem Busch, der mir ein Geheimnis anvertraute. Er hatte soeben beschlossen, ein Epos zu dichten, das die Vorzüge Homers und der Nibelungen vereinigen würde. Oh, wie ich mich da schämte! Und mit einem grimmigen Fluch verschwor ich mich, nicht diesem schauerlichen Großhans zu gleichen, sondern echt, mit demütigem Kunstkummer zu schaffen, unbesehen wie viel Zeit es koste.

Schluß

Auf diesem Wege ist es geschehen, daß aus dem Carlo dolce, Orpheus, Sokrates, Antireligionsstifter, Musikaspiranten schließlich das hervorging, was ihm am fernsten lag: ein Dichter. In der Not der Verzweiflung durch den Willensbeschluß einer einzigen Stunde, der seinen Naturanlagen, seinen Fähigkeiten, seinen Neigungen, seiner Vergangenheit bewußt und absichtlich widersprach. Und daß sich niemand unterstehe zu behaupten, ich sei unter allerlei Masken von Kind auf ein Dichter gewesen; sonst hat er es mit mir verscherzt. Jedes Kind ist freilich ein Dichter. Vielleicht war ich einst mehr Kind als andere; jedenfalls blieb ich es länger, da ich es immer geblieben bin.

Die Aufgabe für mich, nachdem ich mich erneut der Dichtkunst verschworen, war nun, aus einem ›Dichter‹, wie wir ihn beim »Saul« kennengelernt haben, ein wirklicher Dichter zu werden. Zur Lösung dieser Aufgabe brauchte ich nicht weniger als achtzehn Jahre, von 1862 bis 1880. Warum ich hiefür so lange Zeit brauchte, das zu erklären überlasse ich meinem Biographen. Unter den Tausenden von Hindernissen, die ich zu überwinden hatte, war wohl das größte mein natürlicher Haß gegen das Schreiben, verbunden mit meiner Verachtung der Sprache. Ein Künstler, der an einem angeborenen Widerwillen gegen die Kunstmittel leidet, in welchen er sich ausdrücken soll: eine eigentümliche Erscheinung. »Schriftsteller!« Wenn man wüßte, wie ich mich sträube, wie ich knirsche, so oft ich gezwungen bin, eine Feder in die Tinte zu tauchen!

Von meiner Verachtung der Sprache eine Probe: ich dachte einen Augenblick daran, meinen »Prometheus« in geometrischen Hieroglyphen, grün und rot gemalt, niederzuzeichnen. (Dabei war ich mit einer ansehnlichen Leichtigkeit für die Erlernung fremder Sprachen begabt, so daß mir jemand nach meinem Staatsexamen sogar den Gedanken an eine hebräische Professur suggerieren wollte.) Damit ich meinen Haß gegen das Schreiben zu überwinden vermochte, hatte das Schicksal die stärksten Trümpfe nötig: Tod und Verzweiflung. Mein erstes zusammenhängendes, lesbares Manuskriptbruchstück (die Wanderszene im »Prometheus«) entstand, als ums Ende des Jahres 1873 mein Freund Widmann schrieb, der Arzt habe ihn soeben zum Tode verurteilt, und in diesem Briefe wehmütig darüber klagte, sterben zu müssen, ehe er meinen »Prometheus« erlebt. Die Niederschrift und Veröffentlichung meines »Prometheus« erfolgte, weil mich im Februar 1879 vor einem Münchner Schaufenster eine gräßliche Reue gepackt hatte, nicht Maler geworden zu sein. Ohne solche gewaltsame Hilfe hätte ich es vielleicht nie über mich vermocht, mit meinen natürlichen Feinden, Feder und Tinte, den Versöhnungsbund zu schließen.

Ein weiterer innerer Erschwerungsgrund war mein steifer Eigensinn. Keine noch so schmerzlichen Erfahrungen konnten mich davon abbringen, alles einzig auf dem Visionswege von innen heraus schöpfen zu wollen, keine Belehrung zu suchen, nichts zu lesen. (Bis auf den heutigen Tag kenne ich von den deutschen Klassikern nur das, was ich als Sechzehnjähriger und Siebzehnjähriger gelesen hatte, und das war nicht viel.) Wohl lag mir Goethes Spruch vom »Narren auf eigene Faust« in den Ohren, allein er hielt mich nicht ab. Just dieser Narr wollte ich sein. Fragt sich, was dabei herausgekommen ist.

Endlich mein Schamgefühl, das mir verbot, mit einem unvollkommenen Werk an die Öffentlichkeit zu treten. Ich war Künstler gewesen, bevor ich mich der Poesie widmete; als Künstler aber war ich von der Überzeugung durchdrungen: wer sich der Welt vorstellt, muß etwas Meisterhaftes können, und ehe er etwas Meisterhaftes kann, soll er sich im Versteck stille halten. Denn ob ich schon keinen Lehrer anerkannte, wußte ich mir doch einen Zuchtmeister: Beethoven. Ich hielt mir sein Opus 1 zur Strafe vor Augen und befahl mir, daß auch mein Opus 1 eine Leistung sei und nicht bloß eine vielversprechende Talent- oder Genieprobe. War das Hochmut? Ja, der Mut, nach dem Höchsten zu streben. War das Stolz? Ja und nein: Der Stolz der Bescheidenheit.


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