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Aus den Basler Schuljahren

1857-1863

Trommelfreuden

Es begab sich eines Herbsttages, daß ich mich klipp und klar weigerte, mit der hölzernen Trommel, die ich den Sommer über vor dem Steinentor auf dem Bruderholz spazieren geführt, ferner auf der Straße zu erscheinen. Der Anblick dieses Instrumentes war nämlich als eine Beleidigung Basels aufgenommen und ich selber mit Hohn und Drohungen empfangen worden, wo ich mich zeigte. Es mußte also eine metallene Trommel her, oder ich verzichte hinfort in alle Zukunft auf die Musik. Ein ähnliches Zurückweichen vor dem Allgemeinurteil ist mir in der Folge selten mehr begegnet, doch damals war ich eben ein Schulbub, und nirgends herrscht ja die öffentliche Meinung tyrannischer als in den Schulklassen.

Gut, der hölzerne Kübel, die Ursache so mancher Tränen, verschwand, und unter dem Weihnachtsbaum glänzte der ersehnte funkelnde Trommelkessel. Nun gelte es aber auch, sich des Geschenkes würdig zu zeigen, hieß es; von fernerem dilettantischem Poltern könne jetzt nicht mehr die Rede sein, sondern man müsse die Kunst systematisch angreifen, mit Fleiß und Regel, kurz mit einem ordentlichen Trommelkursus. Erkundigungen ergaben, daß zur Zeit unbestritten der erste Trommellehrer Basels ein Veteran namens Trutzig sei. Der wohnte in der Äschenvorstadt, in einem Winkelchen neben dem Sternengäßchen; seine Wohnung bestand aus einem einzigen engen Schlafstübchen zu ebener Erde, nach der Straße. Außerdem hatte er noch im Hofe eine Glasgalerie zu seiner Benutzung. Bei Trutzig anzukommen, war indessen selbst gegen gute Bezahlung nicht leicht, denn er hatte seine freie Zeit mit Schülern überfüllt. Item, es gelang; ich wurde von dem Meister angenommen, und es lag nunmehr bloß an mir, ein Virtuos zu werden. Die ersten Lektionen waren Privatissima. Vor allem wurde mein Instrument geprüft und ziemlich abfällig beurteilt; es war zu klein, zu wenig individuell und vor allem zu neu. Eine gute Trommel müsse eingespielt sein wie eine gute Violine. Die Schlegel wieder seien zu klobig, die Beeren zu rund. Nun, für den Anfang könne es zur Not genügen, später, bei allfällig erworbener Meisterschaft, werde sich auch eine würdige Waffe finden lassen. Dann ging es an die Belehrung über das Aufziehen des Instrumentes. Wie fest man die Saiten schrauben müsse, auf welche Weise die Strippen anzuziehen seien, damit das Trommelfell elastisch gespannt werde, nicht zu hart und auch nicht zu matsch. Um gleichmäßige Spannung an allen Orten zu erzielen, galt es, je einen Doppelstrick zu überspringen, die übersprungenen später nachzuspannen und überhaupt wiederholt nachzuhelfen. Jetzt kam die Haltung der Schlegel, der Hände und der Arme an die Reihe, wie beim Klavierspiel. Es wurde die Wichtigkeit der linken Hand auseinandergesetzt, welcher die Führerrolle beim Trommelspiel zufalle, und eine kurze Theorie der Elastizität entwickelt; die krampfenden Finger löste der Lehrer in erschreckender Weise einen um den andern, so daß der Schlegel aus der offenen Hand glitt und auf den Boden purzelte. So, das wäre das Richtige, nur müsse man selbstverständlich die Schlegel in der Hand behalten. Endlich kam die ersehnte Erlaubnis, den ersten Bum zu verüben, natürlich nur mit dem einen Schlegel; denn beide Schlegel zugleich, das ist schon eine höhere Stufe. Halt, der Schlag war nicht richtig; der Schlegel muß nach dem Schlag von selbst in die Luft zurückfliegen, sonst erhält man niemals einen schönen weichen Anschlag. Also noch einmal. Halt, wiederum falsch. Und so weiter, eine Viertelstunde lang, erst mit der linken, dann mit der rechten Hand. »Genug und übergenug für die erste Stunde; übe jetzt das tüchtig zu Hause und präge dir alles ein, was ich dir gesagt habe; in der zweiten Stunde, wenn es gut geht, können wir vielleicht versuchen, zwei Schläge hintereinander auszuführen.« Die zweite Stunde kam mit ihren zwei Schlägen, hernach die dritte mit den ersten schüchternen Versuchen, das Spiel der linken Hand mit demjenigen der rechten zu kombinieren, endlich der ebenso berühmte wie gefürchtete Wirbel, das »Papa-Mama«, wie es der Trommler nennt und das man die Rekruten stundenlang hinter den Weidenbüschen üben hört, während das Bataillon auf der Allmend exerziert. Erst getrennter Wirbel in langsamstem Tempo, hernach etwas schneller, aber bei der geringsten Pfuscherei sofort zurück ins Larghissimo. Der Wirbel sei für den Trommler, was die Tonleiter für den Klavierspieler; man müsse ihn täglich üben, und niemand lerne ihn jemals völlig aus. Allmählich verbanden sich damit die einfachsten Elemente des rhythmischen Spieles, die verschiedenen ›Streiche‹, später die Figuren und Motive. Unter den Streichen hatte Trutzig einen besondern Liebling, den er zu einer Virtuosität ausgebildet hatte, in welcher ihm niemand nachkam: den Schleppstreich. Der bestand in einem unmerklichen Nachschlagen des rechten Schlegels, wodurch erstaunliche musikalische Wirkungen erreicht wurden. Zwei Wochen mochten auf diese Weise mit vorbereitenden Übungen vergangen sein, ehe ich den ersten Marsch vornehmen durfte. Der wurde aber auch mit wichtigen Belehrungen eingeleitet. Vor allem müsse man sich vor dem bösen Beispiel hüten, nämlich vor der abscheulichen Pfuscherei des militärischen Dilettantismus, welcher eine Zusammensetzung aller nur möglichen Greuel und Fehler sei. Ein Trommler, der auf sich hält, spielt immer Andante grave; der verdammungswürdige Eilschritt eines marschierenden Bataillons genügt für sich allein, um einen Trommler gründlich zu verpfuschen. Und dann ums Himmels willen die Endsilben des musikalischen Satzes deutlich hervorzuheben, woran man am sichersten einen Trommler von Talent und guter Erziehung von einem militärischen Stümper unterscheide. Endlich: die halbbetonten Werte nicht flüchtig hinwerfen, den rollenden r jederzeit ihre unverkürzte Länge gönnen und den Akzent nicht über die Gebühr markieren, wie wenn ein Deutscher französisch spricht, sondern alles, was man zu sagen hat, hübsch, ruhig und deutlich aussprechen. In der Tat ist mir der Abscheu vor den gerügten Fehlern dermaßen ins Blut übergegangen, daß ich heute noch vor Ingrimm über die Pfuscher aufjucke, wenn ein Bataillon unter meinen Fenstern vorübertrommelt.

Das war der private peinliche Vorunterricht, nach welchem das kurzweiligere Zusammenspiel an die Reihe kam. Paarweise oder auch in kleinen Gruppen wurden wir in die Glasgalerie hinauf zur Übung geschickt, während der Meister selbst unten im Schlafzimmer einen neuen Anfänger nachholte. Neben der Glasgalerie wohnte aber ein Brotbäcker, dessen Gesellen einen Nachmittagsschlaf zum Ersatz für die fehlende Nachtruhe abzuhalten gedachten; da setzte es denn zuweilen einen harten Strauß mit den Bäckern ab, bei welchem übrigens die öffentliche Meinung auf unserer Seite war.

Je näher die Fastnacht heranrückte, desto mehr konzentrierten sich die Schüler zu Gesamtausmärschen im Schlafstübchen unter des Meisters eigener Leitung. Schließlich standen wir in zwei dichten Reihen vor dem Bett Front gegen Front und vollführten einen Höllenspektakel; Trutzig hatte seine Riesentrommel auf einem Strohstühlchen in der Mitte aufgepflanzt, und wenn die Sache gut lief, gewährte er uns die Gunst, mitzutrommeln, unbeschadet seiner scharfen Direktion und Aufsicht. Das Entzücken hätte man sehen sollen, wenn er die Schlegel ergriff und eigenhändig mithalf, wohl gar in den Pausen künstliche Verzierungen im Schleppstreich phantasierte! Es war eine wundersame Trommel von weicher sonorer Stimme, die jede andere Trommel übertönte und zugleich die verschiedenen Instrumente wohltuend vereinigte. Sie war dermaßen abgespielt, daß das Fell ganz braun und schwarz aussah, überdies pelzig anzufühlen, denn wir erhielten zuweilen die Erlaubnis, sie anzurühren, mit der flachen Hand darüberzustreichen und wohl gar, wenn wir unsere Sache ausgezeichnet gemacht hatten, ein paar Schläge darauf auszuführen. Er selbst liebkoste jedesmal das geliebte Instrument, indem er es abstäubte wie der Trinker die bestäubte Weinflasche. Während des Spieles beugte er sein runzliges, zahn- und augenloses Gesicht, welches nur mehr aus Falten bestand, immer tiefer auf die Trommel, um den geliebten Ton in der Nähe mit dem Ohr einzuschlürfen. An der Generalrepetition am Samstag vor Fastnacht durften wir Pfeifer zuziehen, welche weiß Gott wo in dem Stübchen Platz fanden und ihr Gequieke in das Gepolter mengten. Und zum Abschied gab uns der Meister ein Konzert zum besten, die ›Tagwacht‹, aus lauter Wirbeln mit Schleppstreichen zusammengesetzt, Solo und Orchester, mit knatternden, prasselnden Akzenten, daß einem vor Bewunderung der Atem verging.

So bereitet man sich in Basel auf die Fastnacht vor. Für Humor ist da wenig Platz, es ist den Leuten gründlicher, musikalischer Ernst mit der Trommelei. Man kontrolliere nur einmal die Zuhörer im Innern der Häuser. Herren und Damen sitzen um den Kaffee und um die Fastnachtsküchli. Man ist schon blasiert, man hat die verschiedenen Züge schon wiederholt gesehen und läßt draußen pfeifen, trommeln und trompeten, wer und was da mag. Plötzlich heißt es: »Wer ist das?«, und sämtliche Herren eilen ans Fenster. Es sind vielleicht nur vier Mann in blauen Blusen mit roten Nasen. Aber sie trommeln, daß dem Kenner das Herz aufgeht und daß er unwillkürlich begehrt, die Personalien der Meister zu erfahren. Auch bei den Kadettenmanövern sieht man nicht selten einen bejahrten Kaufmann oder Bankier andächtig den Trommelübungen zuhören, den besten Trommler auszeichnen und ihn um eine Separatvorstellung der ›Tagwacht‹ bitten.

Nicht nur Virtuosität, sondern eine Art tiefern Ausdruckes, ich möchte sagen Lyrik, wird im Trommelspiel erstrebt. Der Schulknabe jedenfalls empfindet diese primitive, aber keineswegs leichte Musik als Poesie. Ich erinnere mich gar wohl noch eines schönen Frühlingsferientages im April, da ich in meiner Eigenschaft als Kadetten-Tambourmajor im Zeughause um eine ausgesuchte Ferientrommel vorsprach, diese mit gewohnter baslerischer Liberalität zugesprochen erhielt und nun glückselig eine Tagereise in die blühende Mailandschaft unternahm, durch Wälder und Auen, allezeit auf der Trommel phantasierend und dabei der heimlich Geliebten gedenkend. In Rheinfelden auf der Brücke, an der Kantonsgrenze, knurrte mich der Zollwächter an: »Wohin mit der Trumbe?« An dieser verständnislosen Frage merkte man, daß es hier in barbarische Länder überging, und der Frager wurde mit geziemender Verachtung abgefertigt. Das waren meine ersten lyrischen Ergüsse: auf der Trommel in den Frühlingswäldern. Als Muster zur Nachahmung möchte ichs nicht preisen, auch nicht die Trommel als ebenbürtige Spezialwaffe der Dichtkunst neben die Leier stellen. Ob aber solche geräuschvollen Torheiten nicht harmloser und gesunder und ersprießlicher seien als die vorzeitige Reimerei, diese Frage getraue ich mir wohl aufzuwerfen.


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