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»Darf ich zum Christen?«

Es sind nun gerade sechzig Jahre her – wir besuchten zusammen die Wengerschule in Bern –, daß ich mit Gottlieb Christen, den wir leider jetzt als einen Hingeschiedenen betrauern müssen, Bekanntschaft und allmählich Freundschaft schloß; eine innige Freundschaft mit gegenseitigem Bevorzugungscharakter, so daß unsere Zusammengehörigkeit wie etwas Selbstverständliches betrachtet wurde. Sie hat denn auch die ganze Zeit, da ich in Bern wohnte, bis Ende 1856, treulich fortgedauert, ist nie aus unsern Herzen verschwunden und hat das ganze Leben hindurch, so selten auch später unsere Begegnungen stattfanden, ein unmittelbares, durch gemeinsame Erinnerungen verklärtes Gemütsverhältnis gezeigt.

Was mich zu ihm besonders hinzog, war seine Gutmütigkeit, Freundlichkeit und Anhänglichkeit. Ich glaube nicht, daß wir uns ein einziges Mal während der sechs Jahre unserer Freundschaft gezankt haben, was bei gesunden, kräftigen Schulbuben viel sagen will. Sonst waren die Fäuste immer kampfbereit. Die Freundlichkeit war bei ihm ein Familienerbteil. Auch wenn man zu Gottliebs Vater im Eisenladen vorsprach, etwa um einen Auftrag an den Gottlieb zu übergeben, blickte einen ein wohlwollendes, treuherziges Gesicht an; man durfte die vielen Sehenswürdigkeiten seines Ladens anstaunen, er zeigte einem das wunderbare Erdbebeninstrument, das durch magnetische Künste die Erderschütterungen voraussagte wie ein alttestamentlicher Prophet, und dergleichen. Ich habe das liebe, gutmütige, behäbige Berndeutsch des alten Christen noch in den Ohren.

Und dann war noch etwas, was im Kindergemüt auch eine Rolle spielt: die abenteuerliche, märchenhafte Behausung, in welcher Gottlieb wohnte, eine Szenerie, wo man bei den Besuchen immer etwas zu spielen und zu entdecken fand. Die Langeweile, der Fluch des Kindesalters, kam dort nicht auf. Er wohnte in der Matte, im Marzili. Dort war ein Platz, neben der Aare, mit Kornhäusern oder Mehlhäusern oder Mühlen oder so etwas umstellt, und auf einer Seite stand ein himmelhohes Haus, ein wahrer Wolkenkratzer (nach meinen Kinderdimensionen gemessen); hoch oben in diesem Hause wohnte der Gottlieb Christen. Neben der Wohnung war ein Läubchen oder eine Terrasse, wo einem Gottliebs Mutter Konfitüre zum besten gab. Nach der Konfitüre aber begab man sich hurtig auf den Platz hinunter, um Entdeckungsreisen bei den Speichern und Mehlsäcken auszuführen. Der Verkehr auf dem Platz war nicht bedrohlich; man tummelte sich dort frei von Gefahr wie auf einem Privatraum herum. Nur die Brücke, die von dort auf eine Insel führte, wurde uns strenge verboten zu betreten; beim ersten Schritt auf die Brücke wurden wir weggejagt.

Mein Gemüt sagt mir, daß wir, mein Bruder und ich, viel Schönes und Liebes in jenem Haus erlebten; auch weiß ich gar wohl, wie jedesmal, wenn wir uns zu Hause langweilten – Kinder langweilen sich ja immer, wenn sie nicht mit Kameraden spielen können –, wir das Gebettel anstimmten: »Dürfen wir zum Christen?« Der Bitte wurde auch immer entsprochen, und der lange Weg vom Zimmerplatz bei der Linde bis zur Matte dünkte uns nicht zu weit, um in das Haus Christen zu gelangen, wo man so viele Abenteuer, so gute Konfitüren und niemals ein schmälendes Wort zu erleben bekam. Freilich, wenn ich nun die vergnüglichen Erlebnisse im einzelnen erzählen wollte, so käme ich in Gedächtnisverlegenheit. Nur zwei Szenen schweben mir so deutlich vor Augen, als hätte ich sie gestern erlebt: Die wundervolle ›Laterne-maschike‹ (Lanterne magique), die uns Gottliebs Mama einmal genießen ließ, mit der bangen Besorgnis, wir würden uns vor den gespenstigen Bildern fürchten (warum nicht gar, wir waren tapfer!). Zweitens das wunderbare Bilderbuch, das mir der Gottlieb einmal zeigte, als er krank zu Bette lag. Männer und Frauen im Hemde oder sogar ohne Hemd (klassische Kunstblätter)! Das seien Griechen, belehrte mich Gottlieb auf mein verblüfftes Gesicht; in dieser Tracht sei man vor zweitausend Jahren in Griechenland umhergelaufen, und das hätte man damals für schön gehalten. »Ah, du bist also auch ein Grieche!« rief ich, als er beim Abschied mich im Hemd an die Tür begleitete.

Carl Spitteler als Kadett

Carl Spitteler als Kadett. 1856

Dummes, kindisches Zeug, nicht wahr? Aber gibt es denn auf Erden viele Dinge, die dem Herzen besser schmecken als das dumme, kindische Zeug von dazumal? Aber heute kann ich leider nicht sagen: »Darf ich zum Christen?« Er ist weit weg, der liebe, gute Gottlieb. Ja, wenn mans vorausgewußt, wenn man daran gedacht hätte! Dann hätte man wohl den Weg nach Bern zum Christen öfters gefunden! Allein, wem geht es anders? Mag das Alter noch so mahnen, man glaubt es doch nicht, und jeder Todesfall eines Freundes schreckt in die Trauer zugleich einen Vorwurf.


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