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Poetische Lehrjahre

Die Musik mein Zuchtmeister

Als ich einst, ein Siebzehnjähriger, mit einem bestimmten Willensschluß, den ich genau nach Stunde und Ort datieren kann, mein Leben der Poesie widmete, wer war ich da? was besaß ich und was besaß ich nicht? was brachte ich mit?

Ich war ein über alle Maßen eigensinniger Mensch, der jede äußere Einwirkung ablehnte, ja verabscheute, fest entschlossen, alles von innen zu holen und zu lernen. Das war ich und das bin ich noch, ich habe niemals weder Vorbilder noch Lehrer für meine Poesie gehabt. Ich besaß eine verschwindend kleine Kenntnis poetischer Werke; von den deutschen Klassikern hatte ich nur weniges gelesen, mit scheuer Hochachtung, aber mäßiger Begeisterung. Ich besaß auch kein Verständnis und wenig Liebe zu den antiken Klassikern, mit welchen man mich auf dem Gymnasium quälte. Ich verspürte sogar eine gewisse Abneigung gegen die Poesie; im Drama mochte ich die Reden nicht, die Lyrik erfüllte mich mit Ekel. Wozu in der Poesie die Sprachkunst diene, das ging über meine Begriffe. Das war meine poetische Ausrüstung.

Dagegen brachte ich mit: im allgemeinen eine demütige, heilige Verehrung der Kunst, so daß ich es für eine Schande hielt (und noch halte), in den Künsten etwas Unvollendetes, geschweige etwas Mißlungenes von sich zu geben; das galt und gilt mir für schlimmer als silberne Löffel zu stehlen. Ferner brachte ich mit: einen unerschütterlichen Glauben an die Kraft des Willens. »Was man ernstlich will, das kann man«, so lautete mein Grundsatz. Darum konnte ich es denn auch wagen, die Poesie trotz meinem bisherigen Mißverhältnis zu ihr zu ergreifen; ich glaubte eben, es erzwingen, die Muse notzüchtigen zu können. Ich brachte ferner mit: den festen Willen, in der Poesie die höchste Stufe zu erreichen. Ich mußte das schon deshalb wollen, weil ich den Dichternamen wie einen Makel, die Dichtertätigkeit wie eine Lächerlichkeit, beinahe wie eine Schande empfand, für den es eine Entschuldigung bedürfe; die Entschuldigung aber konnte nur die Meisterschaft liefern.

Im besonderen brachte ich mit: eine Wunde: ein durch äußere Umstände verpfuschtes Talent, das Maler- oder Zeichentalent. Bis zu meinem fünfzehnten Jahre glaubte alle Welt mich von der Natur so deutlich als möglich zum Maler bestimmt; mich selber zog eine unsägliche Sehnsucht zur Zeichenkunst, so daß ich später viel Mühe hatte, es Gottfried Keller zu verzeihen, daß er, nachdem ihm das beneidenswerte Glück geworden, Maler werden zu dürfen, die Malerei mit der Dichtkunst vertauschte. Mir wurde das mit allen Fibern der Seele ersehnte Glück der Malerei nicht zuteil, ich mußte dieser meiner schönsten Hoffnung entsagen. Mit dem Augenblick aber, da ich endgültig entsagte und mich notgedrungen der Poesie zuwandte, begrub ich auch das zerstörte Talent; ängstlich vermeidend, jemals eine Erinnerung daran wachzurufen. Diese Furcht vor den Erinnerungen ist wahrscheinlich der tiefste Grund, warum ich fortan die bildenden Künste gänzlich aus meinen Augen und meinen Gedanken entfernte. Man sieht mich niemals in einer Bildergalerie, man wird schwerlich in meinen Schriften ein Beispiel aus der bildenden Kunst angeführt finden. Diese Kunst ist mir fremd, deshalb, weil ich sie einst mit einem grausamen Schnitt zugleich mit einem großen Stück Herz wegoperierte. Also mit der bildenden Kunst hatte ich fortan nichts mehr zu tun, nicht einmal als Genießender, geschweige denn als Lernender. Eine andere Frage ist, ob nicht unbewußterweise und wider Willen die angeborene Gewohnheit, die ganze Welt mit dem Auge und dem Interesse des Zeichners anzuschauen (perspektivische Wonne, Bildflächensehen, Rahmenbildung und so weiter), mir nicht in meine Poesie hineingespielt habe, zu Nutz oder zu Schaden. Ich glaube wirklich nachträglich zu beobachten, daß sie mir bis zu meinem fünfzigsten Lebensjahre ganz bedeutend mitgespielt hat, und zwar, nach meiner Meinung, die meiste Zeit zum Schaden, erst seit zehn Jahren zum Nutzen. Doch das kann ich selber nicht recht beurteilen, weil eben die Einwirkungen unterhalb des Bewußtseins stattfanden.

Ferner brachte ich mit: eine innige Liebe zur Musik, zugleich mit ursprünglichem, ganz unmittelbarem Verständnis der musikalischen Formen. Das war nun eine jüngere Errungenschaft als das Zeichentalent. Zwar mag ja die Musik von jeher inwendig geschlummert haben; allein sonderbare Umstände brachten es mit sich, daß ich bis zu meinem fünfzehnten Jahre weder ein klassisches Meisterstück hörte, noch von meinem intimen Verhältnis zur Musik die mindeste Ahnung hatte. Wenn einer als einzige Musikinstrumente Trommel und Gitarre kennengelernt hat, so kann er sich einstweilen wohl als Fremdling der Musik gegenüber fühlen. Dann als Fünfzehnjähriger hörte ich plötzlich zum ersten Male eine Sonate (C-Moll von Mozart), und das war nun eine solche Offenbarung, das erfüllte mich mit solcher Begeisterung und Bewunderung, mit solcher Seligkeit und Dankbarkeit, daß dieses Datum für meine ganze zukünftige Kunsttätigkeit bestimmend geworden ist. Sonate und Symphonie, so wie sie Haydn, Mozart und Beethoven bauten, galten und gelten mir fortan als die höchsten Erscheinungsformen der Künste, als Muster und Vorbilder aller Vollkommenheit. Nachdem ich mich dann zwei Jahre später der Poesie gewidmet, konnte mir zwar selbstverständlich kein Musiker und keine musikalische Form unmittelbar zum Muster und Vorbild dienen, hingegen blieb die Symphonie und die Sonate, blieben Haydn, Mozart und Beethoven zeitlebens meine Zuchtmeister.

Ich will von den Einwirkungen dieser Zuchtmeister auf meine Poesie mitteilen, so viel mir mein Bewußtsein davon meldet; unbewußt mögen wohl die Einwirkungen noch viel bedeutender gewesen sein.

Zunächst ist Beethoven mit daran schuld, daß mein erstes Buch (»Prometheus und Epimetheus«) dreizehn Jahre zu seiner Veröffentlichung brauchte. Ich hatte nämlich, indem ich die Gewohnheiten der Musiker mit den Gewohnheiten der Dichter verglich, bemerkt, daß die Musiker mit ihrem Opus 1 schon ein ansehnliches und jedenfalls formell vollendetes Kunstwerk zu veröffentlichen pflegen, während die Dichter ihr erstes Werk meistens eruptiv hinauswerfen: ein poetisch bedeutendes, aber künstlerisch unvollendetes Werk. Der Dichterbrauch schien mir nun schmählich, ein Verbrechen an der Kunst; ich beschloß daher, mich dem Musikerbrauch anzuschließen, also gleich mein erstes Buch ein untadeliges Kunstwerk werden zu lassen. Solange ich das nicht vermögen würde, hielt ich Schweigen für Gewissenspflicht, Veröffentlichung für eine unauslöschliche Schande. Namentlich hielt ich mir beständig Beethovens Opus 1 vor Augen, diese drei wunderbaren Trio, und büßte mich mit ihrem Beispiel, so oft das Gelüste nach vorzeitiger Veröffentlichung in den dreizehn Jahren des Ringens an mich herantrat. ›Mensch, auf einer Erde, wo jemand mit einem solchen Opus 1 aufrückte, darfst du nicht mit einem künstlerisch unvollendeten, bloß eruptiv poetischen Werk in die Öffentlichkeit.‹

So diente mir Beethoven zum Zuchtmeister für mein Erstlingsbuch.

Und dann hielten die Einwirkungen der großen Symphoniker auf meine Kunst nach, ja sie zeigten sich je länger, desto deutlicher, und zwar um so größer, je höher hinauf ich stieg. Meine epische Kunst empfinde ich geradezu als ein Seitenstück zur musikalischen Symphonie. Wenn ich während der Arbeit meines »Olympischen Frühlings« etwa beiläufig nach Verwandtem umsah, so kam mir nicht etwa Böcklin in den Sinn, denn alle bildende Kunst liegt ja außerhalb meines Horizontes, sondern ich hätte wünschen mögen, daß dem Leser Mozart in den Sinn käme.

Meine epische Kunst hat von den musikalischen Symphonikern folgendes gelernt: Vor allem das künstlerische Gewissen. Ferner die Erkenntnis, daß die Kunst ein feines Geschäft ist, das mit sorgfältigen Fingern, nicht mit den Fäusten getan werden will. Ferner, mit dieser Erkenntnis zusammenhängend, die gründliche Verachtung aller liederlichen Titaneien, Geniefaxen und Gigerltänze. Beethoven galt und gilt mir für den schlagendsten Beweis, daß das echte Genie, und wäre es noch so Titan, gesetzmäßig arbeitet, sogar gesetzmäßiger als jeder andere. Ich habe ferner von den Symphonikern gelernt: die zähe, geduldige Ausdauer der Arbeit sowie den Glauben, daß es auch menschenmöglich sei, selbst die größte und umfangreichste Arbeit sauber und reinlich bis in die hintersten Winkel und bis zur letzten Zeile durchzuführen. Oft genug wollte mir die Müdigkeit oder die Ungeduld zuflüstern: »Das übersteigt ja Menschenkräfte.« Dann beschämte mich ein Seitenblick auf die Werke der großen Symphoniker. Wirklich, ich vermute, ohne dieses beschämende und ermutigende Beispiel wäre mir mein »Olympischer Frühling« kaum möglich geworden. Ich habe weiter von den Symphonikern gelernt: die alles andere überwiegende Wichtigkeit der Verhältniswerte eines Werkes (der Proportion). Ich nenne mich denn auch geradezu einen Proportionsdichter, deshalb, weil mir das Abwägen der Dimensionen, welche einem Stück zukommen, das oberste Gesetz ist, dem sich alles andere unterzufügen hat. Wenn ich einmal weiß, wieviel Raum jedem einzelnen Teile eines Werkes gebührt, halte ich das Schwierigste für getan und das Werk für gesichert. Damit zusammenhängend: die genaue psychologische Berechnung, was an jeder Stelle die Seele des Genießenden begehrt, wann es genug ist und wann es zu viel wäre, eine instinktive Berechnungskunst, welche bei den Symphonikern mit erstaunlicher Treffsicherheit gerät. Wiederum im Zusammenhang damit die Entsagung, also die Kunst, nicht ein Motiv ganz auszuschöpfen, den Mut, selbst das an sich Wertvollste nicht zuzulassen, falls es nicht an diese Stelle gehört, die Kraft zum Morden des bereits von der dichterischen Phantasie Geschaffenen. Ich habe endlich von den Symphonikern übernommen: den Grundsatz, keine Einleitungen zu geben, sondern gleich mit dem Thema zu beginnen. Noch manches, das mir im Augenblick nicht gleich gegenwärtig ist, wäre wohl aufzuzählen, zum Beispiel die Einsicht, daß es rätlicher ist, verschiedene Dinge klar und hart mit schroffer Trennung nebeneinander und gegeneinander zu stellen, als Übergänge und Verbindungen zu suchen. Doch das Gesagte möge genügen. Hingegen will ich noch, um einem naheliegenden Irrtum vorzubeugen, ausdrücklich bemerken, daß die Musik bei mir auf Sprache und Vers nicht den mindesten Einfluß gehabt hat; mein Vers will gar nicht musikalisch sein. Überhaupt – habe ich recht beobachtet, oder täusche ich mich? –, ich glaube bemerkt zu haben, daß gerade die unmusikalischen Dichter Versmusik anstreben.

Aus alledem ist zu entnehmen, daß ich der Musik, oder besser gesagt den Klassikern der Symphonie und Sonate, viel verdanke und einzig ihnen etwas verdanke. Den Dichtern gar nichts oder verschwindend wenig; die Begabung zur Malerei hat mich mehr gestört als gefördert, namentlich hat sie mich anfänglich zu den ungeheuerlichsten Irrtümern verführt. Hat mich die Musik niemals gestört? Gestört nie, wohl aber eine lange Zeit gehindert, nämlich mein Bedürfnis nach Gefühlsaussprache mittels Sprache und Vers, also nach lyrischer Poesie zurückgehalten, indem sie mir eine andere, schönere und liebere Aussprache zeigte und gestattete. Was man singen kann, mag man nicht sagen. Ein Beispiel: Als mich bei der Ausarbeitung meines Buches »Prometheus« überquellende Gefühle heimsuchten, fiel mir die Möglichkeit gar nicht ein, diese Gefühle in sprachlicher Verslyrik auszusprechen, sondern ich nahm ein Büchlein fremder Verslyrik vor und versuchte diese fremde Lyrik in Musik zu setzen, zu komponieren. Auch noch meine »Schmetterlinge« sind ja keine Gefühlslyrik, sondern optisch empfunden. Erst als ich später einmal Zorn und Grimm auszusprechen hatte, kam mir die Unzulänglichkeit und Undeutlichkeit der musikalischen Lyrik für diesen Zweck zum Bewußtsein. Hier, in meinen »Literarischen Gleichnissen«, hat dann wirklich nach dem alten Spruch die ›Indignation‹ den Vers gemacht. Diese »Literarischen Gleichnisse« sind nun zwar, wie man mir sagt und wie ich zugebe, wahrscheinlich noch nicht selber Lyrik, aber sie haben mir das Tor zur Lyrik aufgemacht, mir den Mund für die direkte Aussprache von Gefühlen erschlossen; soweit ich mir überhaupt erlaube, etwas in der Poesie direkt auszusprechen; es läuft mir nämlich die direkte Aussprache wider die Natur und meine Überzeugung, besser gesagt, wider meine zur Natur gewordene künstlerische Überzeugung.

Damit mags genug sein. Zur Verständigung für den Leser, den diese autobiographische Expektoration wohl etwas fremdartig anmuten wird, füge ich bei, daß ich das Vorliegende auf Begehr oder Anlaß schrieb (es wurde dringend von mir etwas Autobiographisches gewünscht), daß ich es überaus schnell und hastig hinwarf, weil meine Zeit wichtigeren Dingen gehört, daß deshalb der Stil alles mögliche zu wünschen übrig läßt, daß aber jedes Wort, das ich sagte, buchstäblich der Wahrheit entspricht. Mag es nun gefallen oder mißfallen, ich kann, wenn ich einmal die Aufgabe übernommen, Autobiographie zu schreiben, nichts anderes tun als einfach die Wahrheit mitteilen, gefalle sie oder gefalle sie nicht.


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