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Zweiter Teil:
Herbst 1861 bis Mai 1862

»Es schmerzt«

Übersicht

Mit allen Glocken der Hoffnung läutete mein Herz den Winter ein, der mir durch die Klavierstunden den täglichen Verkehr mit meiner Geliebten versprach, und da ich mir keiner andern Ansprüche bewußt war als »guten Tag, Carlo dolce«, »gute Nacht, Carlo dolce«, so glaubte ich eine unabsehbare Kette von lauter roten Festtagen herannahen zu sehen.

Eine Kette von Festtagen langte auch wirklich an; ja, nur nicht von roten, sondern von ultravioletten, die sich allmählich bis zum Schwarz verfinsterten. Als ob es auf die Länge menschenmöglich wäre, jemand zu lieben, ohne zu begehren, wieder geliebt zu werden! Und selbst angenommen, der höchsten Apotheose, verbunden mit der tiefsten Demut, wäre das Unmöglichkeitswunder gelungen, auf Wiederliebe ergeben zu verzichten, eines wird ihr doch nie gelingen, den klaren Beweis der Nichterwiderung und die tägliche Wiederholung dieses Beweises zu verwinden. Was der Gedanke ertrug, erträgt das Auge nicht. Verletzung, Schmerz, Empörung des Selbstbewußtseins und am Ende aller Enden der Ekel, ist die unabwendbare Folge. Darum muß eine himmlische Geliebte entweder tot sein, wie Dantes Beatrice, oder sie muß wenigstens in unerreichbarer Ferne wohnen. Die Nähe erzeugt den nagenden Wunsch und die seufzende Sehnsucht. Und wenn es der Starke vermag, wachend seinem Herzen einen Maulkorb anzulegen, so schreit das Herz um so lauter im Traum.

Die nächste Folge des täglichen Umganges war deshalb diese: in wachendem Zustand eine Springflut von ethischer Exaltation (»sie ist erhaben, ich will alles Gemeine vernichten und meiden, und so weiter«), bei Nacht eine Grundwelle von sehnsüchtiger Traumpoesie mit Bildern von so innigem, wehmütigem Liebesheimwehglanz, daß sie noch weit in den andern Tag hineinleuchteten, wie denn das Tagebuch jeweilen das Traumerlebnis wie ein wichtiges Ereignis, wichtiger und wahrer als die wirklichen Begebnisse nicht bloß verzeichnet, sondern unterstreicht. Und was geschah in diesen Traumabenteuern? Natürlich immer das nämliche, das, was das Herz ersehnte: ihr Liebesgeständnis und ihr Kuß. An diesen seligen Traumerlebnissen gemessen, ergab dann der Verlauf des wachen, nüchternen Tages ein häßliches Manko, welches das Herz auszugleichen begehrte, und da der Ausgleich immerfort ausblieb, war die Unseligkeit da.

Und dann das ewige Hin- und Hergezerr zwischen Glück- und Unglücksgefühlen, wenn einer sein Heil von den Worten, Gebärden, Mienen und Blicken eines Menschen abhängig gemacht hat! Heute heißt es: »Sie lächelte mich so lieb und freundlich an, daß ich ganz glücklich wurde«, morgen: »Ich war verzweifelt, denn sie kam mir etwas scharf, beinahe hart vor.« Eine vorübergehende Verstimmung, vielleicht rein körperlichen Ursprungs, dämpft den Glanz des Auges: sofort wird die Mattheit des Blickes als Abneigung mißdeutet. Jetzt fehlt, um den Frieden vollends zu vergiften, einzig noch die Eifersucht; und die wird bei so überspannter mißtrauischer Aufmerksamkeit nicht lange ausbleiben.

Und dann noch etwas anderes. Hätte mein Herz auch alles erhalten, was es begehrte, wären die sehnsüchtigen Träume verwirklicht worden, es hätte mir doch nichts genützt: denn ich war überhaupt nicht mehr fähig, mich zufrieden zu fühlen; ich trug die Unseligkeit in mir. Am Langen Hag hatte sich nämlich im vergangenen Sommer ein Wurm in meine Seele geschlichen, der an mir nagte und mir keine Ruhe mehr ließ, bis ich seinen Willen würde getan haben. Aber der Wurm war stumm, er sagte mir nicht, was er wollte; hingegen was er nicht wollte, gab er mir durch giftige Bisse zu verstehen. Und das wollte er nicht, das duldete er nicht: daß ich mein Glück in der Liebe und meinen Frieden in der Betätigung meiner angeborenen Talente finde.

Als Maler entdeckt!

An einem Oktobersonntag erschien im Pfarrhaus zu Liestal ein unglaublich schöner junger Maler, den ich Ix Ypsilon Ypsilanti nennen will. Zwei wundervolle große, klare Augen, ein seidener Schnurrbart, eine samtene Haut, eine klangvolle, einschmeichelnde Stimme, eine weiche, süße, kosende Aussprache, geschmackvolle Kleidung, geschmeidige Haltung, feine Hände und feine Manieren und über das Ganze ausgegossen eine unwiderstehliche Liebenswürdigkeit. In der ersten Minute hatte er sämtliche Pensionsmädchen bezaubert; rein weg waren sie. Und erst, als er auftrat! Er trat nämlich auf, wie ein Schauspieler oder Taschenkünstler, und gab eine Vorstellung. Zunächst setzte er einen geheimnisvollen Kasten auf den Tisch, dann sprach er einige einleitende Worte über seine phänomenale musikalische Begabung, berichtend, wie er vor Liszt gespielt habe und wie er von Liszt bewundert worden sei. Hierauf holte er aus dem geheimnisvollen Kasten ein Dutzend Stück Mundharmonika und begann abwechselnd auf den Dingern zu säuseln. Ha, was für ein Erfolg! Keine lärmende Begeisterung, mehr: bewundernde Blicke, feuchte Augen, Herzensseufzer. Die wonnige Persönlichkeit leuchtete und das Pfarrhaus strahlte.

Anna ließ sich zwar nicht fangen; sie nahm das Adonisphänomen mehr von der fröhlichen Seite. Doch ließ sie sich natürlich seine Höflichkeiten und verbindlichen Artigkeiten lächelnd gefallen, was in mir tragische Gefühle aufwühlte. Zum ersten Male meines Lebens lernte ich da die Qualen der Eifersucht kennen. Da ich aber noch kein Persönlichkeitsbewußtsein erworben hatte, stand ich der Eifersucht wehrlos gegenüber und fühlte mich als eine Null verurteilt, vernichtet, namenlos unglücklich.

Am folgenden Morgen traf es sich, daß der schöne Ypsilanti zufällig im nämlichen Zuge nach Basel fuhr, wie ich in die Schule. Da setzte er sich neben mich und ließ sich von mir meine Schulhefte zeigen. Plötzlich erhob er ein gewaltiges Bewunderungsgeschrei über die Köpfe, die ich in die Hefte hineingezeichnet hatte. Ich besäße ein außerordentliches Zeichentalent, behauptete er; ich müsse unbedingt Maler werden, er wolle mir Unterricht geben; morgen schon müsse ich bei ihm in seinem Atelier arbeiten. Jenen ganzen Tag war ich selig; ein Schwall von Hoffnung durchflutete mein Herz, die Schule kam mir bereits als ein häßlicher überwundener Spuk vor. Jenen Tag meinte es das Schicksal gut mit mir; es machte mir die Türe zum Glück, und zwar zum nahen, unmittelbar bevorstehenden Glück sperrangelweit auf. Und damals war ich sechzehnjährig! Dagegen, als ich mein erstes Buch veröffentlichte, fünfunddreißigjährig. Was ich bei dieser Gegenüberstellung fühle, kann mir ein gefühlvoller Leser nachfühlen.

Malstudien

Allein am folgenden Tag schon kam die erste bittere Enttäuschung, der in stetiger Folge Tausende nachfolgen sollten. Ich müsse da und da die und die Ölfarben kaufen, befahl er; es koste eine Kleinigkeit, bloß zwanzig Franken; die könne ich im Farbengeschäft die längste Zeit schuldig bleiben, oder er wolle sie mir einstweilen vorstrecken. »Schuldig bleiben«, »vorstrecken«, was für unbekannte, schreckliche Begriffe für einen Schulknaben! »Zwanzig Franken!«, was für eine ungeheure Summe für jemand, der mit einem Vermögen von zwanzig Centimes zu rechnen gewohnt war! Wie eine Katastrophe hagelte die Nötigung, mir so teure Dinge anzuschaffen, auf mich nieder. Im Geschäft schuldig bleiben? Ich war gewöhnt worden, das Schuldigbleiben als eine Abart von Diebstahl anzusehen. Von ihm, dem Fremden, mir Geld vorstrecken lassen, während ich nicht absehen kann, wie und wann es ihm zurückgeben? Betrug. Meine Eltern darum angehen? Wenn ich meinem Papa, der ohnehin nichts mehr verabscheute als den Gedanken, daß ich Maler werden könnte, zumute, mir zwanzig Franken für Ölfarben zu schenken, so hat meine Malerei ein Ende, bevor sie angefangen hat. Schließlich entschloß ich mich schweren Herzens, da ich mir nicht anders zu helfen wußte, mein Großmütterchen anzubetteln. Ich und betteln! Ich, der Spröde, der sonst lieber Hungers gestorben wäre, als einen Nebenmenschen um einen Rappen zu bitten! Diese Schmach! Großmütterchen seufzte, als sie mir die zwanzig Franken gab, und ich biß mir auf die Lippen, um nicht aufzuschreien, als ich sie annahm. Das war die Ouvertüre. Das Stück selber glich der Ouvertüre.

Ich hatte gemeint, als mir der schöne Ypsilanti liebenswürdig seinen Unterricht anbot, er würde mich vor allem zeichnen lehren, mir meine Fehler nachweisen und verbessern. Er meinte es anders. Er beabsichtigte nur den Bluff. Schnell mit seiner Hilfe eine Leinwand vollpinseln, einen goldenen Rahmen darumtun und dann das Gemälde im Liestaler Rathause ausstellen, um Aufsehen zu erregen. So hätte ers an meiner Stelle gehalten, so wollte er, daß ichs tue. Schob mir, ohne mich nach meinen Wünschen zu fragen, irgendeinen Kopf, der mich gar nicht interessierte (es war ein katholischer Pfarrer, der ein Gebetbuch in der Hand hielt), vor die Staffelei und befahl mir, diesen mit Ölfarben abzumalen. Zweiundeinhalb Monate lang, von Mitte Oktober bis Neujahr mußte ich in den Schulpausen an diesem unseligen Pfaffenkopf pfuschen. Zur Abwechslung gönnte er mir das Vergnügen, auf Holz zu zeichnen, aber was! Einen Affen, der einen Malerstock und eine Palette hielt! Mir, dem nach der Schönheit des menschlichen Angesichts Dürstenden, einen Affen! Ein anderes Mal war es der Dantekopf. Ihm war nämlich von einer illustrierten Zeitung der Auftrag geworden, zu einem Aufsatz über Dante den Dantekopf zu zeichnen; den Auftrag ließ er nun mich ausführen. Der von mir gezeichnete Holzkopf erschien denn auch wirklich in jener Zeitung; allein die Redaktion beschwerte sich (mit Recht) bei ihm, daß er den Auftrag durch einen unfertigen, unsichern Schüler hatte ausführen lassen. Von seinen künstlerischen Ratschlägen habe ich folgende im Gedächtnis behalten: man solle nicht Gemälde schaffen, sondern Illustrationen für Zeitungen, das lohne sich besser. Und ich solle um Gottes willen ja niemals, wenn ich einmal einen Schnurrbart bekäme, ihn beschneiden lassen, sonst würde er auf ewig seine Weichheit verlieren.

Allmählich lernte ich den Grund kennen, warum er mir niemals eine Zeichnung verbesserte: er konnte selber nicht zeichnen. Er konnte so wenig zeichnen, daß ich ihm helfen mußte, als es galt, in einer Landschaft eine Staffage anzubringen. Er wußte nicht einmal, wie man es anfängt, eine Hand darzustellen, die einen Hut hält. Welche Finger in den Hut hinein, welche hinaus gehören, das mußte ich ihn lehren! Mit jenem Tage hatte meine Achtung vor seiner Kunst ein Ende. Er war aber auch, wie ich später erfuhr, nur ein mittelmäßiger Maler, dessen Talentchen zwar für den Museumsgebrauch hinreichte (seine Gemälde wurden bestellt, gekauft, mit Stolz vorgezeigt, von Kunstkennern bewundert), den aber kein Kollege ernst nahm. Ich habe Frau Feuerbach nie so herzlich, so laut, so anhaltend lachen gehört wie damals, als ich ihr den Namen des schönen Ypsilanti nannte. »Schade!« rief sie, »schade, daß mein Sohn nicht hier ist! Der wüßte Ihnen köstliche Anekdoten über diesen Scharlatan zu erzählen.« Und Böcklin erhob bei seinem Namen ein schallendes Hohngelächter über den »Scharlatan«, daß die Wände seines Ateliers zitterten. Mir scheint, wenn ein Feuerbach und ein Böcklin übereinstimmend einen Kollegen Scharlatan nennen, so ist bewiesen, daß er als Maler nicht ernst zu nehmen ist. Ich war also von dem Unrichtigen entdeckt worden. In meinem Falle wäre der richtige Lehrer vielleicht die vielgeschmähte Kunstakademie gewesen.

Nachdem mich mein Lehrer als Künstler enttäuscht, verleidete er mir auch als Mensch. Im Grunde gutartig, wohlwollend und liebenswürdig, ließ er sich wie ein verzogenes Kind von Launen beherrschen; er war eben charakterlos, ideallos, ziellos und darum gänzlich haltlos. In rosiger Laune wußte er ergötzliche Sprüchlein, Anekdötlein und Wortspäßlein; allein die rosigen Launen waren selten, die widrigen die Regel. An seinem Beispiel lernte ich das ganze Elend eines Künstlers, der nichts Rechtes kann und nichts Rechtes ernsthaft will, und das womöglich noch größere Elend eines Don Juan kennen. Solch einen abgründigen moralischen Katzenjammer, solch einen heulenden Ekel vor den gähnenden Höhlen des Nichts im eigenen Busen habe ich niemals, weder vor- noch nachher wieder erlebt wie bei diesem wunderschönen, unwiderstehlichen Adonis. Stundenlang konnte er dasitzen und verzweifelt vor sich hinstöhnen: »Carlo dolce, Carlo dolce, werden Sie Schneider, werden Sie Karrenschieber, werden Sie Stiefelputzer, nur werden Sie niemals ein Maler!« Mir ekelte vor dem Ekel. Und als ihm vollends einfiel, mich zu hänseln und zu plagen, wurde mir die Sache zu dumm. Ich habe oben im Gehirn einen Fehler in den Verschiebungen, so daß ich Namen und Dinge verwechsle; das sollte nicht sein, aber es ist so. Diesen Fehler machte sich Ypsilanti zunutze, um mich fürchterlich zu quälen. Ich verwechselte zum Beispiel immer die Worte »Firnis« und »Terpentin«; jeden Tag beim Palettenwaschen höhnte er: »Carlo dolce, ist das Firnis oder Terpentin?« Ich verwechselte beständig den alten Römer Cajus Cornelius Cotta mit dem gegenwärtigen Verleger Cotta in Stuttgart. Da sah er mich mit großen, starren Augen an, als ob ich nicht bei Verstand wäre; mit strafender Miene wie ein Examinator, wenn man eine haarsträubende Unwissenheit begangen hat. Auch zankte er mich grob und heftig aus, wenn ich durch die Schule oder Notwendigkeiten verhindert worden war, zu ihm zu kommen und am Pfaffenkopf zu pfuschen. Kurz, ich hatte zu den keifenden Schullehrern einen Mallehrer bekommen, der noch widriger keifte. Ich danke für die Zukost. Beschlossene Sache: Sobald ich den leidigen Pfaffenkopf fertig habe, sieht mich Ypsilanti nicht wieder. Dem Dank für seine wohlwollende Gesinnung unbeschadet.

Nero

In den nämlichen Wochen, während ich unter den Augen meines Lehrers an dem Pfaffenkopf pfuschte, suchten mich eigene Entwürfe heim. Unter diesen war einer, der an sich so wenig taugte wie die andern – ich konnte ja überhaupt nicht zeichnen –, der aber durch das Aufsehen, das er erregte, Erwähnung heischt. An der breiten weißgegipsten Hinterwand der Brauerei Brodbeck, des Hauses meiner Großeltern, zeichnete ich mit Kohle oder Kreide einen Nero, der dem Brande Roms aus einem Schiffchen zuschaut, begleitet von Seneka, umgeben von Buhlerinnen. Die Großeltern, Onkel Karl und das Gesinde schauten dem Entstehen des Bildes teilnehmend zu, allein zugleich mit Schrecken. »Um Gottes willen, was wird der Götti dazu sagen, daß man ihm die weiße Wand verschmiert!« Der Götti war der Bruder des Großvaters, der Miteigentümer der Brauerei, als schrecklicher Mann gefürchtet, mit dessen Namen man uns schon als Kindern bange gemacht hätte, dessen Gesicht schon, ein Ungeheuergesicht, eine Raubtiermaske, Entsetzen verursachte. Und Tag für Tag hieß es mit Zittern und Zagen: »Wenn der Götti das sieht!« Endlich kam er, während ich gerade an meinem Nero zeichnete, dahergestampft, in der Tat grauenvoll anzuschauen. Stumm stellte er sich neben mich, sah eine lange Weile zu, dann grunzte er eine freundlich schmunzelnde Zustimmung. Er fand Vergnügen an meiner Zeichnung.

Und ähnlich erging es dem Nero mit allen Menschen, von den Gebildeten bis zum letzten Roßknecht, der in der Wirtsstube einkehrte. Ein Bub, der ein fast lebensgroßes Bild an eine Wand zeichnet mit Figuren drin, an deren Gesichtern man einen verschiedenen Ausdruck unterscheiden kann, das war ein Phänomen, das selbst dem gemeinen Volk einleuchtete. Mit Erstaunen erfuhr ich da, wie allgemein selbst im niedrigsten Volk das Wohlgefallen an der Zeichenkunst herrscht. Um ein weniges, so wäre ich damals populär geworden. Kein Gast, der sich nicht den Nero zeigen ließ und ihn bewunderte. Auch aus dem Pfarrhause erschienen sie: der Pfarrer belobte es, Anna war hoch erfreut über die Kunst ihres Carlo dolce. Sogar mein Vater, sonst der Widersacher meiner Zeichengeschäftigkeit, mochte das Bild ansehen und nickte nicht unfreundlich dazu. Nur Ypsilanti war nicht zufrieden. Piloty, meinte er, müßte ich studieren; dann würde ich einsehen lernen, wie man einen solchen Stoff angreift.

Noch manches Jahr blieb das Bild an der Rückwand bestehen; man schonte es nach Kräften als eine Sehenswürdigkeit der Brauerei Brodbeck, bis es dann schließlich mit dem Gips der Vergänglichkeit verfiel. Aber selbst nach seinem Verschwinden sprach sich noch lange im Tone der Hochachtung die Sage davon herum. Ich wiederhole: das Bild war künstlerisch durchaus wertlos, die Zeichnung gänzlich kindisch und widernatürlich; ich erwähne das Machwerk einzig zum Beispiel dafür, daß bis in die untersten Schichten eines Volkes die Kunst Freude und Freundschaft vorfindet.

Weil ich aber von dem schrecklichen Götti sprach: der schreckliche Götti war gewalttätig, aber keineswegs böse. Ein rührender Zug von ihm: Ein Jahr nach meinem Nero ging es beim Götti ans Sterben. Da ließ er meinen Vater kommen, sprach kein Wort, aber brach ein Stück Brot entzwei und reichte meinem Vater die eine Hälfte, während er selber die andere Hälfte aß. Mein Vater verstand: es war ein Symbol. Und das Symbol wollte sagen: »Ich muß jetzt sterben; meine Kinder haben längst keine Mutter mehr. Zu Ihnen habe ich Vertrauen, daß Sie meinen Kindern kein Unrecht geschehen lassen.« Und als hierauf mein Vater die andere Hälfte des Brotes aß, stöhnte ihm der kranke Götti mit seiner fürchterlichen Stimme einen Dank.

Postume Lorbeeren

Genau zum Silvester, nach vielem Zanken und gemeinsamem Pinseln wurde der leidige Ölkopf endlich fertig. Gottlob, dachte ich, und hätte das verwünschte Gemälde, das mir schon deshalb verhaßt war, weil es nicht gänzlich mein eigenes Werk war, sondern Spuren von Mitarbeit in sich trug, in den nächsten Graben geworfen. Allein Ypsilanti zu Lieb und Dank mußte ich es meinen Eltern vorweisen; er wollte sogar, daß ichs im Regierungsrathaus zu Liestal ausstelle, was mich aber dermaßen empörte, daß ich es rundweg verweigerte. Das fehlte noch, mit einer wertlosen Pfuscherei, deren ich mich in mein ehrliches Künstlerherz hinein schämte, öffentlich Staat machen zu wollen! Als ich dann am Silvesterabend das Ding auflud, um es nach Liestal zu befördern, machte ich zu meiner Scham unterwegs ein großes Aufsehen damit. Verbergen konnte ichs ja nicht, das Bild war zu groß. In der Eisenbahn wurde es von den Fahrgästen bewundernd angestaunt; der Schaffner ließ nicht zu, daß ich mit einem so kostbaren Schatze dritter Klasse fahre, sondern nötigte mich in eine einsame Abteilung erster Klasse, damit das Bild ja keinen Schaden leide. Und überall ähnlich. Die Großeltern machten eine zufrieden achtungsvolle Miene, meine Mama war hoch erfreut, Papa zeigte sich nicht unangenehm davon berührt; am Neujahrsnachmittag, im Pfarrhaus, wo ich das Gemälde vorzeigte, wurde ich wie ein Sieger begrüßt. All das stimmte mich – freudig? O nein, unsäglich traurig. Das war ja alles postum; ich hatte doch dem Malstudium abgeschworen; dieser Ölquatsch bedeutete nicht einen vielversprechenden Anfang, wie meine Freunde meinten, sondern ein hoffnungsloses Ende.

Und nicht nur traurig ward ich durch diese Triumphe gestimmt, sondern auch trübe. Ich wurde nämlich jetzt an diesem Beispiel ahnend inne, wie unglaublich leicht es ist, in der Kunst mit wertloser Talmiware sich Ehre und Ansehen, Freundschaft und Liebesglück zu erstehlen. Eine Wahrheit, zu der ich zwanzig Jahre später die Ergänzung erhalten sollte: wie unglaublich schwer es ist, in der Kunst mit einem wertvollen Werk die bescheidenste Beachtung zu finden. Allein zwanzig Jahre später spürte ich etwas in mir, das mich hoch aufrecht erhielt; der Knabe dagegen wußte noch keinen Trost in Trauer und Trübsal.

Annas und Pepis Triumphe

Während ich so mit leeren Händen inhaltlos und ratlos ins neue Jahr 1862 hinüberschlich, nach den zerschlagenen Hoffnungen ärmer als vorher und durch die falschen postumen Lorbeeren nur noch tiefer gedrückt, feierten meine Freunde bessere, frohere, weil durch Leistungen verdiente Triumphe. Anna, in der Blüte der Jahre (achtzehn), auf der höchsten Höhe ihrer Schönheit und Anmut, von jedermann bewundert und geliebt, von vielen umschwärmt, von manchen begehrt, von niemand ungern gelitten, erhielt die Einladung, in Rheinfelden öffentlich im Konzert zu spielen. Sie hatte das D-Moll-Konzert von Mozart zu sicherem Besitz errungen, durfte deshalb die Einladung getrost annehmen. In freudiger Aufregung wie eine Braut reiste sie dem Konzert entgegen. Wunder, aber glaubhafte Wunder erzählte nachher die Mär von ihren Triumphen in Rheinfelden. Begeisterter Ruhm ihres Klavierspiels beim Publikum, Preis und Lob ihrer Tugenden, Huldigungen ihrer Anmut und Liebenswürdigkeit im Kreise der Freunde. Das leuchtete aus der Ferne zu mir herüber, und ich vermochte mich des edlen Widerscheins ohne die mindeste Anwandlung von Eifersucht herzlich zu freuen.

Noch glänzender waren in diesem Winter Pepis Triumphe. Er hatte als Student seine literarische Lehrzeit bei Wackernagel, die man nicht gering anschlagen darf, da er sie selber hoch anschlug, hinter sich und verfügte nicht bloß über das nötige literarische Wissen, sondern auch über Gewandtheit in der Technik der Dichtkunst. Vers und Reim hatten keine Geheimnisse mehr für ihn, und der poetischen Form bediente er sich mit spielender Freiheit und Leichtigkeit. Dabei beherrschte ihn zugleich, eine Frucht der Wackernagelschen Lehren, Ehrfurcht vor der Sprache und dem Vers, welche ihn auf Lebenszeit vor liederlicher Arbeit bewahrte; Widmann mag Unbedeutendes geschrieben haben, gesudelt hat er nie. Selbst die ersten Jugendgedichte, soweit ich sie kenne, offenbaren neben dem in die Augen springenden natürlichen Talent immer zugleich eine bemerkenswerte Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit in der Behandlung der Technik. Im Besitze dieser Mittel und Eigenschaften konnte er also jetzt dazu übergehen, seinen Geist und seine poetische Begabung durch schöpferische Leistungen zu betätigen. Und siehe da, der Zwanzigjährige sprang schon ganz und fertig zu Tage, so wie ihn später die Welt kennengelernt hat. Ich wenigstens vermag keinen gründlichen Unterschied zwischen den Werken des Zwanzigjährigen und des Vierzigjährigen zu entdecken und halte dafür, die Dramen Widmanns, welche die Theater im Jahre 1862 ablehnten, seien ebensoviel wert gewesen als jene, die sie jetzt aufführen. Jedenfalls dürfen die Sachen und Werke, die er als Zwanzigjähriger schrieb, nicht leichthin abgetan werden; sie bedeuten nicht etwa eine kindliche Vorstufe, sie bedeuten die Wurzel und hiemit die Erklärung der Widmannschen Poesie, so weit sich Poesie erklären läßt. Das Nähere hierüber muß ich einer Biographie Widmanns überlassen.

Nachdem also bisher vorwiegend Widmanns Geist und Witz gerühmt worden waren, trat jetzt die Poesie in den Vordergrund, und zwar in überraschend reicher, fast unglaublicher Produktion. Als würde es nur so aus dem Ärmel geschüttelt. Man reizte ihn auch, den Ärmel zu schütteln, indem alles um ihn herum der Ansicht huldigte, je leichter, je schneller, je mehr einer produziere, desto größeres Genie bekunde er. Neben einer Menge Gedichte, die fast täglich mit unterliefen, hatte Pepi sein Augenmerk auf das Drama gerichtet, wobei ihn begreiflicher- und natürlicherweise auch die Hoffnung auf Aufführung beseelte. Eine antike Tragödie (»Aristodemos« oder »Sophonisbe«) wurde von ihm der Basler Theaterdirektion eingereicht, eine andere oder dieselbe von den Seinigen dem Wiener Burgtheater. Einstweilen, bis die Theater seinen Werken zum Siege in der Öffentlichkeit verhelfen würden, feierte er eine fortlaufende Kette privater, intimer Triumphe daheim im Pfarrhaus. Diese waren nicht eben schwierig, da zum voraus alles, was er vorbrachte, für genial und vollendet galt, aber sie waren süß; denn außer dem Pfarrer und Carlo dolce bestand sein Publikum aus lauter weiblichen Bewunderern: den Pensionsmädchen, der Schwester, der Mutter, der Tante. Nicht zahlreich, doch wer weiß, möglicherweise war seinem Herzen der Beifall in diesem engen Kreise wichtiger als die ganze Öffentlichkeit.

Zunächst las er jedesmal, wenn er ein Werk vollendet hatte, dieses Werk in dem genannten Kreise vor. Unter den Begeisterungsäußerungen, welche diese Vorlesungen ihm einbrachten, war eine, die mir einen tiefen Eindruck machte: Anna umarmte ihren Bruder unter einem Strom von Tränen mit einer Inbrunst, einer Rührung, einer zärtlichen Bewunderung und Anbetung, daß ich von andächtiger Ehrerbietung über den ungeahnten Schatz von edlen Liebesgefühlen, deren ein weibliches Herz fähig ist, ergriffen wurde. Ich hatte wahrlich Anna immer hochgeschätzt, da ich sie als eine Göttin verehrte; allein jetzt lernte ich, daß sie noch viel mehr wert war, als ich glaubte: nicht eine Göttin, sondern ein tieffühlendes menschliches Mädchen. Und auch vor der rätselhaften, mir so fremden Poesie verspürte ich etwas wie Ehrerbietung, dafür, daß sie imstande war, ein edles Mädchenherz so stürmisch und so schön zu bewegen. Nur eines hatte ich daran auszusetzen, daß es der Pepi war, den sie so bewundernd umarmte, und nicht ich. Armer Carlo dolce! Und wenn du noch so prächtige Malereien vorzeigtest, solch einen Liebessturm in Annas Herzen bringst du damit nie zustande.

Handelte es sich um kleinere Gelegenheitsstücke, etwa zur Feier eines Geburtstages, oder um Komödien und Schauspiele, so folgte der Vorlesung die Aufführung im Pfarrhause. Das gab dann ebenso umständliche wie vergnügliche Arbeit. Die Rollen mußten abgeschrieben, hierauf gelernt und zusammen eingeübt werden; es galt Kulissen und Kostüme herbeizuschaffen; das alles mit den Aufführungen selber nahm so ziemlich die ganze zweite Hälfte des Winters ein, so daß die Musik jetzt der Literatur den Platz räumen mußte. Pepi herrschte, und alles diente seinen Werken. Aber er herrschte freundlich und gnädig. Die Aufführungen, an denen sich außer dem zahlreichen Mädchenpersonal einzig noch die beiden Spittelerbuben beteiligten, wurden nicht bloß den Zuhörern, sondern auch den Schauspielern zu einer Quelle des Vergnügens; sie stehen bei allen im besten Angedenken.

Von einer Kritik oder auch nur von dem Gedanken an eine Anzweiflung des Wertes dieser Stücke war bei niemand eine Spur zu finden; auch bei mir nicht. Pepis unvergleichliches poetisches Genie, in der Familie als Dogma verkündet, von Jacob Burckhardt und Wackernagel gepriesen, vom Ruhm weithin verbreitet, war eine so ausgemachte Sache, daß ich literarischer Barbar mir keine andere Rolle gegenüber einem seiner Werke denken konnte als die eines demütigen Bewunderers. Wenn denn doch Anna selber ihn anbetet! Damit war für mich alles gesagt. Jedes Gedicht Pepis fand sie »wunderschön«. Als er einmal nach einer Vorlesung wieder einen seiner glänzenden Triumphe einheimste, fragte ich ihn nachher ganz niedergeschlagen, ob er, im Besitze solcher Genialität und solcher Erfolge, sich noch herablassen könne, mein Freund bleiben zu wollen. Was er, einigermaßen erstaunt, freundlich bejahte.

Ein einziger Mensch wagte es, den poetischen Wert dieser Dichtungen anzuzweifeln: Widmann selber. Das sagte er aber wohlweislich nicht laut.

Die erste Auflehnung

Wer in der Familie den Pepi am meisten vergötterte, weiß ich nicht; sie tatens um die Wette. Aber daß Anna ihn vergötterte, das sah ich; und das ging mich an, das heißt meine Eifersucht. Ihr Lebensinhalt war die Anbetung des Bruders, ihr Atem, ihr Pulsschlag seine Bewunderung. Ihr Blick jauchzte, ihr Lächeln bekannte: »Es gibt nur einen Pepi, und der ist ein Genie; es gibt nur ein Genie, und das ist der Pepi. Zuerst kommt er, und dann lange, lange niemand.« Nicht als ob es ihre bewußte Meinung gewesen wäre. Sie war viel zu vernünftig und auch zu gerecht, um so etwas zu denken. Allein ihr Herz meinte das.

Und als ich einmal diese Tatsache klar und deutlich einsah, meldete sich mein Selbstbewußtsein. Kein echter Künstler verspürt sein Selbstbewußtsein, außer er würde dazu gezwungen. Man wird aber dazu gezwungen, wenn das Selbstbewußtsein gröblich verletzt wird. Es geht wie mit dem Nervus sympathicus: gewöhnlich weiß man gar nicht, daß man einen solchen hat; sobald er jedoch verwundet wird, richtet er Sturm an. So geschah es mir, als ich inne wurde, daß ich, was ich auch tun und vollbringen möge, bis an mein Lebensende in Annas Schätzung meilenweit hinter ihrem Bruder zurückstehen müßte. Denn auf Änderung durfte ich nicht hoffen; ich fand mich einer Naturkraft gegenüber. »Halt«, rief es in mir, »jetzt mache ich nicht mehr mit!«

Nicht als ob ich die vergötternde Liebe nicht begriffen oder sie mißbilligt hätte. Liebe und Verehrung waren gegenüber Pepi wahrhaftig wohl angebracht; er verdiente sie reichlich. Und wenn das Maß zum Übermaß schwoll, wer vermißt sich da zu messen? Wer will einer Mutter, einer Schwester vorrechnen: soviel Liebe und Verehrung, und nicht mehr? Im Gegenteil: ich fand die Vergötterung des Bruders rührend und schön; es war ein edler Zug mehr in Annas Wesen. Allein ein Herz hat seine eigene Unlogik, und die Unlogik meines Herzens lautet: Wenn ein weibliches Wesen mir dauernd einen andern vorzieht, heiße er meinetwegen Bruder, so liebe ich sie nur noch so lange, als ich muß, und wünsche sehnlichst, sie nicht mehr lieben zu müssen. Während ich mich also bisher meiner Liebe rückhaltlos und gerne hingegeben, beginnt von nun an der Kampf meines Selbstbewußtseins gegen meine Liebe. Ein peinlicher Kampf, der lange dauern wird; denn Annas Bild war in den fünf Jahren so innig mit meinem Herzen verwachsen, daß es fast einem Selbstmord gleichkam, es aus dem Herzen reißen zu wollen. Es werden auch noch andere, schlimmere Empörungen hinzukommen müssen, um schließlich dem Selbstbewußtsein zum Siege zu verhelfen. Und was den Sieg erschwerte, das war der seelenvolle Ton ihrer Stimme, der mir immer von neuem ihre beispiellose Güte und Freundlichkeit offenbarte. Nach den tapfersten, langwierigsten Kämpfen gegen meine Liebe brauchte es je weilen ein einziges Wort von ihr, und wäre es nur ein freundlicher Gruß, so konnte ich nicht anders als sie halt einfach wieder liebhaben. Schwer, jemand nicht liebzuhaben, der durch und durch edel und gut ist!

Schulkrieg

Nicht von der gewöhnlichen Schulfeindschaft ist hier die Rede, die jeder Junge verspürt, die auch ich einst verspürt hatte, eine Feindschaft, die sich bloß auf den Zwang, die Freiheitsentziehung und die Keifereien der Lehrer gründet: von etwas Ernsterem. Ich war mit sechzehn Jahren an Körper ein Erwachsener, an Geist eine keimende Persönlichkeit; ich gehörte nicht mehr in die Schule. Gewiß können die Lehrer nichts dafür, wenn ihnen etwas Abnormes in die Schule läuft; aber ich konnte ebenfalls nichts dafür, daß ich Abnormer noch in die Schule mußte. Meine Aufgabe war unter diesen Umständen, das rätselhafte Ding, das in mir keimte und das ich als etwas dem Schulstoff an Wert Überlegenes verspürte, gegen die Zumutungen der Schule zu verteidigen; und diese Aufgabe erkannte ich klar. Nicht als ob ich das Wissen verachtet hätte, ich kenne sogar den Wissensdurst; allein es war mir nicht erlaubt, wissen und lernen zu wollen, während ich fühlte, daß Besseres, nämlich Schöpferisches sich in mir regte. Wenn heute, während ich ein Werk in der Seele trage, am Morgen um acht Uhr ein Professor der Mathematik, um neun Uhr ein Professor des Lateinischen und den ganzen Tag lang bis zum Abend ein Professor nach dem andern in mein Zimmer kommen wollte, jeder mit dem Anspruch, daß ich ihnen je eine Stunde lang zuhören sollte, so würde wohl jedermann es billig finden, daß ich ihnen sämtlich die Türe wiese. Nun, genau mit demselben Recht konnte ich mir damals den Schulunterricht verbitten; denn ich trug noch etwas viel Wichtigeres in der Seele als ein Werk, nämlich das Werden meiner Persönlichkeit, aus welcher später Werke hervorgehen sollten. Nur lag es leider nicht in meiner Macht, den Professoren die Tür zu weisen; ich wurde im Gegenteil gezwungen, mich zu ihnen in die Schule zu verfügen und ihre Weisheit zum Schaden meiner schöpferischen Keime über mich ergehen zu lassen. Da ich aber keine Ahnung von der kunstvollen Erziehungspyramide hatte, welche von der Behörde auf ein Reglement, vom Reglement auf die Inspektoren und Examinatoren, von den Inspektoren und Examinatoren auf die Lehrer und von den Lehrern auf die Schüler drückte, schrieb ich die Schulübel einzig den Lehrern zu und taufte diese »Seelenmörder«, deswegen weil sie mir mit ihrem zwangsweisen Unterricht und ihren Aufgaben die Zeit für meine bessern, schöpferischen Aufgaben raubten.

Zunächst stand fest, daß ich mir für mein Innenleben so viel freie Zeit retten mußte als möglich. Aufgaben? Das fehlte noch, daß man mir nach dem Tage noch die Abende zerstörte! Um Aufgaben zu machen, sind die Schulstunden da. Immer in einer Stunde die Aufgaben für die nächste erledigen! Auch die Eisenbahnfahrt nach Basel gehörte den Aufgaben. Den französischen Aufsatz zum Beispiel ließ ich mir in der Eisenbahn von Gobat, dem jetzigen Erziehungsdirektor, machen und schrieb ihn in der ersten Schulstunde ab. Die Aufgaben waren meistens noch naß, wenn ich sie einlieferte. Bloß der deutsche Aufsatz für Wackernagel machte eine Ausnahme. Den schrieb ich am letzten Abend bis tief in die Nacht hinein. Dadurch geriet ich natürlich in den Ruf eines »unfleißigen« Schülers. Ich war jedoch nicht unfleißig, sondern an einer andern Stelle mit wichtigen Aufgaben fleißig; wie ich denn alles mit bestem Gewissen tat.

»Seelenmörder« verdienten eigentlich den Haß. Allein der Haß ist ein häßliches Gefühl. Um dem Haß zu entrinnen, versuchte ich es mit dem Spott und dem Hohn. Den gewöhnlichen Schülerstreichen, in welchen ich meistens der Anstifter und Anführer war, fügte ich noch eine besondere Nummer bei: ich merkte mir jedes Lehrers eigentümliche Zornesäußerungen, stellte sie zu einer Generalverhöhnung zusammen und wollte das in Form einer Ouvertüre in Töne setzen, in welcher ein Lehrer nach dem andern mit seinem komischen Gepolter auftreten müßte, so wie ein Komponist in einer Pastoralsymphonie jetzt den Hammel, jetzt den Hahn, jetzt den Ochsen auftreten läßt. Wer mich auszankte, erreichte damit bloß, daß er mir Material für meine ›Ouvertüre‹ lieferte. Diese Ouvertüre sprach sich unter meinen Schulkameraden herum, wurde freudig erwartet, und als sie ausblieb (weil ich nicht Partitur zu schreiben verstand), wurde das als eine bittere Enttäuschung empfunden.

Trotzdem entrann ich auf die Länge dem Haß nicht. Der Haß übermannte mich, als ich genötigt wurde, meine Lehrer außer »Seelenmörder« überdies »Giftmischer« zu taufen. Mit dem Vorwurf »Giftmischer« meinte ich folgendes. Der »unfleißige« Schüler erhielt begreiflicherweise immer schlechtere Zeugnisse und kam immer niedriger in den untersten Rang zu sitzen. Wenn ich dann das Zeugnis und die Rangnummer nach Hause trug, erhielt ich zwar dank der Güte meiner Eltern keine Vorwürfe; aber mein Vater machte ein ernstes Gesicht, und über das Auge meiner innig geliebten Mutter zog eine Trübung. Deshalb, weil sie mir den Blick meiner geliebten Mutter trübten, wenn auch nur für einige Minuten, taufte ich sie »Familienvergifter« und »Giftmischer«, und dafür haßte ich sie, und zwar grimmig, mit mörderischer Inbrunst.

Wie äußert aber ein ohnmächtiger Schulbub seinen Haß gegen die mächtigen Lehrer, die ihm mit einem Wort die ganze Zukunft zerstören können? Ihnen den Haß mit Worten ins Gesicht schreien durfte ich meiner Eltern wegen nicht; ich wäre ja sofort mit Schimpf und Schande aus der Schule gejagt worden. Aber ihn mit den Augen ihnen in die Augen stechen, das konnte ich, und das tat ich. Wenn je Blicke verständlich sind, so haben sie diese Blicke verstanden. Wenn wir zur sogenannten Kollokation, das heißt zur Ranganweisung vor dem versammelten Lehrerkollegium erschienen, so riefen meine feindseligen Blicke jedem einzelnen Lehrer zu: »Gelt, du schaust auf den Boden? Gelt, du wagst es nicht, deine Blicke mit den meinigen zu kreuzen? Weil du schuldbewußt bist, weil du weißt, daß du mir zu Unrecht einen niedern Rang anweisest.« Und dem Gesamtkollegium schrien meine Blicke entgegen: »O ihr Geistesinvaliden! Ihr, die ihr mit allem, was da lügt, einen schlauen Kompromiß geschlossen habt, wie wagt ihr überhaupt, mir Rangnummern und Zeugnisse zu verschreiben? Was habt ihr denn vor mir voraus? Nichts als euer Alter. Was ist das für ein Verdienst, das Alter? Eine Krähe, ein Elefant wird alt. Im Gegenteil, euer Alter gereicht euch zur Schande! Denn ihr habt, da ihr mit fünfzig und sechzig Jahren noch nichts Rechtes seid, bewiesen, daß niemals etwas Rechtes aus euch werden wird, während aus mir, obschon ich gegenwärtig noch nichts bin, einmal noch etwas werden kann. Und wie schamlos ihr euere Schande tragt! Führt im klaren, säubern Sonnenschein am hellen Tage euer Nichts in den Straßen spazieren. Ich, wenn ich nicht spätestens mit sechsunddreißig Jahren zum mindesten auf der Höhe eines Schubert stehe, so schieße ich mich vor Schande tot. Voyons, Wackernagel, der du es besser weißt, der du mich kennst, ein bißchen Mut! Steh auf, schleudere den Lügnern deinen Protest ins Gesicht! Du tust das nicht? Mitleid mit dir, armer christlicher Wackernagel! Du hast die Gelegenheit verpaßt, eine schöne, edle Rolle zu spielen.«

So sprachen meine Blicke in der Kollokation, und ähnlich lauteten Bemerkungen von verwegener Kühnheit in meinen Aufsätzen. Um nur eine einzige zu erwähnen: in meinem Abiturientenaufsatz schrieb ich klar und deutlich: »Ich trete jetzt aus der Schule ins Leben über, das mich anders taxieren wird, als mich die Schule taxiert hat, und wo es heißen wird: Die Letzten werden die Ersten sein.« Ein Pastor, der den Aufsatz las, soll darüber in helle Wut geraten sein. Das freute mich; denn Wut zu erregen hatte mein Grimm just beabsichtigt.

Ich konnte mir nicht verhehlen, daß ich mich mit solchen Hassesäußerungen der Gefahr aussetzte, einmal plötzlich aus der Schule zu fliegen; und wer mitunter Anspielungen fallen ließ, die dahin zielten, war Jacob Burckhardt, dessen kühle Art ich überhaupt am meisten fürchtete. Die Ausweisung wäre auch das Schrecklichste gewesen, was mir begegnen konnte. Allein mein Grimm hatte eine solche Macht über mich gewonnen, daß der Verstand nicht mehr zu Worte kam. Wie eine verwundete Wildkatze dem Jäger vor Wut ins Gesicht springt, ohne zu erwägen, daß sie von den Hunden zerfleischt werden wird, so sprang mein maßloser Kampfzorn unvernünftig gegen meine Lehrer. Daß ich gleichwohl nicht aus der Schule gewiesen wurde, daß man mich gnädig auf die Universität durchschlüpfen ließ (unten durch), dafür weiß ich dem weitherzigen Basler Pädagogium mit seinen wohlmeinenden, gutartigen Lehrern Lob und Preis. Sie hätten das volle Recht gehabt, mich zu relegieren und mir damit meine Zukunft zu zerstören; sie haben vorgezogen, sich durch grenzenlose Nachsicht meinen Dank zu verdienen.

»Verzweiflungen«

In meiner Erinnerung nimmt sich mein Allgemeingefühl in der zweiten Hälfte des Winters 1861/62 mitternächtig schwarz aus, und in meinen Tagebuchnotizen finde ich, damit übereinstimmend, öfters den Satz: »Ich verzweifelte wieder.« Daß es sich um etwas sehr Ernstes handelt, beweist eine Stunde, in welcher ich mit denselben Gedanken am Rhein stand, wie der Narrenstudent meiner »Mädchenfeinde« an der Aare. Eine Anwandlung zu »baden« (im Februar) meldet über jene Stunde das Tagebuch euphemistisch. Den Ernst der »Verzweiflungen« bezeugt auch der Eindruck, den mein Freund von meinem Zustand erhielt. »Jeder andere«, urteilte er später, »wäre dabei zugrunde gegangen. Es brauchte deine Seelenstärke, um heil daraus hervorzutauchen.« Diese Verzweiflungen später nachzufühlen, zu begreifen und zu erklären, wenn sie vorüber sind, ist schwierig; wer kann nachfühlen, wie furchtbar ein Zahn, der ausgezogen ist, einst wehgetan hat? Mein ganzes Leben tat mir damals weh, und ich wußte nicht, wohinaus mit meinem Weh, um es zu ertragen. Und das ist in der Tat eine richtige Verzweiflung. Ich will versuchen, einige Elemente jenes unleidlichen Zustandes aus dem Gedächtnis heraufzuholen.

Vor allem die Pubertätsmelancholie. Es gibt eine solche, sie ist eine furchtbare Gemütskrankheit, viel verbreiteter, als man glaubt, und tritt in besonders schweren Formen dann auf, wenn einer keine Ahnung von der körperlichen Grundlage seiner Unseligkeit hat, mit andern Worten, wenn einer von den natürlichen Veränderungen und ihrem Einfluß rein nichts weiß. Die Pubertätsmelancholie genügte für sich allein, um die öftern »Verzweiflungen« zu erklären.

Dann der Wurm vom Langen Hag her. Ich suchte in ewiger Unruhe etwas, das ich nicht hatte und nicht fand und das mir dringend fehlte. Damals meinte ich, ich suche »mich«. Das »Ich«, glaubte ich, fehle mir. Jetzt verstehe ich besser, was ich damals suchte: meinen wahren Beruf. Im Beruf und einzig dort war mein »Ich« zu finden.

Dann der Zusammenbruch meiner Malerei. Die letzten Monate des vergangenen Jahres waren in angespannter Tätigkeit verlaufen, Arbeit außen, Phantasiequellen innen; seit dem Neujahr umgähnte mich das Nichts.

Dann die unglückliche Liebe. Meine Liebe hatte mich einst beglückt und beseligt, solange sie nichts begehrte und wünschte. Nachdem ich aber einmal dahin gelangt war, die Erwiderung zu ersehnen, wurde sie zu einer unglücklichen. Und unglückliche Liebe ist durchaus nichts zu Belächelndes; auch sie kann für sich allein Verzweiflung hervorrufen.

Und dann noch ein Element der »Verzweiflung«, vielleicht das wichtigste von allen, das mir eigentümlich ist: die Naturverzweiflung. Ich meine die Verzweiflung, die beim Anfühlen und Mitfühlen des Naturwaltens entsteht. Schon allein das winterliche Übergewicht der Nacht über das Licht hat mehr als einmal in meinem Leben einen Zustand in mir erzeugt, welcher als eine Gemütskrankheit zu deuten ist. Ich weiß von Dezembermelancholien. Auch die herbstlichen Veränderungen der Atmosphäre (wohlverstanden nicht etwa der pflanzliche Herbst der Lyriker, ich sage Veränderungen des Luftkreises) haben schon nachhaltige Trauerstimmung in mir hervorgerufen. Und meine Beobachtungen haben mich dazu geführt, zu vermuten, daß man den chemischen Stoffwechsel des eigenen Körpers spürt, wie der Vogel die Mauser, und daß man mit dem Geruchsinn echtere Weltwahrheit schöpfen kann als mit den grübelnden Gedanken. Doch was will ich viel reden über Dinge, die das Wort nicht wiedergeben, sondern nur entstellen kann? Ich glaube, wenn ein junger Mensch in seinem Tagebuch verzeichnet: »Visionen bis zur Verzweiflung gesteigert: eine teuflische Macht, welche über die göttliche die Oberhand hat« (22. Oktober 1861), so ist hinreichend erklärt, warum ein solcher Mensch »Verzweiflungen« unterworfen war.

Und nun rechne man das alles zusammen und noch einiges dazu, was meinem Gedächtnis entschwunden ist.

Fastnacht

Ob einer noch so traurig ist, er setzt doch einen anständigen Hut auf, wenn er ausgeht. Ob ich schon an chronischer Verzweiflung litt, an der Fastnacht mußte ich anständigerweise mich verkleiden und mit einer Trommel auf der Straße herumziehen. Das war ich als ehemaliger Tambourmajor der Basler Kadetten doppelt schuldig. Und mein Vater, der ehemalige Staatskassier der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der künftige Obergerichtspräsident des Kantons Baselland, mochte mittrommeln, denn er war in Basel aufgewachsen.

Sonst stand ich mit meinem Vater nicht mehr auf dem besten Fuße. Er war mit meinen künstlerischen Allotria und meinen täglichen Besuchen im Pfarrhaus nicht einverstanden; auch mißfiel ihm, daß ich seinen abendlichen Privatvorträgen über die Donatio inter vivos oder über die Usucaption, die er mir zu vergönnen gedachte, beständig entwischte. Aber wenn es sich um eine nationale Angelegenheit wie die Fastnacht handelt, wer wird da so kleinlich sein, solcher privater Verstimmungen zu gedenken. Und da seine Trommelkunst der Auffrischung bedurfte, ließ er sich von mir sanft wie ein Lämmlein Unterweisung im Wirbel, in den Schleppstreichen, und wie die Kunststücke alle heißen, mit rührender Geduld gefallen.

Und als mir Papa hinreichend reif erschien, gingen wir zusammen auf der Straße trommeln.

In einer Wirtschaft kehrten wir ein. Dort befand sich unter andern ein fesches Mädchen mit herausfordernden Augen, das eine eiternde Hand verbunden hatte. Einer der Gäste setzte sich zu meinem Vater und hielt ihm einen Vortrag. Er müsse sich mit diesem Mädchen zusammentun, damit die Schweizerrasse verbessert werde und das Vaterland einen schönen, gesunden, kräftigen Nachwuchs erhalte. Mein Vater wehrte mit stummem Kopfschütteln ab, und ich machte mir Gedanken in verschiedenen Richtungen. Einerseits verspürte ich gegen das »Zusammentun« keine grundsätzliche Abneigung, anderseits erschien mir die eiternde Hand nicht gerade als das beste Vorzeichen für einen »schönen, gesunden, kräftigen Nachwuchs«. Die Rassenverbesserin ist dann das Jahr darauf als Kindsmörderin ins Gefängnis gekommen.

Einem andern Fastnachtsstil huldigte meine Mama. Sie verkleidete mich als Mädchen, rundete mich gebührend aus und schickte mich mit der Gitarre bei unsern Hausfreunden herum. Merkwürdig, was für eine eigentümliche, ich möchte fast sagen nervöse Wirkung die Verkleidung eines Buben in ein Mädchen auf die Weiblichkeit ausübt. Die Geschlechterverwechslung tut ihnen offenbar innig wohl, so aufgeregt äußert sich ihre Freude über den Anblick. Sogar zu Herzen kanns ihnen gehen. Vor zwei Jahren, nachdem ich an der Fastnacht als Mädchen umhergegangen war, erwartete mich vor der Schultür ein rotwangiger, mehlblonder Bäckerbursch. Er habe mir einen Auftrag von seiner Meisterstochter auszurichten: sie hätte mich als Mädchen verkleidet gesehen, meldete seine Redekunst, sie wolle deshalb wissen, ob sie Gegenliebe finde oder nicht. Ich verspürte nicht das mindeste romantische Gefühl bei dieser Liebesbotschaft, nur eine Höllenangst, daß es Strafaufgaben absetzen werde, falls ein Lehrer den verwünschten Bäcker neben mir erblicke und sich neugierig erkundige, was der mit mir wolle. »Ja, was soll ich jetzt der Meisterstochter antworten?« »Nichts, nichts!« Und rettete mich eiligen Laufes vor dem gefährlichen Mehlwurm.

An der heurigen Fastnacht verfügte ich mich mit der Gitarre, als Mädchen verkleidet und maskiert, unter anderem auch zu meinen Freunden ins Pfarrhaus. Eine fremde Klaviervirtuosin namens Marie Trautmann war zufällig dort, die von den hiesigen Fastnachtsbräuchen nichts wußte und sich vor dem großen maskierten Menschen fürchtete. Nachdem sie lächelnd über die friedliche Gesinnung des Carlo dolce belehrt worden war, mußte ich nach abgelegter Maske meine Gitarrenkünste zeigen. Es waren ziemlich schwierige Variationen in A-Dur, die ich spielte, über ein Thema aus der »Weißen Dame«, wenn ich nicht irre, und Frau Pfarrer, die selber auch Gitarre zu spielen verstand, spendete meinem Spiel unverhofftes Lob.

Das alles unbeschadet der chronischen Traurigkeit, die ich sofort von neuem vorfand, als ich mich aus einem Mädchen wieder in einen Buben verwandelte.

Aufruhr der Eingebornen gegen das Pfarrhaus

An der nämlichen Fastnacht zog über dem Pfarrhaus ein schwarzes Ungewitter auf; die Liestaler, von jeher ein revolutionäres Völklein, dachten das Pfarrhaus zu stürmen. Sonst kamen sie vortrefflich mit der Familie Widmann aus; der Pfarrer war wegen seiner Leutseligkeit beliebt, die Frau Pfarrer geehrt und verehrt, Anna wegen ihrer Freundlichkeit und Bescheidenheit gerne gelitten; einzig dem Pepi, wegen seiner auffallenden Eigentümlichkeiten, boten alle Spott und einige Haß. In diesem Winter aber ereignete sich ein jäher, wilder, nicht ungefährlicher Aufruhr gegen die Familie Widmann. Das kam so:

Ein konfuser, eifriger, wohlmeinender, nicht unbegabter musikalischer Scharlatan namens G(augler) hatte die Liestaler bezaubert und behext, dadurch, daß er aus reinem, selbstlosem Eifer ein Dilettantenorchester aus der Liestaler Bubenschaft zusammentrieb, mit diesem Orchester Konzerte gab und mit ihm in den Straßen herumzog. Er meinte es vortrefflich, teilte den Buben seinen konfusen Feuergeist mit, aber er selber hatte keine musikalische Vorbildung, und sein ganzes Treiben war, künstlerisch beurteilt, ein gen Himmel schreiender Humbug, eine unglaublich abenteuerliche Komödie, eine lächerliche Orgie, die den Hohn herausforderte. Der Hohn erschien denn auch, in Gestalt eines anonymen Zeitungsartikels.

Nun ward vermutet, entweder der Pfarrer oder der Musikdirektor Häring oder am wahrscheinlichsten der Pepi hätte diesen Hohnartikel verübt. Hohn auf Dilettantenvorführungen ist aber das Gefährlichste, was einer in der Schweiz tun kann; Regierungsräte beschimpfen und verlästern, meinetwegen; schön und gut; aber Dilettantenvorstellungen – potztausend! Das ist etwas Unantastbares! Ein furchtbarer Sturm des Zornes und des Hasses brach gegen das Pfarrhaus und insonderheit gegen den Pepi los; man sprach von Fenstereinwerfen, sogar von Schlimmerem. Mit großer Mühe gelang es, die Leute soweit zu beschwichtigen, sich mit einer Katzenmusik am Fastnachtmontag zu begnügen. Aber versprechen ist nicht halten; die Sache blieb noch immer gefährlich; ein unvorsichtiges Wort aus dem Pfarrhaus während der Katzenmusik, das als Herausforderung konnte gedeutet werden – wer konnte vorauswissen, was dann geschah.

Das alles hörte und sah ich als Liestaler mit an; und wenn meine Stellungnahme mir nicht so klar vorgezeichnet gewesen wäre, würde ich in eine schwierige Lage geraten sein. Auf der einen Seite meine lieben Freunde, die Familie Widmann, auf der anderen Seite meine Mitbürger und Verwandten – allein nichts ist schwierig, wenn man weiß, was man soll. Ich begab mich ins Pfarrhaus, um mit meinen Freunden die Gefahr zu teilen, und blieb dort, bis ich sicher wußte, daß die Gefahr vorüber war. Die Katzenmusik wurde denn auch richtig ausgeführt; aber da sich nichts im Pfarrhaus regte, hatte es damit sein Bewenden.

Nachher flaute der Sturm ebenso schnell wieder ab, wie er gekommen war; einzig der Pepi bekam noch eine Zeitlang die Feindlichkeit unangenehm zu spüren. Und bemerkenswert: mir wurde es nicht nachgetragen, daß ich bei diesem Anlaß mich auf die Gegenseite gestellt hatte. Die Liestaler sind eben nichts weniger als bösartig, vielmehr gutmütig, trotz ihrem revolutionären Blute. Aber freilich, wenn einer ein Dilettantenorchester aushöhnt!

Das deutsche Mädchen

Ein deutsches Mädchen ist, wie ich vermute, in Deutschland keine Seltenheit; in Baselland zu meiner Jugendzeit war es eine. Freilich eine Frankfurterin oder eine Schwäbin oder eine Sächsin oder eine Berlinerin bekam man vielleicht alle paar Jahre einmal zu Gesicht; allein nicht das ist es, was ich mit einem deutschen Mädchen meine. Ich meine ein Mädchen, das nicht in ihrer Sprache, in ihrer Art, in ihren Reden eine bestimmte Stadt oder Gegenwart Deutschlands vertritt, sondern Deutschland im allgemeinen, und zwar das Deutschland, wie man sichs draußen vorstellt oder wenigstens sich einst vorgestellt hat: das sinnige und versonnene Deutschland. Kurz, ich meine das deutsche Mädchen der Poesie, der Volkslieder, der Märchen, der Schwind und Ludwig Richter. Mit dieser verklärten Phantasievorstellung des deutschen Mädchens war ich durch Bücher und Bilder vertraut, gesehen dagegen hatte ich bisher nichts dergleichen.

In der Tochter eines deutschen Flüchtlings entdeckte ich jetzt die leibhaftige Verkörperung des deutschen Mädchens der Poesie. Ich würde in Verlegenheit kommen, wenn ich sagen müßte, auf welchen Vorzügen ihr Reiz beruhte: sie war zwar hübsch, aber nicht schön; sie offenbarte keinen Geist, da sie fast kein Wort sprach; man wußte nichts von ihren Talenten, aber ihre Gegenwart wirkte wie eine Blume. Und zwar nicht etwa bloß auf mich. Als ich an der Fastnacht 1862 die Ehre hatte, auf dem Ball ihr Tänzer zu sein, kam mein Vater, der wahrlich kein Schwärmer war, hastig in freudiger Aufregung auf mich zu: »Sag, was ist jetzt das für ein entzückendes, bezauberndes Geschöpf gewesen, mit dem du soeben getanzt hast? So lieb! So lieb wie ein Blümelein, wie ein Röselein, wie alles, was man sich von einem Mädchen Anmutiges vorstellt.« Und er hatte noch nicht ausgesprochen, so erschien der Staatsanwalt mit der nämlichen Frage, fast mit denselben Worten.

Das deutsche Mädchen hieß ebenfalls Anna. Wegen der andern Anna achtete ich ihrer nicht nach dem Maße ihres Wertes. Aber später, im fernen Rußland, führte mich zu meinem Erstaunen öfters ein wehmütiger Traum übers einsame Feld nach dem stillen Häuschen und Gärtchen des deutschen Mädchens, mich belehrend, daß sie meinem Herzen lieber gewesen war, als ich wußte.

Das deutsche Mädchen ist längst tot. Das Wort »Pathos«, das ich in meinem »Olympischen Frühling« am Schluß des Gesanges »Dionysos« aus meinem Herzen als Segen über alle die Toten aussprach, die mich ein wenig liebhatten, gilt vornehmlich auch dem deutschen Mädchen.

Hüttchenbauer

Gegen Ende März, die Veilchen blühten schon, Frühjahrslichtschimmer gespenstete über den Dächern zwischen den Wolken, Werdeodem wehte vom Felde her durch die Stadt, witterte ich auf dem Schulweg, durch die Straßen Basels gehend, aus einem Hofe Holzgeruch und erblickte hinschauend Reisigbündel. Dieser Holzgeruch weckte eine Sehnsucht in mir und die Sehnsucht einen Einfall: ich möchte ein Hüttchen im Walde bauen. Das war meine Frühlingslyrik. Ein anderer hätte aus dieser Stimmung ein Gedicht geboren, ich, dem jeder Gedanke an Dichten fernlag (das Dichten besorgte der Pepi), gebar daraus mit meiner Phantasie ein Waldhüttchen. Und warum sollte das Hüttchen bloß in der Phantasie, nicht in der Wirklichkeit wohnen? Ich sehe nicht ein; hatten wir doch einst als Kinder in der Berner Wengerschule auch wahrhaftige, sichtbare, sogar wohnliche Laubhütten gebaut, im Walde über dem Zehendermätteli. In ein paar Stunden waren sie fertig geworden, mit Anleitung der Lehrer und eifrigem Fleiße von hundert Schülern.

Jetzt fehlte mir zwar der Lehrer, aber einen Freund hatte ich. Denn Pepi leuchtete der Einfall ein, und so gingen wir an die Ausführung. Erst wurde ein geeigneter Platz gesucht, ein möglichst geheimnisvoller, versteckter, entfernter, den niemand aufzuspüren vermöchte. Auf der Rückseite eines Waldhügels, der in der Richtung nach dem Dorfe Lausen schaut, Windental oder Wiedental hieß die Stelle, und der Hügel, wenn ich nicht irre, Humbeler, glaubten wir den richtigen, unentdeckbaren Platz gefunden zu haben. Und nun machten wir während vierzehn Tagen die Baumeister, bald einzeln, je nachdem einer Zeit fand, bald gemeinschaftlich. Ich schleppte Holz herbei, am andern Tag war es weg. Rätselhaft. Dann schlug ich Pfähle in den Boden, die blieben. Hernach heftete mir Pepi ein Freundschaftsgedicht als Gruß an das angefangene Hüttchen. Als er mich zu dem Gedicht führte, o Überraschung, war das Gedicht verschwunden. Unbegreiflich. Minder naive Jungen hätten aus den gespenstigen Verschwindungen etwas geschlossen. Wir schlossen nichts, sondern bauten getrost weiter, glücklich darüber, ein eigenes Haus, einen unauffindbaren, unentweihbaren Freundschaftstempel zu besitzen, den niemals ein gemeines Auge mit einem rohen Blicke wird beleidigen können.

Da überraschte uns eines Abends eine marktschreierische Ankündigung in der Zeitung: »Die Hüttenbauer. Komische Oper von Hölliker und Knopf. Musik von Knopf. Die Dekorationen sind von Hölliker verfertigt.« Knopf war Pepis Übername in der Schule, Hölliker der meine; die Absicht war klar, es sollte eine Satire auf unsere architektonische Lyrik sein. Neben der allgemein menschlichen Spottlust bezog die Satire ihr etwas fades Salz aus der Gereiztheit gegen das Pfarrhaus. Es war ja seit der Katzenmusik noch kein Monat vergangen. Unserem Gelüsten, der Satire mit feinem, fröhlichem Geist zu antworten, wehrte wohlweislich mein Vater. »Wenn ihr noch so fein antwortet, so kommt eine sackgrobe Erwiderung.«

Schließlich wurde eine Hausweihe in Szene gesetzt; alles Weibliche aus dem Pfarrhaus zog mit uns in die fertige Hütte. Allein es war kein rechter Segen über diesem Zug, jedermann war verstimmt, es lag Verdruß und Zank in der Luft. Begreiflich, mehr noch: symbolischen Freundschaftstempeln bekommt die Zuziehung der Weiblichkeit nicht gut.

Die märchenhafte Freundschaftswanderung

Pepi mußte zu Ostern nach Heidelberg auf die Universität. Vorher machten wir noch eine mehrtägige Wanderung durch Baselland zusammen. Meine Erinnerung hat diesen Ausflug als eines der schönsten und glücklichsten Abenteuer meines Lebens im Herzen behalten, mit Recht; die Zeitdauer aber hat mein Gedächtnis wegen der beispiellosen Fülle der geistigen und gemütlichen Erlebnisse gewaltig überschätzt. Ich hatte gemeint, diese Wanderung hätte zwei Wochen gedauert, schriftliche Zeugnisse aus jener Zeit beweisen mir, daß sie bloß dreiundeinhalb Tage gewährt hat, vom Donnerstag vor Palmsonntag bis zum Palmsonntag. Die nämliche Täuschung wie nach einem inhaltsreichen Traum; man meint, man hätte stundenlang geträumt, während es in der Wirklichkeit bloß einige Sekunden waren.

Und sie war auch ein Traum, jene Reise, eine Wanderung diesseits der Wirklichkeit, ein Märchen. Wie soll ich es anfangen, unsern Gemütszustand glaubhaft zu beschreiben und begreiflich zu erklären? Man denke sich zwei Freunde, die sich innig liebhaben, sich verstehen, einander hochschätzen und verehren, deren Seele im Rhythmus der Poesie und Kunst rein und hoch schwingt, deren Geist mit den wichtigsten Fragen des Wissens und den ernstesten Plänen der Zukunft schwanger geht, die jung und frisch sind, so daß ihnen der Augenblick bedeutend wird und daß sie den Ewigkeitsgehalt der Gegenwart fühlen, die beide begabt und gedankenregsam sind; man denke sie sich durch Idealität und Naivität von der Wirklichkeit, durch welche sie wandeln, wie von einem strahlenden, durchsichtigen Vorhang getrennt, von der Bevölkerung, welche ihnen begegnet, durch eine andersartige Erziehung und Umgebung auf gewaltige geistige Distanzen entfernt, so daß sie durch das heimatliche Baselland wandern wie durch Afrika und jedes Bäuerlein mit neugierigen Blicken wie eine ethnographische Merkwürdigkeit anstaunen; man denke sich endlich noch die allerwichtigste und allervorteilhafteste Bedingung für ein echtes Reiseglück erfüllt, daß man kaum eine Ahnung hat, wohin und durch welche Gegenden man kommt, so daß man auf Schritt und Tritt abenteuerliche Überraschungen erlebt, eine Bedingung, die ich um so leichter erfüllen konnte, als ich von der Geographie der Erde nicht viel mehr wußte als von der Geographie des Mondes, so wird man vielleicht ungefähr erraten können, was vernünftig zu sagen mir nicht möglich ist. Bei mir kam denn noch etwas Besonderes dazu: die angeborene Gewohnheit, mit Maleraugen zu sehen, das heißt aus jeder Gruppierung der Dinge eine Seele zu lesen und eine Empfindung zu gewinnen, einen Strauch, einen Streifen Bach, eine Windung des Weges als Ahnung oder Gleichnis zu deuten, in einer Wolke, in einem Lichtschein, in einer Perspektive Wunder zu entdecken. Kurz, jeder Augenblick Stimmung, und zwar hochgespannte, ekstatische Stimmung. Und das während dreier langer Tage, ununterbrochen und ungestört, an der Seite des Freundes.

Auf dieser Wanderung geschah auch das Wunder, daß ich, der Verschlossene, dem man sonst fast mit einem Stemmeisen die Zähne auseinanderbrechen mußte, um ein Wort herauszubekommen, mich der Sprache bediente. Wir tauschten da zum ersten Mal unsere Gedanken in zusammenhängender Kette aus. Vieles ist da zwischen uns gesagt worden, was wert gewesen wäre, daß ich es behielte, was ich aber vergessen habe, weil der Gemütsgehalt der Wanderung meiner Erinnerung wichtiger war als der Geistesgehalt. Nur zwei Gesprächsgegenstände hat mein Gedächtnis aufbewahrt: das deutsche Märchen – mein Kindheitsbesitz –, das mich auf diesem Reisemärchen wie eine poetische Nebenlinie in der Phantasie begleitete, ferner eine Belehrung, die mir Pepi über das Kunstideal Richard Wagners erteilte, wodurch er mich zu einem theoretischen Wagnerianer machte. Er wieder wollte sich bestimmt erinnern, ich hätte ihm damals ins Gewissen geredet und ihn dadurch endgültig vom christlichen Glauben zur Wahrheit bekehrt. Ich weiß hievon nichts mehr; allein Widmann hat mir das noch in seinem letzten Lebensjahr so fest versichert, daß ich kein Recht habe, seine Erinnerung anzuzweifeln.

Viel wichtiger als diese geistigen Ergebnisse war für mich ein anderer Gewinn. Auf jener Wanderung siegte die Freundschaft über die Liebe, der Freund wuchs in meinen Augen über die Geliebte empor; von jetzt an wurde mir Pepi wichtiger als Anna. Begreiflich: Anna tat mir wehe, Pepi verursachte mir keine Schmerzen, brachte mir vielmehr Trost und Glück; Anna demütigte mich (das heißt in meiner Einbildung), Pepi erhob mich; Anna verstand mich nicht, außer als Maler Carlo dolce, Pepi verstand mich, mehr noch, er erriet in mir den, der ich später wurde. Den Freundschaftsbund hatten wir schon das Jahr zuvor geschlossen, den ganzen Freundschaftssegen erfuhr ich erst jetzt, auf der gemeinsamen Wanderung.

Zu sagen über diese Wanderung wüßte ich noch viel, zu erzählen weiß ich wenig. Wir wanderten zunächst nach Waldenburg. Dort besuchten wir den Pfarrer; der war ein korpulenter lyrischer Dichter, so daß er fortwährend von Fett und Begeisterung troff. Ich habe von jeher einen Schauder vor einem Lyriker empfunden; der Schauder wuchs zum entsetzten Grauen beim Anblick dieses orgiastischen Überlaufens. Dann ging es den Hauenstein hinauf nach Langenbruck. Da ich aber von Kind auf einen Widerwillen gegen das Bergsteigen hatte (der Arzt meint: wegen angeborener Lungenerweiterung) und man niemals zum voraus wissen kann, wie hoch ein Berg ist, so mußte mir Widmann zusprechen wie einem kranken Gaul, bis ich mich bergauf entschloß. Doch siehe da, ehe ich michs versah, waren wir schon oben. Das ist mit ein Grund, weshalb ich den Jura den Alpen vorziehe: beim Jura, wenn man meint, man sei unten, ist man oben; bei den Alpen, wenn man meint, man sei oben, ist man unten. Wir übernachteten in Langenbruck, ich bei meinen Verwandten, er im Pfarrhause: am zweiten Tag reisten wir über Eptingen nach Rothenfluh. Dort blieben wir beide beim Pfarrer Rauczka zu Gast, der auch mit meiner Familie befreundet war. In Rothenfluh gab uns die Natur abends eine Galavorstellung: es schneite auf die blühenden Kirschbäume. Es war märchenhaft schön anzusehen, die weißen Spitzengirlanden von Schnee und Blüten in der schwarzen Nacht, so daß ich dadurch in eine Stimmung geriet, die poetisch gewesen wäre, wenn ich damals überhaupt hätte poetisch sein können. Da ich aber nicht poetisch werden konnte, wurde ich musikalisch und glaubte, ein Lied ohne Worte von Mendelssohn zu hören; Chopin hätte besser gepaßt, allein ich kannte Chopin noch nicht. Daß der Schneefall auf die Blüten als unheilbringend müsse beklagt werden, darüber bedurfte ich erst der Belehrung.

Am dritten Tag reisten wir über Maisprach nach Rheinfelden, wo wir bei dem Tabakbesitzer Fischer übernachteten. Dort geschah mir ein großes Geschenk: die zweite Symphonie von Beethoven, vierhändig gespielt. Diese hat mir noch manchen Tag nachher im Herzen wiedergeklungen. Eigentlich, wenn ich meine Lebensgeschichte schreiben wollte, müßte ich von Rechts wegen, ich meine von Wahrheit wegen, viele Hunderte von Seiten mit Musikprogrammen füllen und jedem einzelnen Musikstück ein eigenes Kapitel einräumen, berichtend, wo und wann und von wem ich ein bestimmtes Werk zum erstenmal hörte und wie es auf mich wirkte; denn das bedeutete für mich jedesmal ein Ereignis, wichtiger als alles, was mir das Schicksal draußen in der Welt brachte. Das wäre vielleicht sogar die einzig richtige Art, die Geschichte meines Innenlebens zu erzählen. Nur würde das niemand lesen mögen. Also damals in Rheinfelden war es die wunderbare D-Dur-Symphonie von Beethoven.

Joseph Viktor Widmann

Joseph Viktor Widmann zur Zeit der »märchenhaften Freundschaftswanderung«

Als wir schließlich am Palmsonntag heimkehrten, erwachten wir wie aus einem goldenen Traum, wenn es draußen regnet. Beide fanden das gewohnte Alltagsleben nüchtern, schal und leer; beide gingen wir unruhig und unstet umher, wie wer einen kostbaren Schatz vermißt. Wir hatten nicht mehr nötig, miteinander zu sprechen; wir hatten uns alles gesagt. Wir brauchten auch nicht einen gefühlvollen schmerzlichen Abschied voneinander zu nehmen, als Pepi verreiste; die Freundschaftswanderung hatte uns zu innig verbunden, als daß die körperliche Trennung uns hätte viel anhaben können.

Das böse Konzert

Nachdem Pepi fort war, entstand natürlich eine große Lücke. Vernunft und Natur forderten daher, daß die Hinterbliebenen sich noch enger aneinanderschlossen. Am Wunsch und Willen hiezu fehlte es nicht, weder hier noch dort. Man tauschte gegenseitig Nachrichten und Briefe aus; man sah sich öfters, die Klavierstunden bildeten ja immer noch ein äußeres Band. Anna, die sich den ganzen Winter über immer gleich geblieben war, jederzeit freundlich und lieb und gut, fand sogar ein schönes, rührendes Wort: »Mama, führe deinen Sohn ins Zimmer!« sagte sie. Also als Mutter und Schwester empfingen sie mich.

Dennoch war es jetzt nicht mehr das nämliche. Statt einer Lücke gähnte eine Kluft. Der Vermittler fehlte, und wir waren, wie es sich jetzt herausstellte, unfähig, einander unvermittelt zu verstehen. Und dann kam, kaum sechs Tage nach Pepis Abreise, das böse Konzert. Mein Tagebuch meldet über dieses Schicksalskonzert bloß die äußern Begebenheiten, das Programm des Konzertes und ähnliches, aus Konfusion und Scham auf die Erwähnung der Gefühle verzichtend. Dagegen mein Gedächtnis hat dieses fatale Konzert so treu behalten, wie man die Erinnerung an eine furchtbar schmerzliche Operation behält, und noch manches Jahr nachher finde ich in Notizen oder Briefen eine Anspielung an das »böse Konzert«, wie ich es dort einmal nenne.

An sich war nichts Böses daran. Im Gegenteil, es war eine ausgesuchte Ohrenweide. Ein Trio von Beethoven, ein Streichquartett von Haydn wurde gespielt, »Der Rose Pilgerfahrt« gesungen und noch eine Menge schöner, herrlicher Dinge. Man reiste von weitem, um das Konzert anzuhören; namhafte Musiker vom Fach, der Primgeiger und der Cellist vom Basler Orchester, spielten mit, andere Musiker hörten zu; es war ein musikalischer Festschmaus, und alles schwamm in Wonne. Eben darum wurde es für mich das böse Konzert. Ich konnte eben nicht umhin, mein schülerhaftes Nichts im Gegensatz zu all diesen glänzenden Musikern zu verspüren; und wenn ichs nicht von selber verspürt hätte, wäre ich darüber belehrt worden, da Anna, was begreiflich ist und was auch ich begriff, sich lieber mit den berühmten Größen, die Bewunderungswertes leisteten, beschäftigte, als mit einem Buben, dem sie Stunden in Fingerübungen zu geben pflegte, wenn ihre Mutter verhindert war, und der seine Fingerübungen nicht einmal konnte. Meine Gefühle beschreiben? Ja, mit einem Gleichnis: Wenn der arme Lazarus einen Hund gehabt hätte, der hungernd, zitternd und frierend dem Gastmahl des reichen Mannes zugesehen hätte, so würde dieser Hund ungefähr das gefühlt haben, was ich fühlte.

Zu diesem allgemeinen Unheil noch ein besonderes: Der schöne Flüweel (er hieß zwar anders), der berühmte Cellist, der als Mädchenherzenfänger bekannt war (welches Mädchenherz widersteht einem Cello?), hatte es augenscheinlich auf Anna abgesehen, und zwar ganz ernsthaft, mit Hochzeitshintergedanken. Das empfand ich nun geradezu als teuflisch.

Das böse Konzert gab meiner langjährigen Liebe zu Anna den Todesstoß, obschon es noch viele schmerzliche Krämpfe brauchte, bis sie verendete. Nicht als ob ich Anna irgend etwas übelgenommen hätte – ich erhielt auch nicht den mindesten Grund dazu, denn sie blieb sogar jenen Abend freundlich mit mir wie immer; aber ich war fest entschlossen, einen solchen abscheulichen Höllentag nie mehr zu erleben. Und um ihn nie mehr erleben zu müssen, nahm ich meine höchste, hoffnungslose Liebe an den Füßen und schlug ihr den Kopf ein. Der Rest ist bloß noch ein langwieriges Gezappel im Todeskampf.

Ein literarisches Fiasko

Noch eine letzte Hoffnung verblieb mir: wer weiß, vielleicht zwinge ich sie mit einem Drama zur Liebe. Hat sie den Pepi umarmt, wenn er ein Drama vorlas, so kann sie auch mich umarmen. Und warum soll ich nicht ebenso gut ein Drama schreiben können wie er? Allerdings hatte er bei Wackernagel jahraus, jahrein die beste Aufsatznummer erhalten, während ich nur ausnahmsweise die beste, für gewöhnlich die zweitbeste erhielt. Immerhin war ich in meiner Klasse unwidersprochen der Erste bei Wackernagel. Da kann mans wenigstens versuchen; zu verlieren habe ich ja nichts, ich kann nur gewinnen.

Ich hatte das Ding schon in Arbeit, und es handelte von einem Herrn, der neulich den Salineninspektor Glenck um ein paar hunderttausend Franken betrogen hatte; das Thema war demnach aktuell. Schon während der Arbeit erlebte ich aber eine Entmutigung. Ich hatte, eine Äußerung Pepis mißverstehend, gemeint, ein Drama mache man in drei Tagen. Statt dessen brauchte ich volle zehn Tage, um fünf Akte mit einem längern poetischen Vorspiel fertig zu bekommen, so daß ich Wackernagel, der mich fragte, ob mir so ein Drama leicht und gerne vom Stapel laufe, bekümmert antwortete: »Ach nein, es hat mich unendliche Zeit und Mühe gekostet.«

Wie alles, was ich schriftlich von mir gab, war auch dieses Drama ursprünglich einzig als deutscher Aufsatz für Wackernagel gemeint; nur versprach ich mir von diesem dramatischen Aufsatz eine süße Nebenwirkung, wenn ich ihn im Pfarrhaus vorlesen würde.

Die Vorlesung fand statt, unter genau den nämlichen Umständen wie früher Pepis Vorlesungen, vor den nämlichen Zuhörern. Am Anfang ging es herrlich. Das poetische Vorspiel (ungereimt, denn die »Metrik, Poetik und Rhetorik« reichte Wackernagel erst auf der Universität) brachte Rheingeister und Rheinnixen, welchen ich einen Gruß an Pepi nach Heidelberg auftrug. Ich meinte nämlich, Heidelberg liege am Rhein. Man fand die allegorische Wasserfamilie hübsch und poetisch; Frau Pfarrer zeigte sich hocherfreut über den herzlichen Freundesgedanken, Anna war sichtlich bewegt. Zum Lohn für das schöne Vorspiel setzte sie sich ans Klavier und spielte mir mein Lieblingsstück: die Romanze aus dem Mozartschen D-Moll-Konzert.

Als aber das Drama selber anhub, kam es anders. Die Gesichter wurden lang, die Augen trüb, gähnende Seufzer suchten sich schamhaft zu verbergen, die Köpfe bewegten sich unruhig hin und her; schon beim zweiten Akt witterte ich das Fiasko. Und das Schlimmste: ich sah jetzt beim Vorlesen selber ein, daß das Stück ein Quark war. Die Geistesgegenwart, unter irgendeinem Vorwand das Weiterlesen einzustellen, besaß ich nicht, glaubte mich verpflichtet, nachdem ich einmal angefangen, das Ganze zu erledigen, biß also auf die Zähne und las zwischen den zusammengebissenen Zähnen mit tonloser Stimme hoffnungslos einen Akt nach dem andern herunter. Ein förmliches Harakiri. Ai, das abscheuliche Gefühl, zu wissen: »Jetzt kommen noch so und so viele Seiten«, wenn man gewahrt, daß von Minute zu Minute das Mißfallen sich steigert. Mit Mühe unterdrückten die Zuhörer aus Freundschaftsgnaden Äußerungen des Unwillens; Fräulein Wimmer aber unterdrückte den Unwillen nicht, sondern gab, im Zimmer hin- und herlaufend, entrüstete Töne von sich, wie ein Tiger, dem man Kartoffelsalat statt Fleisch unter die Nase hält. Was Anna für ein Gesicht dazu machte, weiß ich nicht, denn ich wagte sie gar nicht anzusehen.

Es war ein fürchterliches Fiasko. Der Schuß war hinten hinausgegangen: statt der schönen Fasanin, auf welche ich zielte, traf ich mich selber, und zwar häßlich, mitten ins Gesicht, welches dadurch auf ewige Zeiten entstellt wurde. Daß ich keine Spur von poetischer Begabung besitze, glaubte man mir schon vorher; jetzt hatte ich einfältigerweise noch den klaren Beweis dafür geliefert. Nun mochte mir Wackernagel noch so gute Aufsatznummern zuerteilen und Pepi noch so viel Rühmens von mir machen, mein literarischer Ruf im Pfarrhaus stand fortan fest: ein Mensch, der zwar alle möglichen Talente hat, aber das Dichten, wovon er nichts versteht (man kann ja nicht alle Talente haben), lieber dem Pepi überlassen soll. Mein Ruf als geborener Nichtdichter hat sich in diesem Kreise von dem Fiasko nie mehr ganz erholt, bis auf den heutigen Tag nicht.

Als dann Widmann in den Ferien heimkehrte und das unselige Zeug las, wollte er aufbegehren und das Verdammungsurteil kassieren. Lieber Freund, das ist zwar rührend lieb von dir, allein diesmal haben die Deinigen recht und nicht du. Das Drama »Potozki« war nicht bloß verfehlt und schwach, es war geschmacklos und taktlos. Brav von meinen Freunden: daß sie es ablehnten, das freut mich innig. Wie es mich jedesmal innig freut, wenn etwas Schlechtes gezüchtigt wird, einerlei, ob ich der Verfasser bin oder ein anderer.

Die beiden Cicerone

Nun hatte ich mehr als genug. Das Alphabet meiner Hoffnungen war beim Ende angelangt, da, wo es heißt: Ypsilon, Zet. Allein es gibt Leute, welche auf das Ypsilon noch einen überflüssigen i-Punkt setzen. Solch einen überflüssigen i-Punkt bekam ich noch auf den Kopf.

Ein ehemaliges Pensionsmädchen kam ins Pfarrhaus Liestal zu Besuch, ein geniales, bemerkenswertes und sehenswürdiges Wesen aus einer berühmten Malerfamilie in Neuenburg. Dieses wollte, von Anna begleitet, sich die Basler Gemäldegalerie ansehen. Ein drittes ausgezeichnetes Fräulein, eine musikalisch hochbegabte Deutsche, für alles Schöne begeistert, die von dem Vorhaben vernahm, schloß sich den beiden an. So kam etwas zustande wie ein Zug dreier Musen oder Grazien in das heilige Reich der Kunst.

Anna hatte den liebenswürdigen Einfall, ihren Carlo dolce, der ja doch selber in Öl gemalt hatte und täglich nach Basel fuhr, auch wahrscheinlich in der Gemäldegalerie Bescheid wußte, zum Cicerone zu ernennen. Kein König und Kaiser kann mit größerer Scheu und Ehrerbietung empfangen werden, als dieses Grazientrio von mir am Basler Bahnhof empfangen wurde, am Nachmittag, mit dem Zweiuhrzuge von Liestal.

Vor der Gemäldesammlung wollten sich die Damen erst noch die Pfalz ansehen, das heißt die Terrasse, welche hinter dem Münster über den Rhein ragt. Ich führte sie also dorthin. Auf der Pfalz nun geschah etwas – wie soll ich es nennen? – Symbolisches oder Gleichnishaltiges, jedenfalls etwas mir Unvergeßliches. Die drei Fräulein stellten sich auf und musterten die Vorübergehenden, mit der Hoffnung, zufällig jemand zu erblicken, der beachtenswert wäre. »Ist das wohl ein Künstler?« lautete jedesmal die hoffnungsvolle Frage. Allein weh, die Frage mußte immer wieder verneint werden. Grausam war ihre Enttäuschung; nirgends, wohin sie auch spähten, ein Mensch zu entdecken, welcher Beachtung verdiente. Ich aber stand daneben und schaute sie mit eigentümlichen Gedanken an.

Nachher begaben wir uns in die Gemäldegalerie. Kaum jedoch waren wir eingetreten, ich hatte noch nicht einmal Zeit gefunden, ihnen die Kupferstiche im Vorsaal zu zeigen, wen sehe ich? Flüweel, den baritonsamtenen Cellospieler. Welcher der beiden Cicerone Anna aber jetzt der wichtigere wurde, das bekam ich zu fühlen. »Sie sprach nur wenig mit mir«, berichtet das Tagebuch. Um vier Uhr mußte ich obendrein zur Schule (eigentlich schon um drei Uhr, doch wagte ich eine Stunde zu versäumen), mithin dem Flüweel das Feld überlassen.

Als ›Philosoph‹ aber konnte ich trotz meiner peinlichen Beschämung nicht umhin, mir eine interessante Beobachtung hinter die Ohren zu notieren. Warum verspürte ich gegen den verwünschten Flüweel nicht die mindeste Feindseligkeit, obschon ich ihn lieber in der Hölle gewußt hätte, von wo er stammte? (Er sah auch danach aus, brandbraun mit kohlschwarzen Augen.) Wir bekomplimentierten uns, lächelten einander ohne Falsch freundlich an, stritten uns sogar ritterlich miteinander herum, wer von uns das Eintrittsgeld für die Damen entrichten dürfe. In welchem Streit ich übrigens Sieger blieb, was mir eine kleine Genugtuung verschaffte; denn wenn ich die Damen freihielt, waren sie meine Gäste, nicht seine.

Abends im Bahnhof traf ich dann das Trio wieder, natürlich in Gesellschaft des baritonsamtenen Höllenschwärzlings, welcher meiner Anna mit seinen großen weißen Zähnen Komplimente fletschte. Endlich, im Eisenbahnwagen, Gott sei Dank, nahm er Abschied. Aber, o weh: »Als er mit Anna sprach, errötete sie«, heißt es in meinem Tagebuch. Das Erröten war das Tüpfchen aufs Ypsilon. Da rief ich »Zet!« Einen Punkt daneben und einen Strich darunter. Ich fuhr sogar mit dem Löschpapier über den Text; allein das Löschpapier taugte nichts: es gab Tintenflecke über den Strich.

Ein Trugschluß

Jetzt hatte ich nur noch einen einzigen Gedanken: weg aus diesem unseligen Pfarrhaus, wo man mich so liebhatte und mir doch so wehtat, wo man mir so viel Wärme entgegenbrachte und wo mich doch so entsetzlich fror. Wie kann einer frieren, wo es warm ist? Wenn er Fieber hat. Und wenn einer Fieber hat, so kennt er nur noch eine einzige Sehnsucht: Ruhe. Ruhe sogar vor denen, die es gut mit einem meinen. Nicht mehr den Gruß »Carlo dolce« vernehmen, nicht mehr die Ypsilanti und Flüweel antreffen oder sonst irgendeinen Primgeiger oder Violageiger oder Cellisten oder Kontrabassisten oder Tuttiquanti, nichts, nichts, nur Ruhe.

Ist es ein Leibesschaden, der einem das Fieber gebracht hat, so geht man heim und legt sich ins Bett. Ist aber die Liebe daran schuld, so flieht man in die Fremde. O wie gerne wäre ich jetzt geflohen, gleichviel wohin, nur weg, weit, weit weg von Anna. Allein daran war gar nicht zu denken. Ich gehörte ja noch ein volles Jahr lang in die Schule. Durfte ich nicht in die Ferne, so konnte ich doch meine Besuche im Pfarrhaus einstellen und (wenn es glückt) vermeiden, Anna an einem dritten Ort zu begegnen. Das tat ich denn mit Fleiß und Eifer. Schränkte die Klavierstunden, die mich ins Pfarrhaus nötigten, möglichst ein, unterließ meine Besuche, schloß das Tagebuch ab, zum Zeichen, daß die Herrschaft Annas jetzt vorbei sei (nur noch wenige flüchtige, lakonische Sätze finde ich nach dem Ciceronetag notiert), lenkte meine Spaziergänge in Gegenden, wo ich nahezu sicher war, sie nicht zu treffen, also vornehmlich zum Obern Tor hinaus nach dem Steinenbrücklein. Es half in der Tat, half sogar mehr, als ich gehofft hatte, es versprach wirklich, ein gültiger Schluß zu werden, das heißt, wenn es so weiter geht, wenn ich ihr nie, nie mehr begegne. Allein gesetzt der Fall, ich begegnete ihr eines Tages, sei es nach Wochen, sei es nach Monaten, werde ich mich dann als geheilt erweisen oder werde ich einen Rückfall erleiden? Offen gestanden, ich war ein wenig neugierig darauf. Einstweilen genoß ich meine Ruhe.


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