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Der Vater daheim

Der lustige Papa

Nachdem wir unsern Vater in Bern abgeholt, nach Beendigung seiner politischen Tätigkeit, wußten wir nichts anderes, als daß er nun wieder in kantonalem Dienst amten, folglich immer in Liestal bleiben werde, und da er sein Bureau im Hause hatte, war er Tag für Tag vom Morgen bis Abend bei uns daheim. Auch er war, trotz der kärglichen Besoldung, mit seiner Liestaler Stellung zufrieden. Ein eigenes Häuslein, ein Stücklein Land daneben, wo er im Frühjahr seiner Gartenliebhaberei wird frönen können, und vor allem Frau und Kinder, mehr bedurfte er nicht. Er betrachtete das Familienleben als ein ›Idyll‹, freilich als ein patriarchalisches, unter Voraussetzung seiner unumschränkten Herrschaft (unbedingter, widerspruchsloser Gehorsam selbstverständlich), war ein musterhafter, zärtlicher Ehemann und ein treuer Vater, der an seinen ›unverdorbenen, urwüchsigen Buben‹ Freude hatte. Von Erziehung hielt er gar nichts; er verließ sich vertrauensvoll auf die überlegene Einsicht der ›Natur‹, die es viel besser weiß als die Menschen. Nur müsse man, meinte er, dann und wann der Natur, wenn sie eine falsche Richtung einschlage, einen sanften Schupf geben, wie einem Pferde einen zarten Wink mit dem Zügel.

Die ›Natur‹ will, daß Kinder fröhlich seien. Folglich bediente er uns mit Lustigkeit. Lustigkeit verlangte übrigens auch seine eigene Natur, die Natur des Gewaltmenschen, für den Gegensatz. Wenn er bei guter Laune war, und er war dazumal meist guter Laune, steckte er voller spaßhafter Einfälle, je harmloser, je kindlicher, desto lieber. Von seinen vielen lustigen Stücklein sind mir einige, wohl die hauptsächlichsten, im Gedächtnis geblieben:

Er hieß mich eine der beiden Türen im Eßzimmer sperrweit aufmachen, mein Brüderchen Adolf die andere Tür, dann lehrte er uns beide zugleich mit zorniger Stimme in französischer Sprache den Befehl herrschen: »Tür zu oder Kopf ab!« Nachdem wir das kommandiert hatten, durften wir die Türe zuschmettern, so stark wir nur konnten; je ärger es knallte, desto vergnügter lachte er und desto größeres Lob spendete er uns. Weiß der Himmel, wo er das ultrajakobinische Sprüchlein ›Tür zu oder Kopf ab‹ her hatte, wahrscheinlich von seiner Studentenzeit in Straßburg. Bei Tisch forderte er uns auf, den Teller umzukehren und mit Löffel und Gabel darauf zu trommeln, und er selber trommelte mit. Beim Suppenessen wies er uns an, den Löffel auf eine solche Weise durch den Mund zu ziehen, daß ein Rest Suppe an die Wand spritzte – ich habe gesagt, von Erziehung hielt er gar nichts. Allein gegen diesen letztern Unterricht erhob denn doch meine Mutter heftig Einspruch; das mußte er unterbleiben lassen. Oder er streckte den Zeigefinger gegen uns und nannte uns ›Spitzbub‹ (Schalk), und wir durften zur Erwiderung unsere Zeigefinger gegen ihn ausstrecken und ihn ›Spitzbub‹ nennen. Und ähnliche kindliche Späßlein mehr. Die Hauptsache war ihm immer, daß er uns jauchzen und jubeln hörte: dann war er seelenvergnügt und stimmte mit herzlich schallendem Lachen in unsere Fröhlichkeit ein.

Später, als er für das künftige Gärtlein Bohnenstangen angeschafft hatte, wiederholte er das alte Kunststück, uns mit den Stangen durch die Luft auf das Läubchen zu ziehen; in unserem Hause war nämlich auch ein Läubchen. Der Luftweg kam uns schon so gewohnt und natürlich vor, daß wir gar kein Wesens mehr davon machten. Kaum daß wir Papa auf dem Läubchen sahen, begehrten wir die Auffahrt, je öfter, desto lieber. Der Sohn der Tante Gotte dagegen, der zu uns auf Besuch kam, weigerte sich, die Luftreise mitzumachen; er war dieses Verkehrsmittel nicht gewohnt. Das gab einen Hohn!

Welträtsel

In schwarzer Nacht weckten mich grausige Töne: ein schauriges Gemisch von Schnauben, Röcheln und Stöhnen, als ob ein Ungeheuer in die Schlafstube eingebrochen wäre. Auf meinen angstvollen Klageruf hörte der Greuel plötzlich auf, statt dessen erscholl aus der nämlichen Zimmerecke die gütige Stimme meines Vaters: ich solle nur ruhig weiterschlafen, tröstete er, er werde fortan nicht mehr schnarchen. Also ›schnarchen‹ nennt man scheints diese fürchterlichen Töne, und Papa war es gewesen, der ›schnarchte‹. Beruhigt wollte ich weiterschlafen; da fing es von neuem an, noch gräßlicher als früher. Und obschon ich jetzt wußte, daß es kein Ungeheuer war, sondern Papa, mußte ich mich doch wieder fürchten, es klang zu zornig. Wozu ›schnarchte‹ denn eigentlich Papa? Rätsel!

So ging es die ganze Nacht weiter, abwechselnd zwischen ›Schnarchen‹, Hilferuf und Trostrede.

Am Morgen beim Kaffeetrinken starrte ich meinem Vater scheu und mißtrauisch ins Gesicht, besorgend, er werde plötzlich wieder zu ›schnarchen‹ anfangen. Doch nein, nicht im mindesten. Freundlich, gütig, lachend wie sonst. Da kitzelte die Gescheitheit meine Nase. »Er ›schnarcht‹ nicht am Tage. Am Tage ist er sanft, bloß in der Nacht wird er zornig.« Aber warum wird er denn in der Nacht zornig? Rätsel!

Nach beendigtem Frühstück rief mich Agathe ins Schlafstübchen zurück. »Sieh einmal, was ich in deines Vaters Bett gefunden habe.« O freudige Überraschung! Ein großes schwarzes Panzertier mit einem Rüssel und unsinnig langen Beinen. »Ein Käfer«, erläuterte Agathe. Hierauf verwünschte sie den Käfer, schüttelte ihn auf den Boden und trat ihn tot. Schade um ihn! Und unbegreiflich von ihr! Kann es denn etwas Willkommeneres geben als wenn die Tiere, statt daß man sie an Großvaters Hügel suchen muß, einem von selber freiwillig ins Haus kommen? Käfer in den Betten, Schnecken auf dem Sofa, Molche im Waschbecken, wäre das nicht ein Festvergnügen? Aber eine schwierige Frage beschäftigte meine Gedanken: Wieso geschieht es, daß, weil Papa in der Nacht ›geschnarcht‹ hat, nachher am Morgen ein Käfer in seinem Bett liegt? Rätsel!

Das nächste Mal, daß Papa wieder ›schnarchte‹, suchte ich am Morgen in freudiger Erwartung nach dem Käfer. Aber, o Enttäuschung! keiner da! Und auch in der Folge nie einer mehr. Warum war bloß das erstemal ein Käfer gekommen? Rätsel!

Eines Morgens, als wir aufstanden, war die Straße wie ein See, und alles, was in Großvaters Matte wuchs, lag wie gestampft auf dem Boden! Einzig ein Kornfeld stand aufrecht, aber schief; und durch das Kornfeld liefen weite Gassen. Meine Eltern standen am Fenster und redeten von Schaden und Verwüstung, von Donner und Blitz. Ich aber merkte, wer das getan hatte: der Kuckuck; der war in der Nacht heimlich aus dem Walde durch die Matte geflogen. So braucht doch den Verstand: man sieht ja noch die Gassen, durch die er gekommen ist. Wie aber brachte es der Kuckuck zustande, mit seinen kleinen Flügeln solch einen elefantenmäßigen Unfug zu stiften? Rätsel!

Verwaist!

Es muß im Juli oder August gewesen sein, denn wir wurden am heitern Abend bei gesundem Leib zu Bett getan. Zufolge der Helligkeit behielt ich die Augen offen und guckte von ungefähr aus dem Kissen durchs Fenster. Wehe! was erblicke ich! Meine beiden Eltern, welche, den Hut auf dem Kopf, heimlich und leise, damit wirs nicht merken sollten, aus dem Haus auf die Straße schlichen. »Sie werden doch nicht im Ernst!« beschwichtigte ich meine Angst. Doch wahrhaftig, sie verzogen sich in die Ferne, zuerst über die Straße, hernach durch das Tor nach dem Kegelplatz der Brauerei, hinter dem Tor verschwanden sie eine Weile, dann tauchten sie drüben am Rain wieder auf und stiegen langsam, langsam durchs Gras, wobei sie sich unheimlich verminderten. Immer kleiner, immer kleiner wurden sie, erbärmlich anzusehen. Ganz traurig wurde ich von dem Anblick. Endlich standen sie, als Zwerge, oben am Rand des Hügels. Scharf hoben sie sich vom Himmel ab.

Jetzt, tröstete ich mich, müssen die Zwerge umkehren. Denn weiter hinauf, in den Himmel, können sie ja nicht. Statt dessen begab sich etwas Jammervolles, Herzzerschneidendes: ihre Füße begannen in den Boden zu versinken, hierauf ihre Knie. Stück für Stück verschluckte sie die Erde, bis nur noch die Köpfe übrig blieben. Da richtete ich mich im Kissen auf und starrte zwischen Hoffnung und Verzweiflung nach den beiden geliebten Köpfen. Als aber auch diese von der Erde verschlungen waren, fiel ich in namenlosem Schmerz ins Kissen zurück. Verlassen! Ich hatte fortan keine Eltern mehr! Weder Vater noch Mutter!

Da sprach der Schlaf: »Was geht mich das an? Komm, du bist müde!« Und wie ich am Morgen aufwachte, o Freude, da waren die Eltern beide wieder vorhanden, sogar wieder in ihrer früheren Größe.

Das erste Bad

Er sehe nicht ein, behauptete mein Vater, was es gesunden Buben schaden könnte, im Bache zu baden, bei dieser Hitze. Und da er sich anheischig machte, selber die Leitung des Bades zu übernehmen, überdies noch den Ünggeli bestellte, damit dieser mit uns in den Bach steige und im Wasser selbst über uns wache, schwiegen schließlich die Bedenken. Die Bedenken aber waren nicht unbegründet gewesen, war doch der kleine Adolf vor kurzem erst zweijährig geworden.

So zogen wir denn eines heißen Abends, hüpfend vor Freude über das bevorstehende Vergnügen, mit dem Vater hinten beim Holzschopf aus dem Hause hinaus, schräg durch des Großvaters Matte, das einzige Mal meines Erinnerns, daß wir überhaupt diese Matte betraten. Und jetzt durften wir sie nicht bloß betreten, sondern sogar durchqueren, von einem Ende bis zum andern. Schon das wirkte als Abenteuer.

Am äußersten Ende der Matte, ob sie schon so flach war wie ein Brett, stand man plötzlich wie auf einem Hügel. Denn ein Rain fiel dort abwärts. Unten am Rain aber floß ein Bächlein oder vielmehr ein kleiner Kanal. Hier oben am Saum des Raines warteten wir auf den bestellten Ünggeli. Als dieser erschien, half er einem um den andern den steilen Rain hinab an den Rand des Bächleins, entkleidete sich und uns, hernach stieg er in den Bach und empfing uns, platsch, in seine Arme. Das Wasser war warm, reichte uns kaum über die Knie, es war eine Herzeweide, zu stampfen, zu plätschern, zu spritzen. Es gab auch Abwechslung. Bald sprangen wir selbständig um den Ünggeli herum, bald nahm er uns bei der Hand und tanzte mit uns einen Reigen, bald lud er den einen um den andern auf seine Achsel und watete als Lasttier bachauf und bachab. Unterdessen hielt der Vater oben am Saume des Raines Wacht und schürte das Vergnügen durch ermunternde Zurufe.

Er behielt recht: es hat uns nichts geschadet. Im Gegenteil. Das einzige Schlimme daran war, daß wir schließlich aus dem Bache wieder heraus mußten. Das war unser erstes Bad.

Oberst Sulzberger

Soweit ich zurückdenken kann, galten mir Soldaten für eine höhere Art Menschen. Schon in meinem ersten Lebensjahre, als ich noch nicht der Sprache mächtig war, sah ich einmal das Bataillon vorbeiziehen (es gab nämlich in Baselland nur ein einziges). Das war so schaurig, so erschütternd schön, daß ich ganz berauscht davon wurde. Sehnsüchtig hoffte ich fortan auf den Wiederauftritt des Bataillons. Daß diese Hoffnung Tag für Tag und Jahr für Jahr getäuscht wurde, beschattete den Hintergrund meiner Seele mit Trauer.

Die Soldatenbegeisterung wurde noch von meinem Vater geschürt, der für Napoleon schwärmte, mit welchem einst sein eigener Vater nach Rußland gezogen war. Wir kannten nichts Höheres als Napoleon und seine Alte Garde. Wie oft habe ich als Kind wehmütig nach dem Schleifenberg hinübergeblickt, mit Inbrunst zum Schicksal betend, die Alte Garde möchte plötzlich aus dem Walde tauchen und den Rehberg heruntermarschieren. Allein die Alte Garde kam nie, das Bataillon blieb ebenfalls ewig aus, so daß ich schließlich auf meine Hoffnung einen Grabstein setzte und die Entbehrung durch Vergessen zu verschmerzen suchte.

Dann war der Trost gekommen: die Freundschaft und Gewogenheit des Oberst Sulzberger. Allein das war ein kurzes Fest gewesen, mit der Abreise meines Vaters nach Bern hatten die Besuche des Oberst Sulzberger aufgehört. Jetzt aber, nach der Heimkehr meines Vaters, wurde die alte Freundschaft wieder angeknüpft. Und zwar brauchten wir nun nicht mehr zu warten, bis er zu uns kam, sondern wir konnten ihn aufsuchen, da ich schon so kräftig war, um meinen Vater begleiten zu können, ohne daß ich nötig hatte, fortwährend an der Hand geführt zu werden.

In Liestal gab es, was ich erst jetzt erfuhr, eine Stätte des Heils, wo jahraus, jahrein mindestens zwei lebendige Soldaten in Uniform am hellen Tage zu sehen waren, so oft man vorbeiging, unten im Gestadeck bei der Ergolzbrücke. ›Kaserne‹ nannte man den Gnadenort und ›Schildwache‹ die beiden Soldaten. Die Schildwachen gingen beständig vor der Tür auf der Straße hin und her, um mit ihrer Uniform die Soldaten anzulocken und ihnen zu zeigen, wo die Kaserne sei. Wahrscheinlich machten sie den Soldaten im verstohlenen geheime Zeichen, die man stundenweit sehen konnte, denn oft kamen eine ganze Menge Soldaten von Frenkendorf und Sissach und Seltisberg her und wohnten ein paar Tage in der Kaserne; dann plötzlich war die Kaserne wieder leer, je nachdem die Soldaten gerade Lust und Zeit hatten. Dort, bei den Schildwachen, war der Oberst am liebsten, denn er hatte auch Freude an den Soldaten. Doch ging er nicht mit den Schildwachen auf der Straße hin und her, sondern versteckte sich immer faul in der Kaserne, so daß man ihn erst rufen mußte.

Vor der Kaserne angekommen, erkundigte sich mein Vater vor allem bei den Schildwachen, ob der Oberst Sulzberger gegenwärtig sei. Wenn nein, dann begnügte man sich mit niedrigeren Offizieren, die Papa ebenfalls kannte. Wenn ja, gingen wir zu ihm in sein Zimmer und sprächelten mit ihm. Stand die Kaserne gerade leer, so führte er uns in den Wohnstuben und Schlafstuben der Soldaten herum, und in den Waffensälen und Gepäckkammern, und zeigte und erklärte uns alles. Wobei ich über die Häßlichkeit der Kaserne erstaunte. Ich hatte nämlich gemeint, so übermenschliche Wesen, wie die Soldaten sind, müßten in prächtigen Palästen wohnen wie die Engel. Viel vergnüglicher war es, wenn die Kaserne von unten bis oben mit Soldaten angefüllt war. Denn in diesem Falle war der Oberst draußen auf der Matte neben der Ergolz und exerzierte mit den Soldaten. Das heißt, er selber stand still, mit ein paar Offizieren um sich, nur die Soldaten exerzierten. Ah, das war prächtig, wie die Soldaten in langen Reihen vor ihm standen und alle miteinander mit den Gewehren klirrten und bald auf diese, bald auf jene Seite schwenkten, je nachdem man es ihnen befahl. Das Schönste war aber doch der Oberst Sulzberger selber, mit seinen Epauletten, seinem Säbel und seinem wundervollen zweispitzigen Obersthut.

Während ich mich sonst zutraulich an ihn anschmiegte, bekam ich, wenn er in Uniform war, Angst vor seinen Epauletten und seinem schönen Obersthut, so daß ich ihn nur aus der Ferne bewundern wollte, wie die andern Leute, welche auf dem Exerzierplatz zuschauten. Allein Papa zog mich aus dem Volk heraus und führte mich unter die Offiziere. Dort nahm mich der Oberst Sulzberger zu sich und behielt mich an seiner Seite, wohin er sich auch bewegte. Er kommandierte furchtbar zornig, aber gegen mich war er nicht böse. Wenn er auskommandiert hatte und nicht mehr zornig war, nahm er seinen prächtigen Obersthut ab und setzte ihn – o Stolz! o Wonne! – mir auf den Kopf. Ha, das war ein anderer Obersthut als jener, den mir einst die Großmutter aus Zeitungspapier zurechtgeklappt hatte! Und wohlverstanden, den Hut durfte ich lange Zeit aufbehalten und mit ihm vor den Soldaten hin- und hermarschieren. Es kam auch vor, daß mich der Oberst Sulzberger zu seinem Mundstück machte, indem ich an seiner Stelle den Soldaten die Befehle zurufen durfte, die er mir vorsagte. »Zeig«, meinte mein Vater, »laß sehen, was du kannst, kommandier du jetzt selber, ohne daß man dirs vorsagt.« Und der Oberst Sulzberger stimmte lachend zu. Da schrie ich, so laut ich konnte: »Bataillon, vorwärts, Finkenstrich, marsch!« Gerade das war es, was ich brauchte. So hätte es Tag für Tag und Stunde um Stunde zugehen sollen. Und wie sie mich jetzt alle gern hatten, die Soldaten! nicht bloß ich allein sie. Liebesglück.

Eines Tages jedoch, als ich wie gewöhnlich mit dem Zweispitz auf dem Kopf begeistert auf der Matte herummarschierte, kam mir ein Einfall: ob der Hut wohl schwimmen könne? Und so warf ich ihn in den Fluß. Ich weiß nicht mehr, ob er schwimmen konnte, aber seinen Zweispitz hat mir der Oberst Sulzberger fortan nie mehr auf den Kopf gesetzt, ob er mir schon deswegen seine Gunst nicht entzog.

Dieser nämliche Oberst Sulzberger hat zwanzig Jahre später in meinem Leben eine Schicksalsrolle gespielt. Ihm nämlich verdanke ich meine Auswanderung nach Rußland, die ich damals als eine Erlösung empfand und heute als ein Glück preise.

Hausfleiß

Papa schaffte Holz für den Winter herbei. Tagelöhner, um das Holz zu sägen und zu spalten, brauchte er keine. Das besorgte er alles selber. Und zwar mit Wollust. Denn hier konnte er seine gewaltige Kraft betätigen. Je knorriger, wilder, stämmiger ein Baumast aussah, desto mehr freute es ihn. Verliebt suchte er immer zuerst die trotzigsten Baumkerle hervor und kehrte sie zärtlich um und um, ehe er sie mit wuchtigen Axtschlägen zertrümmerte. Im Sägen war er unermüdlich und virtuos; den Ton, den die Säge hervorbrachte, ahmte er in übermütiger Fröhlichkeit mit dem Munde nach, was ihm ergötzlich gelang, wie er denn überhaupt ein außerordentliches Nachahmungstalent hatte. Die Scheiter wußte er so kunstvoll zu spalten, daß sie sämtlich an Dicke und Länge gleich gerieten. Und als nun der Scheiterhaufen aufgetürmt war, durften wir ihm helfen, die Scheiter in die Dachkammer zu tragen. Wir luden ein paar Stück auf die Arme, ließen die Hälfte davon unterwegs die Treppe hinunterpurzeln und kamen fast mit leeren Händen oben an. Aber siehe da: der kleine Adolf, der sonst lieber vierfüßig als zweifüßig eine Treppe erkletterte, benahm sich bei dem Geschäft anstelliger als ich. In der Dachkammer ging es ans ›Beigen‹ (Aufschichten) der Scheiter. Auch dabei durften wir helfen. Und wieder benahm sich der Kleine geschickter als ich. Mir legten sich immer die Scheiter kreuz und quer, so daß ich viel Zeit und Mühe brauchte, sie nachträglich einzeln zurechtzuweisen. Schließlich besorgte Papa das Geschäft allein, und wir durften bewundernd zusehen. Zur Bewunderung war auch wirklich Anlaß. Er griff mit seinen beiden starken Händen eine unglaubliche Menge Scheiter aus dem Korb und schleuderte sie sämtlich mit einem einzigen Wurf gleichzeitig an die gewünschte Stelle. Und zwar so, daß keines quer zu liegen kam und daß kaum eines mit dem Kopf über das andere hinaussah. Selten brauchte er ein wenig nachzuhelfen, damit sie sämtlich in Reih und Glied parierten wie Soldaten. Und wenn er so die Scheiter handvollweise auf die Beige warf, gaben sie einen angenehmen Klang wie Musik.

Eines Morgens lief ich freudig aufgeregt zu meinem Brüderchen: »Komm sieh, was Papa Lustiges gemacht hat!« Dicke, krumme Schläuche wie Riesenschlangen hingen von Fässern herunter auf den Boden und schauten mit den Köpfen durch die Kellerlöcher. Doch Papa dämpfte meine Freude. Die Schläuche seien nicht zum Vergnügen da, belehrte er mich, auch blieben sie nicht liegen, sondern kämen später wieder weg, wenn der Wein im Keller sei. Dazu machte er ein ungewöhnlich ernstes, wichtiges Gesicht, das mir die Hoffnung auf weitere Lustbarkeitsüberraschungen von den Fässern und Schläuchen her benahm.

Was sich gehört, soll geschehen

Meine Meinungen von Recht und Unrecht bezog ich aus Bilderbüchern und Märchen, aus Warnungen und Ermahnungen. Wie es in den Bilderbüchern steht, soll es zugehen, wie es einem angedroht wird, soll es geschehen. Der Storch meiner Bilderbücher hatte unfehlbar eine Schlange im Schnabel. Folglich gehört die Schlange in den Storchenschnabel. Einmal flog wirklich ein Storch am Hause vorbei, der eine Schlange im Schnabel trug. »Siehst du ihn? siehst du die Schlange, wie sie sich wehrt und sich windet?« Ja, warum wehrt sie sich denn? Weiß sie denn nicht, was sich gehört? Ist sie so boshaft, daß sie möchte, ein Storch sollte mit leerem Schnabel ohne Schlange nach dem Kirchendach fliegen?

In meinen Bilderbüchern war ein Mann zu sehen, der vom Wagen heruntergepurzelt war. »Nimm dirs zur Warnung«, hieß es, »und klettere nie auf einen Wagen, sonst fällst du herunter und wirst überfahren.«

Als wir nun eines Morgens beim Kaffee saßen, hauderte ein Bauer, auf Mehlsäcken hockend, mit seinem Wagen vorbei. Papa erblickte ihn durchs Fenster, nannte seinen Namen und schaute ihm nach. Plötzlich rief er: »Er ist heruntergefallen!« Hurtig ergänzte ich, freudig aufspringend: »Und jetzt wird er überfahren!« »Nein, er steigt wieder auf, es hat ihm nichts getan.« Ganz traurig und niedergeschlagen seufzte ich: »Ach, wie schade!« »Ja, bist du denn so grausam, daß es dir Freude gemacht hätte, wenn er überfahren worden wäre?« Mein Vater mißverstand mich. Ich lechzte keineswegs nach dem Blut des Bauern. Nur verlangte ich von ihm, nachdem er einem ungeheißen das Abenteuer gestiftet, vom Wagen zu fallen, auch die schuldige Fortsetzung. Sonst hätte ers lieber sollen ganz bleiben lassen. Man fängt nicht eine Geschichte an und hört dann mitten drin plötzlich auf, wenn es gerade am spannendsten ist.

Etwas Entsetzliches, das ich nicht mitansehen kann

Aus der Brauerei kam mit fröhlichem Gesicht ein Bote, der Großvater lasse drüben auf dem Kegelplatz ein Schwein schlachten und wir seien alle eingeladen zuzusehen. Mama schlug die Einladung aus, uns Buben führte der Vater auf den Festplatz. Sie machten nämlich alle festliche Gesichter, drüben in der Brauerei, als wir ankamen. Ich konnte mir zwar nicht recht vorstellen, was Freudiges dabei sein könne, wenn ein Schwein geschlachtet wird, allein die andern, dachte ich, werden es wohl besser wissen. Übrigens werde ich es ja bald selber erfahren.

Mit einem Male sprang eine Tür auf, und, von zwei Knechten auf dem Boden fortgeschleift, erschien ein abscheulich schreiendes, scheußliches Schwein. Das packten sie am Schwanz und an den Ohren und warfen es auf einen Schragen. Schon das war gräßlich anzusehen, zum Herzerbarmen. Und wie mir vollends der Gedanke einfiel, daß jetzt gleich diesem lebendigen Geschöpf sollte ein Messer in den Hals gestochen werden, packte mich jählings das Entsetzen. Entsetzen im buchstäblichen Wortsinn: ich lief erbärmlich schreiend davon, einerlei wohin, nur möglichst weit weg, damit ich nicht ansehn und anhören müsse, wie das arme Tier hingemordet wird.

Auf der blinden Flucht geriet ich in die Nähe der Luftschächte des Brauhauses, unergründlich tiefe, schwarze Löcher, die oben offen standen. Eilends holte mich mein Vater ein und hielt mich fest. Unmöglich, aus seinen starken Händen fortzukommen. Ich konnte nur zittern und schreien. Ihm wieder gelang es nicht, mich in die Nähe des Richtplatzes zu ziehen. Zu verzweifelt, zu krampfhaft sperrte ich mich. Ich tat wie wahnsinnig. Schließlich wurde ihm unheimlich bei meinem rätselhaften Toben, so daß er, um meinen Zustand nicht zu verschlimmern, nachgab und statt der Händekraft die Überredung walten ließ. Wovor ich denn so unvernünftig Angst hätte? Das Schwein werde mir gewiß nichts tun; es habe jetzt an anderes zu denken als mich zu beißen. Ich sollte mir doch an meinem kleinen Bruder ein Beispiel nehmen, der dem Schwein, während es auf dem Schrägen lag, mitleidig das Ohr streichelte, mutig, ohne die mindeste Furcht. Während seines Zuspruchs war die Hinrichtung vollzogen; sowie ich erfuhr, daß das Tier tot sei, war ich augenblicklich beruhigt. Aber noch jahrelang nachher wurde erzählt, wie verständig und mutig sich bei diesem Anlaß der Kleine benommen habe und wie über die Maßen kläglich der Ältere.

Am Abend dieses nämlichen Tages, als es schon ganz dunkel war, wurde ich zum zweiten Male in die Brauerei hinüber geladen, dieses Mal in die verlassene Kanzlei, die seit dem Wegzug meines Vaters zu einer zweiten, größeren Wirtsstube umgewandelt worden war. Dort gab es bei hellem Kerzenschein ein Gelage, bei welchem die Metzger die Hauptrolle spielten. Mit Grausen und Abscheu betrachtete ich diese mörderischen Menschen, wie sie Wein zechten und lachten und grölten. Unversehens wetzten sie die Messer und begannen mit fürchterlicher Stimme zu singen: »Wirds bald, wirds bald, ich muß noch durch den finstern Wald.« Das klang so gräßlich, daß es gewiß ein entsetzlich gefährlicher Wald war, durch den sie mußten. Und noch dazu so spät in der Nacht. Aber obschon sie das selber wußten, schienen sie sich gar nicht davor zu fürchten, sondern blieben in der Stube sitzen und lachten und schmausten und tranken, als wäre nichts. Da konnte ich nicht umhin, die schrecklichen Menschen für ihren Mut zu bewundern. Staunend und grausend folgte ihnen mein ratender Gedanke auf dem bevorstehenden Heimweg durch den finstern Wald. Was ihnen wohl alles dort widerfahren mag? Ob sie sämtlich am künftigen Morgen noch lebendig sein werden? … Und wirklich erkundigte ich mich am Tage darauf voll Besorgnis nach dem Befinden der Metzger. Ich erhielt den beruhigenden Bescheid: sie seien gesund und faul und schliefen noch.


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