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In Basel

Das erste Reischen

Meine Großmutter war schwer erkrankt, meine Mutter widmete sich ihrer Pflege. Um sie zu entlasten, erbot sich die Schwester meines Vaters, die Tante Gotte (so genannt, weil ihr Mann mein Götti, das heißt mein Pate war), mich so lange zu sich nach Basel zu nehmen, bis die Großmutter genesen wäre. Der Großvater, der ohnehin in Basel zu tun hatte (Schweinchen kaufen), sollte mich ihr bringen.

So wurde ich denn eines Morgens als ein lebendiges Päcklein neben den Großvater auf ein Bauernwägelein gesetzt, ohne im mindesten zu begreifen, warum und wozu. Mir war bloß aufgefallen, daß ich im ganzen Hause herumgeboten wurde, wobei jeder der Reihe nach mich herzte und mit ungewöhnlicher Stimme eifrig auf mich einsprach. Das alles ließ ich unverstandenermaßen geduldig mit mir geschehen, war ichs doch gewohnt, nach anderer Leute Belieben vom Boden aufgehoben und fortgetragen zu werden. Von Reisemut oder Reiseneugier kein Anflug, ich erfaßte ja noch nicht einmal, was das ist, eine Reise.

Die Fahrt ging auf der Landstraße durch die Wirklichkeit, an unendlich vielen unnützen Dingen vorbei, immer neuen. Nach einer langwierigen Fahrt, wie wir um die Ecke einen Rain hinabfuhren, zeigte der Großvater mit der Geißel vorwärts in die Weite. »Sieh dort, das ist Basel«, verkündete er. Das sagte mir gar nichts. Was heißt das: ›Basel‹? Auch war mein Auge noch nicht reif, eine Fernsicht zu lesen. Dagegen der Anblick in der Nähe, ein mit langen, hohen, magern Bäumen umstandener Fluß, machte mir einen tiefen Eindruck. Das war das erste Mal meines Lebens, daß ich eine Gruppe von landschaftlichen Dingen als Einheit zusammenzufassen und Stimmung daraus zu schöpfen verstand. Der Eindruck jener Flußlandschaft ist denn auch zeitlebens in meinem Herzen lebendig geblieben.

Carl Spitteler im Alter von einem Jahr

Carl Spitteler im Alter von einem Jahr. Aquarell von K. Völlmy

In Basel angekommen, entdeckte ich anfänglich nichts Sehenswertes: lange Reihen gleichförmiger Häuser mit Gittern vor den Fenstern. Doch sieh! o Entzücken! In einem niedrigen, netzumspannten Pferch neben der Straße eine Menge kleiner, herziger Schweinchen! O wenn ich hier weilen dürfte! Wohl mir, der Wagen hielt an, und der Großvater stieg richtig ab, um mit den Schweinchen zu spielen. Aber warum nahm er mich denn nicht mit und ließ mich sitzen? Das fand ich ungerecht. Neidisch schaute ich ihm nach, wie er sich den Tierchen näherte. Zuerst tat er gar nichts, sondern sah nur immer die Schweinchen an und redete mit den Mannsleuten, die um den Pferch herumstanden und ebenfalls hineinguckten. Plötzlich bog er sich über das Geländer und riß ein Ferkel an den Hinterbeinen grausam in die Höhe, so daß es mörderlich schrie und quiekte. Und gleich darauf ein zweites und drittes. Pfui, was für ein abscheuliches Spiel! Nein, das hätte ich von meinem guten, sanften Großvater nicht erwartet. Ganz empört und verstimmt wurde ich darob. Nachdem er das häßliche Spiel eine Weile getrieben hatte, stieg er wieder auf und fuhr mit mir weiter. Aber ich war irr an ihm geworden; mir kam vor, ich könnte ihn gar nicht mehr recht gerne haben.

Bald nachher kamen wir zu einem freien Platz, wo es ein Gewimmel und einen Lärm gab, daß einem schwindlig davon wurde. Eine Unmasse von Menschen, Mannsvolk und Weibervolk durcheinander, rufend und schreiend, dazwischen Pferde, Hunde und Bauernwägelein, Körbe, Haufen von unbekannten Dingen – man wußte gar nicht, was man eigentlich sah. Und der ganze Wirrwarr bewegte sich unaufhörlich hin und her und im Kreise herum. In dieses Gedränge hinein lenkte der Großvater unser Wägelein, langsam, langsam, um die Ecken, ohne Gasse, ich begriff nicht, wie er es fertig brachte, sich hier durchzuzwängen. Mitten in dem Getümmel machte er halt, stieg aus und sprach eine lange Zeit mit allerlei Leuten um ihn herum. Dann sagte er zu mir, er gehe jetzt fort, ich brauche jedoch keine Angst zu haben, er komme bald zurück, ich solle unterdessen nur ruhig sitzen bleiben. Darauf verschwand er. Gehorsam blieb ich sitzen und rührte mich nicht. Allmählich aber kam mir vor, es dauere merkwürdig lange, bis er zurückkehre. Und immer länger dauerte es, und nie kehrte er zurück. Und wehe, wie böse mich alle die fremden Menschen ansahen und wie grimmig die Pferde! Wohin ich blickte, nirgends etwas Freundliches, ringsum Feindesgefahr. Wann wird er endlich kommen und mich retten? Nach unendlichem, ungeduldigem Warten packte mich jählings die Angst. Half mir jemand auf den Boden, oder saß ich vielleicht überhaupt nicht mehr im Wagen? Das weiß ich nicht mehr, ich weiß bloß noch, daß ich mich aufmachte, den Großvater zu suchen. Kaum hatte ich ein paar Schritte getan, blindlings und töricht in die Irre, so faßte mich jemand an der Hand. Er wisse, wo der Großvater sei, tröstete er, ganz in der Nähe, er wolle mich zu ihm führen. In einem engen, rauchigen, mit Menschen überfüllten Stübchen fand ich ihn, an einem Tisch sitzend, vor einem Teller und einem Glase, hoch erstaunt über mein Erscheinen. »Ich habe dir doch gesagt, ich komme bald wieder.«

Hernach überlieferte er mich der Tante Gotte. »Tut es dir denn gar nicht leid«, redete sie mich nach der ersten Begrüßung an, »spürst du denn gar nichts dabei, daß die Großmutter krank ist?« Vergebens strengte ich mich an, herauszubekommen, warum mir das leid tun sollte. Wenn die Großmutter krank sein sollte, so wird sie wohl selber am besten wissen, warum. Überhaupt, was heißt das: ›krank‹? Immerhin erriet ich aus dem Tonfall, daß ich etwas Unrechtes müsse begangen haben, ob ich schon keine Ahnung hatte, was. Darum schämte ich mich, der Spur nach, wie ein Hund, wenn man im Tone des Vorwurfs zu ihm redet. Darauf verzog sich der Großvater, und ich verblieb in der Gewalt der Tante Gotte.

Ein wohnliches Gäßlein

Am folgenden Tage, während die übrigen beim Mittagessen saßen und ich ihnen zuschaute, überkam mich plötzlich das Bewußtsein, daß ich nicht mehr in Liestal sei und daß das gesamte bisherige Leben der Vergangenheit angehöre. Beim Aufschein dieses Gedankens drehte sich etwas Leuchtendes, Schönfarbiges, das jedoch nicht Bildgestalt annahm, in mir herum, mich seltsam und tief erregend und ein Nachgefühl der Gehobenheit hinterlassend. Mir war zumute, als ob dadurch, daß ich solch einen erstaunlichen Lebenswechsel erfuhr, mein Ich gewachsen wäre. Aber freute ich mich denn eigentlich darüber, daß ich in Basel war? oder freute ich mich nicht? Nun, das ist einmal so, laß sehen, was für Abenteuer es im Hause der Tante Gotte gibt.

Das vergnüglichste war die Treppe. Die konnte mirs. Eine Ringeltreppe von der Haustür bis oben, und vor jedem Stockwerk war die Treppe wie ein Stall von einem niederen Türchen abgesperrt, kaum höher als ich, so daß die Tante Gotte mit mehr als ihrer Hälfte darüber wegschauen konnte. Diese sonderbare, lustige Ringeltreppe wurde mein Lieblingsaufenthalt, dort schneckte ich auf und nieder. Hatte ich genug davon und wollte ins Zimmer, so mußte ich rufen. Dann kam etwas Weibliches zum Vorschein, öffnete mir das Türchen und ließ mich wie ein Hündchen ein.

Bald wurde mir aber ein noch viel besserer Spielplatz gestattet. Neben dem Hause, unmittelbar vor der Haustüre, lief ein enges, steiles Stapfelgäßlein, Fuhrwerken unzugänglich, von Fußgängern selten benützt. In diesem Gäßlein nun durfte ich mich aufhalten wie in einer Wohnstube. Offenbar traute man mir nicht die Kraft zu, mich unversehens zu entfernen. Zum Überfluß wurde mir eingeschärft, mich weder bis zur Straße hinunter, noch bis zum Bächlein hinauf zu vergehen. In der ersten Zeit erschienen alle Augenblicke Gesichter oben an den Fenstern, die nach mir sahen und mir freundlich zunickten. Die Gesichter kamen nach und nach seltener zum Vorschein; schließlich blieb ich längere Zeit unbehelligt. Man hatte mich beobachtet, mich brav und weise befunden, man war beruhigt.

In der Tat begehrte ich auch gar nichts anderes, als in dem stillen, wohnlichen Gäßlein zu bleiben. Schon das gedämpfte Licht zwischen den hohen Mauern sagte mir zu, ich mochte nicht das laute Geschrei der rohen Tageshelligkeit. Es brauchte daher nicht erst der Warnung vor der Straße unterhalb des Gäßleins; das Getümmel der vielen Menschen, die dort im grellen Sonnenlicht hin und her rannten, hatte keinen Reiz für mich, schreckte mich vielmehr ab. Dann das Bewußtsein, im Freien zu weilen, unter einem Dach von Himmel, statt in der geschlossenen Stube, ferner das stolze Gefühl der Unabhängigkeit, da ich mich nach eigenem Belieben, ohne dem Zug einer fremden Hand zu folgen, umdrehen und hin und her bewegen durfte. Auf eigenen Beinen krabbeln, ob schwankend und stolpernd, das schmeckt. Endlich: ich verstand, allein zu sein, brauchte niemand, falls es Neuigkeiten zu schnuppern gab. Und Neuigkeiten gab es in dem traulichen Gäßlein. Hunderte von Steinchen, wohin man nur blickte; eines neben dem andern, dazwischen hie und da ein Büschel Gras, und ab und zu eine Mücke oder Spinne zu Gast. Dann die Steinbänder der Stapfeln, niedrig, kaum über die Steinchen hervorragend, so daß ich sie zu überwinden imstande war. Bergsteigen, das beweist Kraft. Den muffigen Geruch aber, der vom Bächlein herunterhauchte, an sich eher unanmutig, deutete ich als Wohnlichkeit, der gehörte scheints zu dem heimeligen Gäßlein. Das alles genügte vollkommen zu meiner Zufriedenheit. Unersättlich kletterte ich die ergötzlichen Stapfeln auf und nieder. »Daß du mir nur ja nicht etwa zum Bächlein hinaufgehst!« mahnte von oben die besorgte Stimme der Tante Gotte. Bewahre! was brauchte ich das Bächlein!

Das verlorene Kind

Und so stand ich denn richtig oben am Bächlein. Ganz von selber, ich hatte es gar nicht beabsichtigt, wahrscheinlich war es von sich aus zu mir gekommen. Oh, das lustige Wässerlein mit seinen glitschigen Wellen! Was wohl alles darin leben mag? Und die vielen köstlichen Bretter, Brücklein, Läubchen über dem Bach! Und das herrliche Durcheinander von Mäuerchen, Gärtchen gegenüber! Brav sein, mahnte das Gewissen, nicht auf die Brücklein, das ist gefährlich! Ich war brav, trat nicht auf die Brücklein, wie sehr sie mich lockten, erlaubte mir nur, zum Versuchen, ein bißchen dem Wasser entlang, vorsichtig, nicht weit, gleich wieder zurück, und noch ein paarmal hin und zurück, bis mir auf einmal einfiel, daß ja hier oben verbotene Gegend war. Also gehorsam umgedreht, und ohne Verzug heim. Allein von wo war ich denn eigentlich hergekommen? Unglaublich, wie verändert mich jetzt plötzlich alle Dinge anstarrten: fremd, unheimlich, strenge, vorwurfsvoll. Und das heimelige Stapfelgäßlein, das ich soeben erst verlassen, war wie weggeblasen. Ich kann mich doch unmöglich in so kurzer Zeit verirrt haben. Das Gäßlein muß ganz nahe sein.

Nachdem ich, ein wenig aufgeregt, aufs Geratewohl nach beiden entgegengesetzten Richtungen ein Versuchslaufen angestellt, geriet ich durch Zufall, o Freude, unvermutet in den gesuchten engen Abstieg. Doch merkwürdig, die Stapfen waren verschwunden. Unglaublich, unmöglich, aber sie waren halt einfach fort. Und die Haustür, o Schreck, war ebenfalls nicht mehr da. Sie muß aber da sein, ich weiß sogar genau wo, in der Mitte des Gäßleins, und hier ist die Mitte des Gäßleins, also. Trotzdem war sie eben nicht da. Was ist denn jetzt das? Wäre es wirklich möglich, daß Stapfeln und Haustüren nur so verschwinden? In Liestal gewiß nicht, aber vielleicht, wer weiß, in Basel? Wahrscheinlich zur Strafe, weil ich ans Bächlein gegangen bin. – Ein abscheulicher Einfall! Wenn die Haustür nicht wiederkommt, gelange ich nie zur Tante Gotte. Ob diesem Gedanken überfiel mich die bleiche Angst. Weinend taumelte ich fortwährend um die Stelle der Mauer, wo früher die Haustür gewesen war. – Ein Hoffnungsstrahl: vielleicht täuscht dich dein Gedächtnis, möglicherweise war sie weiter unten. In fieberhafter Aufregung floh ich abwärts. Da sprang mit einem Satze das Gäßlein auseinander: statt an die Haustür, gelangte ich in den weiten Sonnenrachen der Straße, umschwirrt von wilden Menschen, welche wie unsinnig hin und her rannten. Verloren! endgültig verloren! Aus diesem wilden Gewühl, aus dieser gelben, gleißenden Tageswüste finde ich mich nie mehr zur Tante Gotte zurecht.

Jemand hielt mich an und stellte mich. Andere Leute kamen herzu und umringten mich. Wer ich sei, wie ich heiße, wo ich wohne, fragten sie. »Tante Gotte«, jammerte ich. »Ja, wie heißt sie denn, deine Tante Gotte, wo wohnt sie?« »Tante Gotte.« Mehr als dieses einzige Wort wußte ich nicht zu sagen. Das hätte noch lange währen können. Da kamen zwei Frauen in angstvoller Hast dahergestürzt, die eine von oben, vom Gäßlein, die andere von unten auf der Straße. Und – o Erlösung! – die eine war die leibhaftige Tante Gotte!

Auf dem Heimwege erklärte sich mir meine Verirrung: ich war in ein zweites bergablaufendes Gäßlein geraten, das dem heimischen zum Verwechseln gleichsah. Aber von Stund an war es aus mit dem wohnlichen Gäßlein.

Allerlei Basel

Die Tante Gotte hatte den ganzen geschlagenen Tag für mich übrig, weil tagsüber ihr Mann auf dem Bureau, ihre beiden Kinder in der Schule waren. Da es mit dem Gäßlein nichts mehr war, führte sie mich manchmal aus dem Hause. Mir auch recht. Zunächst über die Straße an die jenseitige Ecke, wo eine alte Jungfer namens Beggli (schreibe Böcklin) in einem dunklen, unerfreulichen Tuchladen hauste. Die Jungfer Beggli wartete jedesmal, bis man sich genug gelangweilt hatte, nachher langte sie einem aus einer geheimen Schublade schmunzelnd etwas Leckeres hervor. Mit dieser Jungfer Beggli schloß ich Freundschaft, so daß ich sie auch später, in meinen Schuljahren, so oft ich nach Basel kam, flüchtig besuchte. Dann erzählte sie mir mit Stolz von ihrem Neffen, dem Arnold, der auch so gern zeichne wie ich; er wolle Künstler werden, damit er täglich zeichnen dürfe, und sei gegenwärtig in Rom.

Weniger freuten mich die Spaziergänge in der Stadt herum. Ich konnte diesem sogenannten Basel keinen Geschmack abgewinnen. Nichts als unvernünftig viele Häuser und fremde Menschen. Was fange ich damit an? Nicht einmal die Kaufläden vermochten mich zu reizen, dafür war ich noch zu klein, auch zu verwirrt von dem Gewühl der Straße. Immerhin mit Ausnahmen: Einmal erblickte ich im Vorübergehen zufällig durch ein Fensterchen eine unterirdische Wohnung. Das machte mir einen großen Eindruck, ich träumte mehrmals in der Nacht davon, sogar noch später, als ich schon wieder nach Liestal zurückgekehrt war. Basel bedeutete fortan für mich die Stadt, wo die Menschen unterirdisch wohnen. Ein anderes Mal kamen wir, nachdem wir mitten in der Stadt einen Berg bestiegen hatten, plötzlich zu Bäumen und Bänken. Das war mir erstaunlich, und meine Träume erzählten davon.

In Basel wohnten mir außer der Tante Gotte noch andere Verwandte: eine Schwester meiner Großmutter mit Sprößlingen. Mit diesen wurde ein Spaziergang verabredet. Die Tante Gotte mit mir kam von der einen Seite, die Großtante mit einem Herrn und einer Frau von der andern Seite zusammen. Bei der Begrüßung schenkte mir die Großtante etwas Süßes in einem Schächtelchen, was ich ihr nicht vergessen habe. Dann pilgerten wir gemeinschaftlich auf einem langwierigen Wege nach einer Stelle, wo es hieß, das wäre die französische Eisenbahn. Die andern machten ein gewaltiges Aufheben davon, ich dagegen vermochte hier nichts zu erblicken als ein ungeheueres schwarzes Loch in einer Mauer und davor ein paar eiserne Stangen auf dem Boden. Was hieran Merkwürdiges und Wichtiges sei, konnte ich nicht begreifen. Aber der Traum malte mir nachher ein paar Bildaufnahmen von der Strecke unterwegs nach der Eisenbahn.

Mit den nämlichen Verwandten erlebte ich noch etwas Französisches, diesmal ohne die Tante Gotte. Wir fuhren zusammen in einem zweispännigen Wagen bei Regenwetter nach Frankreich. In Frankreich angekommen, schwenkten wir links ab, in einen Garten, und tranken in einem Häuschen Kaffee. So wenigstens behauptete meine Erinnerung. Sie behauptete keine Unwahrheit. Die Großtante hatte einen Garten nahe der französischen Grenze, dorthin fuhren wir. Unterwegs mag von Frankreich die Rede gewesen sein; das vermischte meine Verwechslungskunst.

Einen unseligen Ausflug vollführte die Tante Gotte mit ihrem Mann und mir an einem Sonntagnachmittag: über Birsfelden in die Hardt, ich weiß nicht mehr, ob zu Fuß oder im Kinderwagen, ich glaube fast, zu Fuß. Jedenfalls in der Hardt wurde ich genötigt, eine Strecke weit zu Fuß zu gehen. Die Sonne brannte unbarmherzig herab, und ich war so müde und erschöpft, daß man mich auf den Arm retten mußte. Überhaupt, die Sonntagnachmittags-Spaziergänge mit Kindern! Doch das gehört in meine Schulzeit, nicht hierher.

Wonne

Dann wurde ich krank, und die Tante Gotte pflegte mich. Pflegte mich so treu, so hingebend, so sanft, daß sie mein Herz gewann.

Als ich schon fast wieder gesund war, erlebte ich einen seligen Augenblick. Ich hatte geschlafen und lag noch im Schlummer. Ehe ich völlig aufgewacht war, trat jemand an mein Bett, das schönste, größte Bett in der ganzen Wohnung, im Hauptzimmer, und wie ich die Augen aufschlug, um zu erfahren, was da käme, lächelte mir das Gesicht der Tante Gotte zu, während mich gleichzeitig das ruhige, milde, durchsonnte Nachmittagslicht traf. Es war ein Tagschlaf gewesen.

Bei diesem Augenaufschlag mit dem Blick in ein vom schönen Tag umspieltes Freundesgesicht durchströmte mich ein wundersames Gefühl, das ich nicht anders zu benennen weiß als mit dem Namen: Wonne. Was bedeutet eigentlich, genau gedacht, Wonne? Ich schlage meinen Sanders auf und lese: »Wonne: Seelenweide.« Ja, richtig, Seelenweide, das ist es, aber übereingestimmt mit körperlichem Glück, wie es sich aus Gesundheitsgefühl, Lebensfrische nach erquickendem Schlaf, Begrüßung durch das farbige Tageslicht zusammensetzt. Tageslicht und Farbe scheinen mir für das Entstehen der Wonne wesentlich zu sein, wenigstens nach meiner Erfahrung. Ich habe später das Wonnegefühl noch mehrere Male erlebt, und immer geschah es beim Aufwachen aus dem Tagesschlummer, am vollkommensten, wenn das Freundesgesicht durch einen farbigen Vorhang grüßte. Seit diesem wonnigen Augenblick war ich der Tante Gotte völlig ergeben. Ich gehörte ihr, und zwar ihr allein, sie war mir eins und alles, ich bedurfte und wollte keinen anderen Menschen.

Da erschien in Hut und Schal eine junge fremde Frau im Zimmer. Ich meinte, es wäre irgendein Besuch, da war es meine Mutter, die mich heimholen kam. Ich hatte nach zweiwöchentlicher Abwesenheit meine Mutter nicht wiedererkannt!

Ungerne trennte ich mich von der Tante Gotte, konnte auch gar nicht begreifen, warum ich von ihr fort müsse und was ich in Liestal solle.

Von der Heimfahrt ist mir ein einziges Erinnerungsbild geblieben: wie der Großvater nach einem Streifen Häuser deutete, die wie zusammengebacken beieinander standen. »Sieh dort, Liestal!« meldete er im Ton der Freude, zutunlich, in der Meinung, mich aufzuheitern. Allein was ging mich Liestal an? So weit vermochte mein Heimatbewußtsein noch nicht zu spannen, um ein ganzes Städtchen zu umfassen. Die Wohnstube und die Kanzlei, dahin gehöre ich. Und die Großmutter muß dabei sein. Alles übrige ist gleichgültige Welt.


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