Friedrich Spielhagen
Susi
Friedrich Spielhagen

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Zwanzigstes Kapitel.

Das kümmerliche Licht, als welches nach der Geburt des Erbprinzen das Leben der Herzogin noch geflackert hatte, war am Abend des Jagdtages um zehn ein halb Uhr still erloschen.

Der Tod der hohen Frau erregte überall aufrichtige Teilnahme. Zwar war ihres Weilens im Lande nur so kurze Zeit gewesen, und ein gewinnendes Wesen, persönliche Liebenswürdigkeit konnte man ihr nicht nachrühmen; aber sie hatte auch niemand gekränkt, in aller Stille manches Gute gethan; und wenn eine Frau in der Ehe unglücklich ist, darf man es ihr verdenken, wenn sie sich mit dem lieben Gott in ein desto besseres Einvernehmen zu setzen sucht?

So wurde denn das Geläute der Trauerglocken, die durch das ganze Ländchen ertönten, mit Andacht vernommen; auch hörte man mit Genugthuung, daß die Beisetzung in der Fürstengruft ganz besonders imposant werden würde, und eine ungewöhnlich große Zahl ausländischer Fürstlichkeiten ihr persönliches Erscheinen an dem Trauerfest zugesagt habe.

Aber wie lebhaft auch ein Ereignis, welches das ganze Land anging, das öffentliche Interesse in Anspruch nahm, noch viel eifriger wurde ein andres fast gleichzeitiges kommentiert: der Tod des Barons von Vachta.

Wäre Astolf, seine Familie am Sterbelager, umgeben von Verwandten und Freunden, in seinem Bette verschieden, es hätte den Leuten zu reden gegeben. Die Vachtas gehörten, wenn nicht zu den reichsten, so doch unbedingt zu den vornehmsten Geschlechtern des Landes; jedes Schulkind im letzten Dorf auf dem Walde kannte einen Namen, der in der Geschichte des Herzogtums mit dem der regierenden Familie unauflöslich verknüpft war. Und was das Ansehen, in welchem sein Haus stand, etwa noch nicht that, hatte Astolfs Persönlichkeit mehr als ersetzt. Im ganzen Duodezstaat gab es keinen populäreren Mann als Astolf Vachta; seine Bravheit, Ritterlichkeit, sein gegen Hoch und Niedrig immer gleiches vornehm-freundliches Wesen waren sprichwörtlich. Seine Heirat mit der reichen ostpreußischen Grafentochter hatte wohl noch sein Ansehen, aber nicht die Liebe steigern können, die man ihm entgegentrug; seine notorische Freundschaft mit dem regierenden Fürsten schuf ihm keine Neider; man rechnete sie ihm eher als eine Last an, die er wohl oder übel so mitschleppen mußte. Als das Gerücht, der Herzog wolle ihn an die Spitze der Regierung stellen, in der letzten Zeit immer bestimmter aufgetreten war, hatte man nur gezweifelt, um, sollte es doch nicht Wahrheit werden, sich nicht umsonst vorher so gefreut zu haben.

Und nun dieser Mann weggerafft in der Blüte seiner Jahre, in der Fülle seiner stolzen Kraft, von einem jähen Tode, der ihm zum letzten und höchsten Ruhmestitel wurde: in der Aufopferung seines Lebens für ein andres: das seines herzoglichen Freundes, seines Landesherrn! Darüber konnte kein Zweifel obwalten: der Herzog selbst, der es doch am besten wissen mußte, hatte es unmittelbar nach der Katastrophe durch sein fürstliches Wort bestätigt; die einstimmigen Berichte der Herren, die zugegen, der vielen andern, die nicht minder Augen- und Ohrenzeugen gewesen waren, erhärteten es; die Landeszeitung feierte die Heldenthat in einem langen schwungreichen Artikel, in welchem Stallmeister von Froben und andre, die für ihren Fürsten in den Tod gegangen waren, paradierten, und der, wenn nicht von dem Herzog selbst geschrieben, so doch von ihm inspiriert sein sollte. Nein! an der Thatsache selbst konnte niemand zweifeln, zweifelte niemand.

Offenbar auch nicht der Verfasser eines nicht minder langen, nur weniger schwungvollen Aufsatzes, der am folgenden Tage in dem oppositionellen »Boten für Stadt und Land« erschien unter dem Titel: »Man sagt, er wolle sterben« offenbar in Bezug auf den des offiziellen Panegyrikums, der »Er ist für ihn gestorben« gelautet hatte.

Ein niederträchtiges Pamphlet, das an den Schandpfahl genagelt zu werden verdient, versicherten die Offiziellen und die Offiziösen; ein Schriftstück, das zu denken gibt, sagten die Unbefangenen; eine Mannesthat, die endlich einmal der Lüge die Maske abreißt und der Heuchelei ihr wahres Antlitz zeigt, jubelten die, denen nichts heilig ist.

Allgemein aber war die Verwunderung, daß die Polizei die betreffende Nummer des »Boten« passieren ließ und der Staatsanwalt nicht zugriff.

»Hoheit machen es wie Friedrich der Große, der das auf ihn gemünzte Pasquill niedriger zu hängen befahl,« sagten die einen.

»Und er thut sehr recht daran,« sagten die andern; »der Skandal würde sonst noch viel größer werden.«

Polizei und Staatsanwalt wußten es besser; wußten, daß dem Verfasser, der mit höchster stilistischer Kunst für die verfänglichsten Dinge den unverfänglichsten Ausdruck gefunden, sich für jede seiner kecken, ja tollkühnen Behauptungen eine Hinterthür gelassen hatte, mit keinem Paragraphen des Strafgesetzbuches beizukommen war.

Desto fürchterlicher war der Schlag, waren die Schläge, die nach allen Seiten geführt wurden. Man konnte darüber zweifeln, wen sie am härtesten trafen: den macchiavellistischen Fürsten, an dessen Hofe die mit dem Witz eines Boccaccio erzählte Intrigue spielte, oder sie, welche die Phryne, die sie war, so geschickt mit dem Prunkkleid der vornehmen Dame zu drapieren wußte.

»Serenissimus auf dem rocher de bronze seiner legitimen Souveränität wird natürlich den Sturm überdauern,« sagten die Spötter; »aber sein Prügeljunge ist schon geflogen, und Madame wird auch gut thun, das Land zu räumen, wenn nicht die Weiber auf der Gasse mit den Fingern auf sie zeigen sollen.«

Das alles hatte die Leute nicht abgehalten, vielmehr angetrieben, massenhaft in das Vachtasche Haus zu strömen, wo in dem großen Saal der Bel-Etage der Sarg aufgebahrt stand: zu den Häupten des Toten das umflorte Bild der trauernden Witwe, die nicht auf die Blume in ihrem Schoß, sondern auf den geliebten, ihr nun für immer Entrissenen hinabzusehen schien; der Sarg selbst überdeckt mit den schönsten und kostbarsten Kränzen, von denen keiner schöner und kostbarer war als der an das Fußende gelehnte riesengroße, welcher auf breitester weißer Atlasschleife die herzogliche Krone in Gold gestickt und in goldgestickten Lettern die Inschrift trug: »Treu bis in den Tod seinem Herzog und Freunde!«

An dem Sarkophag in dem Saale, der beim Eintreten der Dunkelheit von dem Licht zahlreicher Kerzen auf Kandelabern und Wandleuchtern magisch erleuchtet war, hatten der Verwalter Baumann, die Hausdiener Johann und Friedrich abwechselnd Wache gehalten. Die trauernde Witwe, auf deren Anblick die naiven Leute sich besonders gespannt hatten, war selbstverständlich unsichtbar geblieben. –

Es war am Abend des vierten Tages nach der Katastrophe im Walde. Bereits gestern war die einbalsamierte Leiche in ihrem Zinksarg, begleitet von dem Diener Johann, nach Ostpreußen unterwegs, wo auf den dringenden Wunsch des Grafen die Beisetzung in der Ahnengruft unter der Schloßkapelle von Lötzenau stattfinden sollte. Heute morgen mit dem Frühschnellzuge hatte Baby, eskortiert von Frau Poltrok, der Amme und Friedrich, die lange Reise angetreten. Für Susi war nur ihr Kammermädchen Laura zurückgeblieben.

Der Wagen, der sie zur Bahn bringen sollte, hielt bereits vor dem Hause. Sie saß in ihrem Boudoir, das bis zur Stunde unverändert geblieben war, völlig zur Reise fertig – nur Hut und Handschuhe lagen noch neben ihr auf einem Tischchen – an dem Kamin, in dem das Feuer ausgehen wollte; vor ihr Herr von Brenken.

»Und wie denken Sie sich nun eigentlich die Sache, Brenken?« fragte Susi.

»Mir deucht, liebe Freundin, die Sache ist sehr einfach,« erwiderte Brenken. »Ich glaube nicht, daß Sie jemals wieder zurückkehren werden: der Boden ist hier ein wenig zu heiß unter Ihren schönen Füßen. Es müßte denn sein, daß die unqualifizierbare Behandlung, die Hoheit Ihnen hat zu teil werden lassen –«

»Ich dächte, das Kapitel wäre erledigt,« sagte Susi ungeduldig.

»Mein Gott, on revient toujours,« fuhr Brenken achselzuckend fort. »Unser biederer Herzog ist bekanntlich in dem Wechsel seiner Neigungen ein Chamäleon; dazu hat er jetzt, nach dem Tode der Herzogin, die Politik der freien Hand –«

»Ich bitte, Brenken, lassen Sie Ihre schlechten Witze!«

»Gut, rühren wir nicht an eine frische Wunde! Also: Sie kehren hierher nicht wieder zurück; Sie verkaufen das Gerümpel da oben im Walde und das Stadthaus hier, was gar keine Umstände machen wird, da nach den Bestimmungen Ihres Ehekontraktes der überlebende Teil Universalerbe ist, und der Graf, Ihr Herr Vater, glauben wird, Ihre Gefühle zu schonen, wenn er die Erinnerung an eine so schmerzensvolle Zeit Ihres Lebens möglichst verwischt. Bon! Sie leben also vorläufig ruhig bei Ihrem Herrn Vater, fern von Madrid. Madrid freilich wird sich nicht sobald beruhigen; der von dem »Boten« ausgestreute Same wird herrlich aufgehen, steht vielmehr schon jetzt in üppigster Blüte. Das kann für Ihre Zukunft mehr als gefährlich werden. Eine so hochgestellte, dazu so schöne, junge Frau, wie Sie, ist überall, wo sie erscheint, der Gegenstand der Neugier, des Interesses. Da wird nach den Antecedenzien gespürt mit feinsten Schnüffelnasen, die in diesem Falle leichte Arbeit haben, die Spur bis hierher zurückzuverfolgen: bis in diese Metropole des Skandals und Cancans, bis in das herzogliche Schloß, bis in die Villa selbst im Park. Nun verzeiht die Welt einer reichen und schönen jungen Frau bekanntlich vieles, aber doch nicht alles. Sie kann einen Geliebten gehabt haben, oder auch mehrere, nur es darf kein regierender Herr darunter gewesen sein. Das ist mauvais goût; das können sich Kunstreiterinnen, Komödiantinnen und so weiter verstatten, eine Dame, eine wirkliche Dame nicht. Darin sind wir entweder d'accord, oder werden es zweifellos noch werden: einem Rufe, der für Sie mit Verbannung aus der guten Gesellschaft identisch ist, müssen Sie vorbeugen. Sie können es nur durch eins.«

»Dadurch, daß ich Sie heirate,« sagte Susi, nach einem ihrer Handschuhe neben dem Hute auf dem Tisch greifend.

»Parfaitement, madame! Dadurch, daß Sie mich heiraten, der von Anfang an in dieser Tragikomödie mit dem Träger der Hauptrolle so beständig zusammen genannt ist, daß von den schärfsten Beobachtern im Parterre keiner auf seinen Eid nehmen würde, zu sagen, wer sie denn nun in Wirklichkeit gespielt hat. Wenn Sie Odo von Brenken heiraten, erklären Sie dadurch ebenso einfach, wie überzeugend: er ist es gewesen.«

»Und Sie glauben, bei meinem Papa zu reüssieren?«

»Ich wüßte nicht, was der Herr Graf gegen mich haben sollte. Meine Familie führt drei Mohrenköpfe im Wappen; so weit haben es weder die Vachtas noch die Lötzenaus gebracht. Das Schicksal, arm zu sein wie eine Kirchenmaus, teile ich mit einer stattlichen Legion meines Standes. Ich habe sogar außerdem nicht ganz unbeträchtliche Schulden; ich werde sie dem Grafen gewissenhaft beichten; er wird sie gern bezahlen, und so wäre auch das im reinen. Hier hält mich nichts. Der Herzog hat sich zum Dank dafür, daß ich mich für ihn habe totschießen lassen wollen, in Zukunft meine Dienste verbeten. Was ist begreiflicher, als daß mich, in Ermanglung eines Herrn, herzinnig nach einer Herrin verlangt – nach Ihnen verlangt, meine angebetete Susi!«

»Bleiben Sie sitzen,« sagte Susi, die jetzt behandschuhte Hand vorstreckend. »Sie glauben nicht, wie lächerlich mir knieende Männer sind.«

Sie langte nach dem zweiten Handschuh.

»Und wenn meinem Papa die Nummer des ›Volksboten‹ zu Gesicht gekommen sein sollte?«

Brenken zuckte die Achseln.

»Freilich,« sagte er; »weshalb hätte man denn seine guten Freunde! Andrerseits: weshalb hätte man einen so beneidenswerten Papa, der zweifelsohne das Schandblatt nachdem er es gelesen – wenn er es bis zu Ende gelesen –, ins Feuer geworfen hat! Und seine rechte Hand in dasselbe Feuer legen würde, zu beschwören: es sei alles Lug und Trug, was da gedruckt steht. Apropos, Teuerste, wissen Sie, daß bereits neben dem gedruckten ein ungedruckter Cancan im Schwange ist? Einer der Treiber, der irgendwie in unziemliche Nähe kam, behauptet steif und fest: er habe gehört, wie die Herren sich fürchterlich gezankt hätten, bis zuletzt der Baron dem Herzog den Hirschfänger auf die Brust setzte.«

»Schade, daß es dabei geblieben ist,« sagte Susi, an dem zweiten Handschuh knöpfend.

»In gewissem Sinne jammerschade,« erwiderte Brenken. »Aber, hätte er Serenissimus verdientermaßen über den Haufen gestoßen, um sich dann selbstverständlich einen Moment später eine Kugel durch den Kopf zu jagen – ja, liebe Freundin, dann freilich wäre meine – oder darf ich sagen: unsre? – Situation ziemlich aussichtslos. So schwebt, trotz ›Volksboten‹ und allem Gerede, über dem Ereignisse ein Non liquet: die Sache bleibt dunkel. Und in diesem Dunkel werden wir den rechten, ich meine: den uns genehmen und bequemen Weg zu finden wissen.«

»Den für uns frei zu machen, ihm nicht weniger gekostet hat als sein Leben,« sagte Susi, den letzten Knopf am Handschuh schließend.

»Aber Beste, Teuerste, Einzige,« rief Brenken, »glauben Sie denn wirklich an das alberne Märchen des ›Volksboten‹ von dem ›Er wollte sterben‹? Ich bin überzeugt, er ist, als er seinen Herzog bedroht sah, nur ganz instinktiv seinem Edelmut gefolgt und hat sich dem wütenden Tier entgegengeworfen, wie er in einem Kampf auf Tod und Leben seinen Gegner mit Aufopferung des eigenen Lebens vor einer heranbrausenden Lokomotive von den Schienen zu reißen versucht haben würde. Für seinen Herzog ist er gestorben, nicht für uns. Darin hat das offizielle Blatt ganz richtig gesehen.«

»Und Sie, Brenken, haben ein sonderbar richtiges Verständnis für die Handlungsweise von Leuten, die besser sind als Sie.«

»Unter andrem ward uns auch dazu der Verstand.«

»Wissen Sie, Brenken, Sie sind doch entre nous ein furchtbares mauvais sujet

»Sehr schmeichelhaft,« erwiderte Brenken. »Ich nehme an, daß Sie unter einem mauvais sujet einen Mann verstehen, der absolut kein Vorurteil hat; dem schlechterdings nichts imponiert; der entschlossen ist, sich das Leben, soweit es geht, ganz nach seinem Geschmack einzurichten – enfin: einen Menschen, der genau so ist, wie er sein muß, wenn Sie ihn heiraten sollen.«

Er hatte ihr die Hand geküßt; sie war aufgestanden, setzte sich den Hut auf und steckte die Nadel fest.

»Wie entzückend Sie schwarz kleidet,« sagte Brenken, die kleine graziöse Gestalt mit den Augen verschlingend.

»Es steht mir gut,« sagte Susi. »Ich werde also meinen Papa auf Ihren Besuch vorbereiten. In einigen Monaten natürlich.«

»Natürlich in einigen Monaten.«

»Und wo werden Sie inzwischen bleiben?«

Brenken lachte:

»Wenn ich das selber wüßte!«

»Gleichviel! Sie werden es mir schreiben, wenn Sie es wissen.«

»Ich darf Sie nicht auf die Bahn bringen?«

»Ich wüßte nicht, was Sie davon abhalten sollte. Wir beide haben hier nichts mehr zu verlieren.«

»Ganz meine Ansicht. Sie dürfen es nur nicht tragisch nehmen.«

Susi, die, während sie der Thür zuschritten, ein wenig voraus war, wandte sich um. Das Licht der beiden Lampen auf dem Kaminsims fiel hell in ihr reizendes, von dem schwarzen Flor des Schleiers umrahmtes Gesicht. Um den kleinen Mund mit den zarten Lippen spielte die Andeutung eines Lächelns, die großen durchsichtigen blauen Augen lachten verräterisch offen.

»Sehe ich so aus?« sagte sie.

Als sie auf dem Bahnhof ankamen, fanden sie eine lange Reihe herzoglicher Equipagen vor dem Portal aufgefahren und den Perron abgesperrt. Der Prinz und die Prinzessin waren eben zu der Trauerfeier der Beisetzung der Herzogin morgen von Berlin gekommen; sie hatten, sparsam, wie immer, den fahrplanmäßigen Schnellzug für sich und ihr Gefolge benutzt. Susi und Brenken mußten in der Vorhalle bleiben, die man dem Publikum überlassen hatte mit Ausnahme einer breiten, von Schutzleuten freigehaltenen Gasse, die von dem Fürstensalon zu dem Ausgange führte. Brenken, der es doch nicht vergessen konnte, daß er bei solchen Gelegenheiten im Zuge der Herrschaften geschritten war, hatte zurückbleiben wollen; aber Susi mit den Worten: »Das müssen wir uns doch ansehen!« nach vorn gedrängt, so daß sie unmittelbar am Spalier zu stehen gekommen waren.

Sie brauchten nicht lange zu warten. Die Flügelthüren zum Salon sprangen auf: erst der Oberhofmarschall von Bartenstein; dann der Herzog, am Arm der Prinzessin; hinter ihnen der Prinz, der die benachbarte Herzogin führte; hinter diesen der benachbarte Herzog mit der Gräfin Bartenstein; dann die herzoglichen Hofchargen mit dem prinzlichen Gefolge. Es war unmöglich, daß der Herzog Susi nicht sah: ihre Stellung in unmittelbarer Nähe, ihre elegante Trauerkleidung, die Distinktion ihrer ganzen Erscheinung schlossen es aus. Und der Herzog hatte falkenscharfe Augen.

Die er, als er an ihr vorüberkam, über sie weggleiten ließ, als wäre da Luft gewesen, um gleich darauf einer knixenden Bürgerfrau gnädig zuzuwinken. Dem vom Herzog und der Prinzessin – es schien, als hätte ihr der Herzog vorher ein Wort zugeflüstert – gegebenen Beispiel folgten die übrigen Herrschaften, folgten die Hofstaaten, selbst die Gräfin von Bartenstein und Fräulein von Merbach: sie hatten der Dame bereits heute vormittag eine glückliche Reise wünschen lassen. Nur über des Prinzen männlich schöne Züge war, als er Susis ansichtig wurde, ein Zucken gegangen. Der Artikel des »Boten« hatte auch ihm bereits vorgelegen und sein naiver Rechtssinn sofort herausgefunden, daß den Herzog keine mindere Schuld treffe als Susi. Aber von der Prinzessin war ihm erklärt worden, daß die Solidarität der fürstlichen Interessen es zur heiligen Pflicht mache, diese Ueberzeugung für sich zu behalten; unter keinen Umständen ihr einen öffentlichen Ausdruck zu geben, der keinen andern Erfolg haben werde, als den destruktiven Tendenzen einer ohnehin schon zügellosen Presse Vorschub zu leisten. So that er denn wie die andern.

Der Zug war vorüber; die Eingänge zum Perron standen frei, doch strömte der größte Teil des Publikums, den nur das Schauspiel herbeigelockt hatte, hinter den Herrschaften her dem Ausgange zu; nur einige wenige hasteten nun nach dem inzwischen vorgefahrenen Zuge.

Brenken hatte Susi wieder den Arm gegeben.

»Konnten Sie uns das nicht ersparen?« fragte er.

»Nein,« erwiderte Susi; »ich wollte meine Nerven auf die Probe stellen.«

»Und?«

»Sie haben sie vortrefflich bestanden. Ihre nicht?«

»Passablement. Sie sind hier, wie in allem, meine Meisterin und mein Vorbild.«

Er hatte sie in dem Schlafwagen installiert, war dann noch einigemal ab- und zugelaufen: der gnädigen Frau eine Reiselektüre für morgen zu kaufen; zu sehen, ob Laura in ihrem Coupé zweiter Klasse ordentlich untergebracht war. Dann stand Susi an einem der Fenster des Schlafwagens, winkend; er mit dem Hut in der Hand, auf dem Perron, ebenfalls winkend, während der Zug langsam aus der taghellen Glashalle des Bahnhofs in die dunkle Novembernacht hineinrollte.

Brenken hatte den Hut wieder aufgesetzt.

Sich wendend, sah er in geringerer Entfernung den Bahnhofsinspektor, der augenscheinlich die Abschiedsscene beobachtet hatte. Der Inspektor und er hatten sich als Jungen du genannt. Der Mann hatte es übelnehmen können, wenn er ohne ein leutseliges Wort an ihm vorübergeschritten wäre. Er trat auf ihn zu:

»Nun, lieber Wiegand, das geht in diesen Tagen hier wohl heiß her?«

Der stattliche Mann richtete sich straff in den Hüften auf:

»Mit wem habe ich die Ehre?«

»Ah so!« sagte Brenken, sich auf den Hacken wendend.

Er bat einen Herrn in der Nähe um Feuer für seine Cigarette, dankte höflich und schritt langsam den Perron weiter hinab.

»Das war stark!« murmelte er. »Hoheit vorhin in seiner Pracht; jetzt ich, geschnitten von einem obskuren Bahnhofsbeamten! Illustration zu: die kleinen Diebe hängt man! Pah! Man darf es eben nicht tragisch nehmen. Die Welt ist rund. Und hat ein Gedächtnis wie ein Sieb. Mit einer Susi und ihrer Million – das müßte doch wunderlich zugehen, wenn man in zwei Jahren oder so nicht wieder obenauf wäre!«

Ende.


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