Friedrich Spielhagen
Susi
Friedrich Spielhagen

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Achtzehntes Kapitel.

Es war gegen sechs Uhr morgens, als Astolf auf Vachta anlangte. Erst von einer der letzten Stationen hatte er, sein Kommen möglichst geheim zu halten, an seinen Verwalter telegraphiert; der Bote mit der Depesche war ihm nur eine halbe Stunde voraus gewesen. Der Verwalter, ein älterer treuer Mann, der bereits seinem Vater gedient hatte, fand nichts und konnte nichts Auffallendes in seiner plötzlichen Ankunft finden: war er doch bereits mehrere Tage über die festgesetzte Zeit ausgeblieben, und erwartete ihn schon seit gestern abend ein Zettel des Oberförsters, auf dessen Revier die Jagd stattfinden sollte, mit der Notiz, daß das Rendezvous um neun Uhr am Nödaer Loch bei der großen Eiche sei. Vom Bahnhofe hatte er sich einen Wagen genommen, die dort haltende, offenbar für ihn bestimmte herzogliche Equipage geflissentlich übersehend.

Der Inspektor führte ihn nach oben in den Salon, als das in dem verlassenen Hause noch wohnlichste Gemach, das er tüchtig hatte durchwärmen lassen und wo auf dem Tisch vor dem Sofa ein aus mancherlei guten Sachen bestehendes Frühstück sauber serviert war. Von der Frau Baronin habe er zu seiner Verwunderung seit über acht Tagen keinerlei Kunde. Er sei einmal in der Stadt gewesen und habe sich pflichtschuldig gemeldet, sei aber nicht empfangen worden. Friedrich habe ihm gesagt: die gnädige Frau empfange niemand außer Herrn von Brenken, der täglich komme, sich nach dem Befinden zu erkundigen und darüber im Schloß Rapport zu erstatten. Dem gnädigen kleinen Fräulein gehe es gut. Ob der Herr Baron noch sonst Befehle für ihn habe?

Astolf bat nur, daß der Jagdwagen pünktlich viertel neun Uhr bereit gehalten werde. Er wolle, wenn er gefrühstückt habe, nach seinem Jagdzeug sehen und sich dann aufs Sofa legen, womöglich noch eine Stunde zu schlafen. Der Schneesturm, der die Nacht hindurch gewütet, habe die Fahrt zu einer recht bösen gemacht.

»Der Herr Baron sehen auch gar nicht gut aus,« sagte der Verwalter. »Na, der Herr Baron haben ja, Gott sei Dank, eine kräftige Natur. Eine Stunde Schlaf, und alles ist wieder in der besten Ordnung. Wünsche also wohl zu ruhen, Herr Baron!«

Der Verwalter war gegangen; Astolf hätte ihn gern länger behalten. Während der Mann im Zimmer war und in seinem treuherzigen Dialekt zu ihm sprach, war ihm leichter gewesen: als sei nichts geschehen, alles beim alten; als sei er ohne Aufenthalt durch die Stadt gefahren, um Susi nicht zu wecken, sie heute mittag desto gründlicher zu überraschen; als sei er nur hier, um mit dem Herzog auf ein paar Stunden auf die Saujagd zu gehen. Niemand war im Zimmer gewesen – nur er und der Verwalter. Nun strichen sie wieder, nun hockten sie wieder um ihn her, wie sie alle diese Tage um ihn her gestrichen und gehockt: die Rachegespenster, und glotzten ihn an mit bluttriefenden gierigen Augen. Du hast doch nicht gar den Mut verloren, jetzt, wo es gilt? jetzt, wo die Stunde da ist – die Stunde, in der du es thun mußt? Hörst du?

Ja, ja! Ich weiß es so gut wie ihr. Ich will nicht von euch gehetzt sein.

Du hast uns nicht heraufbeschworen. Er hat es gethan, der dich in diese bodenlose Schmach gestürzt. Und jetzt kommen wird, deine Hand zu drücken, dich seinen besten Freund zu nennen – den einzigen, den er auf Erden besitzt – und zu fragen: was du nun mit dem bösen Buben, dem Verräter, zu thun gedenkst?

Totschlagen! Was sonst! Nicht seinen Popanz! Ihn selber, den doppelten Verräter! Totschlagen wie einen tollen Hund!

Er hatte es laut gerufen und blickte, vom Ton der eigenen Stimme erschreckt, scheu um sich her. Was ihn da aus dem Spiegel über dem Kamin anstarrte – der Mensch mit dem verwilderten Bart, den eingefallenen Wangen, den grassen, glotzenden Augen – war er das? War's eins der Gespenster? Oder wenn sie sich zusammenthaten, sahen sie so aus? Wie ein Tollhäusler, den man in die Zwangsjacke stecken muß? Sonst läuft er hin und schlägt einen Menschen tot wie einen tollen Hund!

Ein eiskalter Schauder rieselte ihm den Rücken hinab, daß seine Glieder sich schüttelten. Er trat an den Frühstückstisch. Seit gestern mittag hatte er so gut wie nichts genossen. Er versuchte ein paar Bissen zu essen; sie würgten ihm in der Kehle. Neben der Kaffeekanne stand eine Flasche Cognac. Er schenkte sich ein großes Glas voll und trank es auf einen Zug aus. Das that ihm gut; der schüttelnde Frost war weg, in dem verwüsteten Kopfe wurde es wieder klar.

Er trat an das Balkonfenster. Die Dämmerung war angebrochen – spät für diese Jahreszeit. Aber am Himmel wälzten sich nach Osten zu dicke, schwärzliche graue Wolken so tief, daß sie die beschneiten Wipfel der Bäume in dem Bergwald drüben zu streifen schienen. Der Bach, der am Hange, jenseits des Parkgeländes, thalwärts lief, brauste stark. Wenn jetzt, wie es schien, Tauwetter eintrat, mochte es seinen Wiesen weiter unten schlimm ergehen. Was konnten ihm seine Wiesen jetzt noch sein? sein Wald drüben? dies sein Haus? Bevor drei Stunden vergingen, war er ein toter Mann.

Zu dem andern Toten.

Er wandte sich wieder ins Zimmer.

Da, an dem Tage von Babys Taufe hatte sie gesessen, als die Gesellschaft fort und sie allein waren. Sie hatten von dem Herzog gesprochen, und sie hatte gefragt, ob er nie daran gedacht, daß sie sich in ihn verlieben könne? So zischen die Schlangen doch, bevor sie stechen! Oder war damals schon die Buhlschaft in vollem Gange gewesen?

Sehr wahrscheinlich!

Er nahm eine von den beiden Lampen auf dem Frühstückstisch und ging durch den zweiten Salon, die eiserne Wendeltreppe hinauf in sein Arbeitszimmer, wo sein Gewehrschrank stand. Gut, daß er diesmal alles hier gelassen hatte! Freilich, er that es auch sonst, da die hauptsächlichen herzoglichen Jagden, die seiner Nachbarn, seine eigene alle nach dieser Seite lagen, und er so, selbst von der Stadt aus, fast immer über Vachta mußte. Dennoch sah er darin ein Zeichen: es sollte eben sein! Hier hing, was not that. Er hatte die Wahl. Während er in den Waffen herumkramte, bald die Lefaucheuxbüchse in die Hand nahm und aufklappte, jetzt das Zentralfeuergewehr und den Mechanismus prüfte, kam ihm ein plötzlicher Gedanke, der ihn regungslos machte:

Er hatte sich den Kopf darüber zerbrochen, wie er es anfangen könne, aus dem Leben zu gehen, ohne daß jemand sagen durfte: er hat es gewollt! Er glaubte, das ganze Register der Todesarten erschöpft zu haben – an diese, die doch so nahe zu liegen schien, hatte er nicht gedacht. Wohl, weil er während der Zeit nicht vor einem Gewehrschrank gestanden und die Gewehre untersucht, ob alles an ihnen in Ordnung, ob sie vorschriftsmäßig geputzt, ob noch eine Patrone von der letzten Jagd her im Rohr? Da ist man denn mit dem Zeug ein bißchen unvorsichtig umgegangen, bei schlechter Beleuchtung, nach einer Nacht in der Eisenbahn, von der es einem im Kopf wüst war und die Finger klamm und ungeschickt – na, und dabei hatte man den Schuß in die Brust gekriegt – oder in den Kopf? – nein! Brust ist besser. In den Kopf trifft man sich nicht so leicht, daß es sofort tödlich ist. Und sich noch ein paar Tage herumquälen mit zerschmetterten Kinnbacken, das ist die Geschichte nicht wert.

Ist sie's überhaupt wert, daß einer sich deshalb das Leben nimmt, nachdem er vorher einen andern totgeschlagen? Was ist es denn? Ein ehrlicher dummer Kerl hat in seiner Blindheit eine Dirne geheiratet. Ein guter Freund, der gar nicht dumm und blind ist, kommt natürlich bald dahinter und führt ihm den praktischen Beweis ihrer wirklichen Qualität. Alles in allem ein Freundschaftsdienst, zu dem man sich freilich nicht gern bekennt und lieber thut, als sei er von einem andern ausgegangen. So was begreift sich. Und für den Skandal, den solche Affairen immer aufrühren, und die Blamage, die dabei für den dummen Kerl von Ehegatten abfällt – dafür kann der Freund doch nicht; das ließ sich doch gar nicht vermeiden. Also reichen mir uns die Hände und – soyons amis!

Lieber mit dem Teufel Brüderschaft trinken!

Er hatte starr dagestanden, auf die Zentralfeuerbüchse in seiner Hand stierend. Die hing er wieder in den Schrank und nahm den Lefaucheux. Er schoß nicht ganz so weit und sicher wie das andre Gewehr; aber lag ihm bequemer, und auf den Ruhm, die größte Stückzahl zur Strecke geliefert zu haben, wollte er heute ja wohl verzichten.

Ein schwerer Schritt polterte die Treppe herauf; es war der Verwalter. Er hatte den Herrn Baron nicht mehr unten gefunden und wollte sehen, ob er ihm hier oben helfen könne?

»Ich nehme nur den Lefaucheux, Baumann. Wenn Sie nach der Munition da in der Ledertasche sehen wollten?«

»Alles ist in bester Ordnung. Aber der Herr Baron werden sich doch nicht mit dem Hirschfänger schleppen?«

»Der Herzog trägt auf diesen Jagden immer einen, und ist sehr ungnädig, wenn man den Scherz nicht mitmacht.«

»Na denn! Der Fall, daß ein Schwein oder meinetwegen auch ein Hirsch den Jäger annimmt, kann doch wohl gar nicht dabei vorkommen?«

»Warum nicht?«

»Na, bei den Kanzeln, von denen die Herren herunterschießen!«

»Man bleibt nicht immer auf den Kanzeln.«

»Der Herr Baron müssen das freilich besser wissen. Und was ich noch sagen wollte: der Herr Baron fahren vielleicht doch schon um acht. Die Wege sind miserabel und vor Schneeverwehungen ist man auch nicht sicher.«


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