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XIV.

S ven war kaum allein, als er schon wieder in das brütende Sinnen, aus welchem ihn das Erscheinen seiner Wirthin für einen Moment aufgerüttelt hatte, versunken war. Als sein Blick nach einiger Zeit zufällig das Buch in Maroquineinband traf, mußte er sich erst besinnen, wie es auf seinen Tisch gekommen. Mechanisch griff er danach und eine seltsame Empfindung durchzuckte ihn, als sein Auge jetzt auf die zierliche englische Schrift fiel, mit welcher die Blätter bedeckt waren.

»Sagte sie nicht etwas von einer englischen Dame, die vor Jahren bei ihr gewohnt, oder habe ich es nur geträumt?«

Hastig überflog er einige Stellen, die sein schon erwecktes Interesse noch steigerten; dann begann er, ohne zu bedenken, daß er kein Recht habe, dies zu lesen, von Anfang an mit einer ahnungsvollen Unruhe, die sich von Seite zu Seite steigerte.

. . . . . . . . . . . .

Fanny, so nenne ich die Heldin dieser wahrhaftigen Geschichte, hatte ihren Vater nie gekannt. Ihre Mutter besaß, Bajadere, wie sie war, einen stolzen Sinn, der sich gegen eine unwürdige Behandlung empörte und das äußerste Elend einem schmachvollen Glanze vorzog. Sie hatte sich in einer Umgebung, wo Sittenlosigkeit die Regel und die Versuchung zur Sünde riesengroß ist, rein erhalten. Sie war eine beliebte und wegen ihrer Schönheit gefeierte Tänzerin, dennoch konnte sich Niemand ihrer Gunst rühmen. Da lernte Constanze zu ihrem Unglück meinen Vater kennen. Er war ein schöner glänzender Cavalier, der in allen Künsten der Verführung Meister war, besonders in der Kunst, bei einem durch und durch verderbten egoistischen Herzen die Miene eines Biedermannes zu heucheln. Er schien von der Schönheit Constanze's gerührt, von ihrer Tugend entzückt, er wußte die Maske eines enthusiastischen, aufrichtigen Bewunderers so dicht über sein wahres Gesicht zu ziehen, daß sie dem gläubigen Auge des edelherzigen Mädchens wenigstens undurchdringlich war. Da er nicht in der Stadt, in welcher Constanze zu jener Zeit beschäftigt war, sondern auf dem Gute seines Vaters – wie er sagte – wohnte, und von diesem strengen, mürrischen alten Vater mißtrauisch bewacht, nur selten und selbst dann nur immer verstohlen, mit seiner Geliebten zusammenkommen konnte, so fehlte ihrem Verhältniß nicht der Reiz des Geheimnisses, der für die meisten Gemüther, und besonders so phantastische, wie das Constanze's, einen so großen Reiz hat. Wozu bei der Entwickelung eines alltäglichen Dramas noch lange verweilen? Die Katastrophe trat nur zu bald ein. Ein Nebenbuhler des Cavaliers in der Gunst Constanze's schrieb an sie einen anonymen Brief, in welchem er sie vor dem Umgange mit einem Mann warnte, der ein notorischer Roué Wüstling. – Anm.d.Hrsg. sei, und das Versprechen, sie nach dem Tode seines Vaters zu heirathen, umsoweniger werde halten können, als dieser Vater allerdings seit acht Wochen todt, der Sohn dafür aber seit beinah eben so viel Jahren mit einer sehr schönen und liebenswürdigen Dame verheirathet und durch diese bereits Vater von drei Kindern sei.

Constanze glaubte kein Wort von alle dem. Sie zeigte dem Cavalier diesen Brief und bat ihn, über die verächtlichen Verleumdungen seiner Feinde zu lachen. Aber der Cavalier lachte nicht; im Gegentheil, er wurde ganz ernsthaft und sagte nach kurzem Bedenken: es ist gut, daß die Sache zur Sprache kommt; sie mußte es über kurz oder lang doch einmal. Was Dir der Anonymus, der übrigens kein Anderer als Herr von – ist, und dem ich dafür eine Kugel durch seinen dummen Schädel jagen werde, schreibt, ist Alles wahr. Indessen was thut's? Es ändert ja in unserm Verhältnisse nichts, nur daß ich Dich nicht werde heirathen können. Du bleibst was Du bist – meine Geliebte – und ich gebe Dir jährlich tausend Thaler – oder auch zweitausend, oder so viel wie Du willst – sagte der Cavalier, der sah, daß Constanze bei seinen Worten immer bleicher und bleicher geworden war.

Constanze antwortete nichts. Sie deutete nur schweigend auf die Thür. In ihrem Antlitz und in ihrer Geberde lag ein Etwas, das Gehorsam heischte. Der Cavalier entfernte sich und murmelte: er wolle morgen, wieder kommen, wenn die Dame in etwas besserer Laune sei. Er kam auch wirklich am andern Tage, aber er fand die Wohnung Constanze's leer. Sie war noch in derselben Nacht abgereist. Niemand wußte wohin, und Niemand hat es je erfahren.

Einige Jahre später trat an einem der kleineren Theater Londons eine Tänzerin auf, über welche das Urtheil des Publikums sehr getheilt war. Die Einen sagten: sie sei ein Muster von rührender Anmuth und hinreißender Grazie, die Andern fanden ihre Bewegungen lanquid und ihre Saltos bei weitem nicht hoch genug; die Einen behaupteten: es sei eine der schönsten Frauen, die man sehen könne, die Andern: sie sei allerdings früher jedenfalls sehr schön gewesen, aber die Jahre, Krankheit oder Kummer hätten doch in dieser Schönheit bereits arge Verwüstungen angerichtet. Wie dem auch sein mochte: die Künstlerin errang nur einen sehr fraglichen Beifall und der Impressario, der sie mit allem Pompe angekündigt hatte, ließ ihr die Wahl, ob sie in das Corps de Ballet eintreten, oder ihr Heil auf einer andern Bühne versuchen wolle.

Sie entschied sich für das Erstere. Sie wußte am besten, daß die Recht hatten, welche behaupteten, daß ihren Leistungen die rechte Kraft und ihrer Schönheit die frische Blüthe fehle. Sie wußte, daß Krankheit und Kummer jene unwiederbringlich gebrochen und diese für immer abgestreift hatten. Sie wußte, daß ihr der Tod am Herzen nage, und daß der Tanz, den sie auf der Bühne unter dem Applaudiren und Zischen der Menge tanzte, ein Todestanz sei.

Dennoch mußte sie leben – nicht für sich, denn das Leben war ihr eine Last – aber sie hatte ein Kind, ein Töchterchen, das sie mit der ganzen, durch Leid und Schmerz nur noch gesteigerten Gluth eines unendlich liebreichen Herzens liebte. Sie, für sich selbst, hätte schon längst Ruhe und Vergessenheit in den Wassern der Themse gesucht, aber für ihr Kind ertrug sie willig die Pfeil' und Schleudern des wüthenden Geschicks, die Entbehrungen, den Mangel, die Noth – und schlimmer als das, die Qual, mit einem Herzen voll tiefsten Leides tanzen und lächeln zu müssen vor einem Publikum, das kein Erbarmen hat und haben kann, und all' die tausend Demüthigungen, die von einem groben Impressario und gemeinen Colleginnen einer armen, durch Kränklichkeit in der Ausübung ihrer Kunst vielfach gehinderten Choristin bereitet werden. Sie ertrug dies Alles und hätte noch viel mehr ertragen. Was ist einer Mutter unmöglich, wenn es sich um ihr Kind handelt! Und o! mit welcher rührenden Zärtlichkeit sie über dies Kind wachte! wie sie ihr die kleinsten Steinchen aus dem Wege räumte, sie, deren Fuß auf der rauhen Bahn ihres kummerreichen Lebens tagtäglich von scharfen Dornen mitleidslos zerrissen wurde! Ihre größte Sorge war: sie könne sterben, bevor Fanny im Stande sei, sich selbst ihr Fortkommen in der Welt zu schaffen. Sie hätte ihre Lage wesentlich verbessern können, wenn sie zugegeben hätte, daß Fanny die Bretter betrat. Denn die Leute sagten, daß Fanny schön sei, und daß sie durch ihre Schönheit allein Furore machen würde.

Aber Constanze schauderte vor diesem Gedanken zurück. Ihr Kind, ihren Engel in diesen Pfuhl der Sünde stoßen, zugeben, daß die Reine geschleudert werde in dieses Pandämonium – o, nimmer, nimmermehr! nicht für alle Schätze Indiens! Hatte sie doch selbst, als ihr die Wahl gestellt wurde zwischen bezahlter Schande und einem Leben voll Noth und Entbehrung keinen Augenblick geschwankt. Fanny sollte nie erfahren, daß die Schönheit das Aushängeschild des Lasters sein kann. Ihr Plan war, das Kind möglichst viel lernen zu lassen und sie sodann in einer ehrbaren Familie als Erzieherin unterzubringen. Sie zweifelte nicht daran, daß ihr dieser Plan gelingen werde. Sie selbst war die Lehrerin ihres Kindes. Sie sprach die hauptsächlichsten lebenden Sprachen, sie hatte viel und mit Verständniß gelesen; sie hungerte, um ihrer Tochter eine Grammatik, irgend ein Buch, das sie für nöthig hielt, kaufen zu können. Ihre Sorgfalt war nicht verschwendet. Fanny hing mit ebenso großer Liebe an ihrer Mutter, wie sie von dieser geliebt wurde, und sie hätte Alles, was die Mutter von ihr gelernt wünschte, aus Liebe gelernt, wenn ihre Wißbegierde nicht eben so groß gewesen wäre, wie ihre Liebe.

So war Fanny sechzehn Jahre alt geworden, ohne von der Welt mehr kennen gelernt zu haben, als wäre sie eine von sorgsamen Wächtern behütete und beschirmte Prinzessin gewesen. Sie verließ ihre kleine Wohnung nur immer in der Begleitung ihrer Mutter, welche nicht bedachte, daß der sicherste und oft der einzige Schutz der Armen und Verlassenen ihre, durch die Noth frühzeitig gereifte Lebenserfahrung und Menschenkenntniß ist. Die Mutter glaubte, sie werde Zeit genug behalten, das Schiff des Glückes ihrer vielgeliebten Tochter in den ruhigen sichern Hafen zu steuern, ohne daß die Tochter selbst die rauhe und gefahrvolle Arbeit, die dazu gehört, kennen lernte. Sie wurde in dieser Hoffnung betrogen.

Als Fanny eines Abends, auf die Rückkehr der Mutter harrend, zu Hause über ihren Büchern saß, wurde heftig an die Thür gepocht. Verworrene Stimmen, die nichts Gutes verkündeten, begehrten Einlaß. Zitternd öffnete Fanny. Man brachte ihre Mutter getragen – eine Leiche! Ein Blutsturz hatte, als sie eben von den Brettern hinter die Coulisse getreten war, ihrem Leben, das schon lange an einem Faden hing, ein Ende gemacht.

Es waren grauenvolle, entsetzliche Tage, die Tage, die nun folgten. Aus der treuen mütterlichen Hut hinausgestoßen in eine bange Oede, in der tausend Gefahren – Gefahren, welche sie mehr ahnte als begriff – die Unerfahrene, Hülflose wie Gespenster umschwebten. Allein, ganz allein und allein in London, diesem donnernden Meere, wo das Hülfegeschrei des Ertrinkenden ungehört verhallt, wo das Leben des Einzelnen nicht schwerer wiegt als die Schaumblase, die auf dem Wasser treibt, um im nächsten Augenblick spurlos zu verschwinden.

Man hatte die Mutter fortgetragen und auf einem Kirchhof in der Nähe verscharrt. Fanny war allein geblieben in der öden Wohnung. Man hatte ihr nur das Allernothwendigste an Kleidern und Hausgeräth gelassen, das Andere hatte dienen müssen, die Kosten des Begräbnisses zu decken. Ein paar Pretiosen der Mutter aus früheren besseren Tagen hatte sie vor den habgierigen Blicken der Menschen, die sich in die Wohnung, des Jammers drängten, zu verbergen gewußt. Ihr ganzes sonstiges Vermögen bestand in wenigen Schillings, und die forderte ihr die Wirthin schon am folgenden Tage für Kost und Wohnung ab.

Fanny sah diese Frau jetzt eigentlich zum ersten Male. Es war ein häßliches, widerliches Geschöpf, auf dessen Gesicht alle schlimmsten Laster ihre Siegel gedrückt hatten. Sie erkundigte sich genau, ob Fanny noch irgend welche Hülfsquellen, ob sie Verwandte, oder Bekannte habe, an die sie sich in ihrer Noth wenden könnte? Als Fanny diese Fragen mit Nein beantwortet hatte, wurde die Alte sehr freundlich und sagte: Fanny könne in ihrem Hause bleiben, so lange es ihr gefalle. Sie wolle sie wie eine ihrer Töchter halten; sie wisse, wie weh der Hunger thue und sie habe ein Herz für die Unglücklichen und Verlassenen. Sie sprach noch Vieles der Art, was sich in ihrem Munde gar sonderbar ausnahm; aber Fanny glaubte dem Allen, und obgleich die Häßlichkeit und das ganze Wesen der Alten sie mit einem Schauder erfüllte, so wußte sie ihr doch Dank für ein Mitleid, das so uneigennützig schien. Als die Alte sie verlassen hatte, fiel Fanny auf die Knie und dankte Gott mit heißen Thränen, daß er ihr in ihrer Noth eine Retterin gesandt habe.

Die Alte hatte ein paar Töchter, welche jetzt zu Fanny kamen und sich außerordentlich freundlich und zuvorkommend gegen sie benahmen. Es waren hübsche Mädchen; aber die Reden, die sie führten, und die Art, wie sie sich kleideten, erregten in Fanny eine instinctive Furcht, der gleich, mit welcher wir schöne Giftpflanzen in die Hände nehmen.

Man ließ Fanny in dem Zimmer, das sie mit ihrer Mutter bewohnt hatte, aber sie nahm an den Mahlzeiten der Familie Theil, und obgleich man sich ihr gegenüber offenbar einen Zwang auferlegte, sah und hörte sie doch genug, daß sie jedesmal froh war, wenn sie sich in ihr stilles, einsames Zimmer zurück gerettet hatte. Am peinlichsten waren ihr die Promenaden, zu welchen sie die Alte, die für ihre Gesundheit außerordentlich besorgt schien, jetzt häufig aufforderte. Fanny war auf der Straße immer nur an der Seite ihrer Mutter erschienen, die streng darauf hielt, daß ihr Gesicht stets mit einem dichten Schleier bedeckt war. Sie wollte dieser Gewohnheit auch jetzt treu bleiben; aber die Alte litt es nicht.

»Du bist in ehrbarer Gesellschaft, liebes Kind,« sagte sie, »und es ist jetzt kein Grund, weshalb Du Dein Gesicht vor den Leuten verstecken solltest.«

Aber Fanny fand, daß nur zu viel Grund dafür vorhanden sei. Die Alte wählte immer die belebtesten Straßen und Plätze und die Zeit kurz vor Sonnenuntergang, wenn die Promenaden von Müßiggängern wimmelten. Es begegneten ihnen viele Herren, die Fanny in einer Weise anstarrten, die ihr das Blut in die Wangen trieb. Viele von diesen Herren schienen die Alte zu kennen. Sie winkten nachlässig mit dem Kopfe, wenn sie vorübergingen, und dann lachten sie und stießen einander an. Einige blieben sogar bei der Alten stehen und sprachen mit ihr, aber so leise, daß Fanny nicht verstehen konnte, um was es sich handelte. Das Alles ängstigte Fanny so, daß sie die Alte bat, zu Hause bleiben zu dürfen. Die aber wollte davon nichts hören; sondern lachte Fanny wegen ihrer Aengstlichkeit aus, schalt sie einmal eine Duckmäuserin und das andere Mal eine Kokette, die recht gut wisse, wie hübsch sie die Sprödigkeit kleide, und die mit ihrer Zurückhaltung noch ihr Glück in der Welt machen werde.

Fanny wußte nicht, wie diese Reden zu deuten seien, aber sie sollte bald aus ihrer gefahrvollen Unwissenheit gerissen werden.

Bis jetzt hatte sie sich nach den Spaziergängen für den übrigen Theil des Abends auf ihr Zimmer zurückziehen dürfen. Sie war sehr froh über diese Erlaubniß, denn des Abends und oft bis tief in die Nacht hinein ging es sehr lebhaft im Hause her. Fanny hatte von früher her die Gewohnheit, zeitig aufzustehen und zeitig zu Bette zu gehen. So lange ihre Mutter lebte, hatte das Gefühl der Sicherheit sie ruhig und fest schlafen lassen. Auch jetzt befolgte sie dieselbe Lebensweise, aber ihr Schlaf war nicht mehr so tief und sie erwachte manchmal mitten in der Nacht von einem Lärm, der aus den Zimmern ihrer Wirthin kommen mußte, und sie mit einer unbestimmten Furcht erfüllte.

Eines Abends nun bat die Alte Fanny, als sie sich wie gewöhnlich entfernen wollte, zu bleiben. Es kämen einige Herren, die sie gern kennen lernen wollten, zum Besuch. Sie brauche sich gar nicht zu ängstigen, die Herren seien gute Bekannte der Familie, ja halb und halb mit derselben verwandt. Bei dieser Aeußerung fingen die beiden Töchter der Alten laut zu lachen an. Da Fanny keinen Grund, diese Einladung abzulehnen, aufzufinden wußte, so blieb sie, obgleich mit schwerem Herzen. Es dauerte nicht lange, so kamen die Herren, welche man erwartete. Es waren ihrer drei, junge hübsche Männer in eleganter Kleidung. Die Alte stellte sie Fanny als ihre lieben Neffen vor, was denn wieder bei den Töchtern und den Herren ein schallendes Gelächter hervorrief. Ihre Gesichter waren erhitzt; sie schienen von einem Diner zu kommen und dem Weine allzureichlich zugesprochen zu haben. Zwei von ihnen machten sich mit den Töchtern zu schaffen; der Dritte setzte sich zu Fanny und sagte ihr viel Schmeichelhaftes, worauf das junge Mädchen nichts zu erwiedern wußte, da sie von Allem, was um sie her vor ging, so verwirrt war, daß sie kaum wußte, was sie sah oder hörte.

Aber die unbestimmte Angst, die sie schon während der ganzen letzten Zeit nicht mehr losgeworden war, steigerte sich mit jedem Augenblick, und eine Stimme in ihrem Innern sagte ihr: Du mußt aus diesem Hause entfliehen, und wäre es in den Tod. Der junge Mann, der bei ihr gesessen hatte, war aufgestanden und zu der Alten gegangen, die im Nebenzimmer den Thee bereitete. Die beiden andern Paare, die lachend und kichernd in den dunkeln Ecken des Zimmers auf kleinen Sophas saßen, achteten nicht auf sie. Fanny erhob sich leise und ging zur Thür hinaus. Sie eilte, so schnell sie konnte, auf ihre Stube, ergriff Mantel und Hut, in demselben Augenblick aber klopfte es an ihre Thür. Sie ließ die Sachen wieder fallen, um, wenn es, wie sie vermuthete, die Alte war, keinen Verdacht zu erregen, und sagte, mit möglichst fester Stimme, obgleich ihr das Herz zum Zerspringen klopfte: herein! Aber es war nicht die Alte, die jetzt hereintrat, sondern der Herr, welcher eben bei ihr gesessen hatte. Er zog die Thür hinter sich zu und warf sich Fanny zu Füßen. Er schwor ihr, daß er sie liebe: er versprach ihr die schönsten Kleider und Schmucksachen und Gold die Fülle, wenn sie ihn wieder lieben wolle. Er hatte ihre Hände ergriffen und hielt sie fest, obgleich Fanny ihre ganze Kraft aufbot, sie ihm wieder zu entziehen. Sie sah, daß sie in der Gewalt dieses Mannes war; sie wußte, daß ihr Hülferuf in diesem Hause kein Echo finden werde, als brutales Lachen und unfeine Scherze. Aber in dieser äußersten Noth fühlte sie plötzlich einen Muth und eine Entschlossenheit in sich, von der sie selbst keine Ahnung gehabt hatte. Sie erinnerte sich, daß sie den Schlüssel der Thür draußen hatte stecken lassen, als sie vorhin in ihr Zimmer gekommen war. Darauf baute sie ihren Plan. In einem Augenblick, wo sie fühlte, daß die Hände des jungen Mannes die ihrigen etwas weniger fest umschlossen, riß sie sich mit einer verzweifelten Anstrengung los, eilte mit einem Sprunge zum Zimmer hinaus, schlug die Thür hinter sich zu, drehte den Schlüssel um und war im nächsten Augenblicke auf der Straße.

Es war ein Abend im Februar. Ein kalter, mit Schneeflocken untermischter Regen fiel unaufhörlich; die Gasflammen der Laternen glühten roth durch den trüben Wasserdunst. Von der Straße spritzte unter den in ununterbrochener Reihe hindonnernden Wagen der Schlamm auf die Trottoirs, über welchen die Regenschirme der unzähligen Fußgänger ein bewegliches Dach bildeten. Fanny fühlte nicht den kalten Regen, der ihre dünnen Kleider durchnäßte, nicht die Stöße, die sie von allen Seiten erhielt. Sie eilte, so schnell sie nur immer vorwärts zu kommen vermochte, nach der Richtung, in welcher sie den Fluß vermuthete. Sie wollte ein Asyl, das sie vor Schmach und Schande rettete, und sie kannte kein anderes, als dieses eine.

Sie war in ihrem athemlosem Lauf in eine Straße gerathen, die zu einem vornehmeren Quartier gehören mochte. Es war verhältnißmäßig leer auf der Straße. Vor einem der Häuser strahlte das Licht der Gasflammen aus den weit geöffneten Thüren. Elegante Kutschen in rascher Folge fuhren vor, und Herren in schwarzem Anzug und Damen in weißen Gewändern, Blumen im Haar und Blumen in der Hand, stiegen aus und suchten unter den Regenschirmen galonnirter Bedienten so schnell wie möglich das Vestibüle zu erreichen. Fanny sah das Alles, wie man die Dinge und Menschen in einem Traum sieht; sie wich den blendenden Lichtern und den geputzten Herren und Damen aus und suchte die dunkelste Seite der Straße. Als sie eben um eine Ecke in eine Nebengasse bog, stieß sie an einen Herrn, der ihr eiligen Schrittes entgegenkam; das Licht einer Laterne fiel hell auf ihn und sie. Der Herr murmelte einige Worte der Entschuldigung. Als sie die fast einsame Gasse, in die sie gerathen war, hinabeilte, hörte sie einen schnellen Schritt hinter sich. Wenige Augenblicke, und der Herr, dem sie eben begegnet, war an ihrer Seite.

»Mein liebes Kind,« sagte er, »dies ist keine Nacht, um ohne Hut und Mantel lange draußen zu bleiben. Erlauben Sie, daß ich Sie unter meinen Schirm nehme und nach Hause begleite.«

»Ich habe kein Haus;« sagte Fanny.

»Wohin gehen Sie denn?«

»Ich weiß es nicht.«

»Haben Sie keine Eltern, keine Geschwister, keine Freunde?«

»Nein, Niemand, Niemand.«

»Armes Kind!« murmelte der Mann. Er ging ein paar Schritte schweigend neben Fanny her, plötzlich, als sie wieder an eine Laterne gelangten, blieb er stehen, gab Fanny den Schirm und trat so weil zurück, daß das Licht hell in sein Gesicht fiel.

»Sehen Sie mich einmal genau an, Fräulein;« sagte er.

Fanny that es.

Es war ein stattlicher Mann, mit einem ruhig ernsten Gesicht. Seine Augen waren mit dem Ausdruck tiefen Mitleids auf sie gerichtet.

»Glauben Sie mir vertrauen zu können?« fragte der Mann.

»Ja;« erwiederte Fanny nach einer kleinen Pause.

Er nahm, ohne ihre Antwort abzuwarten, ihren Arm unter den seinen und führte sie aus der Gasse zurück in die breitere Straße. Fanny folgte ihm, zitternd vor Aufregung und vor Frost, der allmählig ihre Glieder erstarren machte.

»Wir müssen suchen, ins Trockne zu kommen,« sagte der Herr; »Sie werden sich auf den Tod erkälten.«

Er rief ein Cab an, das leer vorüberfuhr, und öffnete den Schlag.

»Steigen Sie ein, Miß!« sagte er.

»Nein, nein!« murmelte Fanny und trat zurück. Ihre Glieder flogen; sie konnte sich kaum noch auf den Füßen halten.

»Bei Allem, was Ihnen heilig ist, bitte ich Sie, folgen Sie mir!« sagte der Mann, faßte Fanny mit sanfter Gewalt um den Leib, hob sie in den Wagen, rief dem Kutscher ein paar Worte zu, stieg ebenfalls ein und nahm an Fanny's Seite Platz.

Der Wagen setzte sich in Bewegung. Der Herr zog seinen Pelz aus und hüllte Fanny hinein. Sie sträubte sich kaum, denn ihre Kräfte waren gebrochen. Sie duldete es, daß der Herr mit seinem Tuche ihr das nasse Haar trocknete und ihren Kopf gegen seine Schulter legte. Er sprach nicht zu ihr, nur einmal sagte er:

»Befinden Sie sich jetzt etwas besser?«

»Danke, ja,« erwiederte Fanny; aber in der That fühlte sie sich sehr krank. Ein rasender Schmerz hämmerte in ihren Schläfen; ein Fieberfrost schüttelte ihre Glieder und machte ihre Zähne aufeinander schlagen.

Die Fahrt dauerte lange. Endlich hielt der Wagen. Der Herr half Fanny aussteigen, schloß ein eisernes Gitterthor auf und als er sah, daß das junge Mädchen fast zusammenbrach, trug er sie die kurze Strecke von dem Gitterthor bis zu dem Hause. Er zog die Glocke. Man öffnete sofort. Eine alte Frau stand da mit einem Licht in der Hand, das sie vor Ueberraschung bei dem unerwarteten Anblicke beinahe fallen ließ.

Das war aber auch so ziemlich Alles, was Fanny noch sah.

Erst später erinnerte sie sich wieder, daß die alte Frau sie in ein Gemach des Erdgeschosses führte und zu Bett brachte, und daß, als sie im Bette lag, die alte Frau sich über sie beugte und freundlich zu ihr sprach, während ihr die Thränen über die runzligen Wangen flossen.

Was nun folgte, war ein schwerer, beängstigender Traum, in welchem sie immerfort von der Wirthin und ihren Töchtern verfolgt wurde, während sie, um ihnen zu entgehen, sich in Abgründe stürzte, die unermeßlich tief vor ihr aufklafften, oder in den Fluß sprang, dessen Wogen sie umtosten, oder eine steile Treppe hinab lief, die immer enger und enger wurde und dann plötzlich in eine herrliche Landschaft voll Licht und Sonnenschein führte, über die sie hoch in der Luft hinschwebte, bis sie aus der lichten Höhe wieder hinabstürzte in das enge dunkle Haus ihrer Wirthin und die entsetzliche Jagd von neuem begann.

Zwischendurch sah sie aber auch manchmal das freundliche Gesicht einer alten Frau und allmälig sah sie es öfter und deutlicher, und eines Tages erwachte sie, wie nach einem langen erquickenden Schlaf, und konnte, obgleich sie sich unaussprechlich matt fühlte, doch wieder mit vollem Bewußtsein um sich schauen.

Freilich dauerte es einige Zeit, bis sie sich nur einigermaßen in die Situation zu finden wußte. Sie war in diesem Augenblicke allein. Das Gemach, in welchem sie sich befand, war nicht eben groß, aber hell und freundlich und mit Möbeln ausgestattet, die ihr, welche in so großer Dürftigkeit aufgewachsen war, außerordentlich vornehm und prächtig erschienen. Das Bett, in dem sie lag, war mit den feinsten weißen Linnen überzogen. Dann betrachtete sie ihre Hände, die auf der Decke lagen, als ob sie ihr gar nicht gehörten, und wunderte sich, wie sie so mager und weiß geworden waren. Und nun besann sie sich auf den letzten schrecklichen Abend, und auf den Herrn, mit dem sie in dem Wagen hierher gefahren war, und auf die alte Frau, die sie zu Bett gebracht hatte.

Da kam aus dem Nebenzimmer, zu welchem die Thür offen stand, die alte Frau mit einem Herrn, dessen Gesicht Fanny auch manchmal in ihrem Traum gesehen hatte. Es war ein kleiner, ältlicher Herr mit einem scharfen, intelligenten Gesicht. Er setzte sich zu ihr ans Bett, nahm ihre Hände in die seinen und fragte sie, wie es ihr ginge? dann wendete er sich zu der Matrone und sagte: »Nun sind wir aus aller Gefahr, liebe Frau Jones. Wir können wieder ruhig schlafen.« Dann klopfte er Fanny sanft auf die Wangen und sagte: »sie sei ein gutes Kind.«

Als der Arzt fort war, wollte Fanny der Frau Jones für ihre Güte danken, aber die sagte: sie solle sich jetzt nur ruhig verhalten und erst wieder zu Kräften kommen, zum Sprechen sei noch immer Zeit.

So vergingen einige Tage. Fanny's Reconvalescenz ging bei ihrer kräftigen Natur mit raschen Schritten vorwärts. Der Arzt kam alle Tage, und versicherte ihr mit immer zufriedener Miene, daß sie ein gutes Kind sei. Und eines Morgens setzte sich Mrs. Jones zu ihr auf das Bett, nahm ihre Hände und sagte: »Nun, liebes Kind, erzählen Sie ein wenig aus Ihrem Leben. Denken Sie, ich sei Ihre Großmutter, wie ich es ja auch den Jahren nach sein könnte; oder nehmen Sie mich für das, was ich bin: eine alte Frau, die viel erfahren und viel gelitten hat, und recht gut die Schlingen kennt, in welchen Armuth, Jugend und Unerfahrenheit so leicht zu Fall kommen.«

Fanny verstand den Sinn dieser letzten Worte kaum, aber sie fühlte, daß es die alte Frau gut mit ihr meine und daß sie ihr Alles sagen könne. Was hatte sie denn auch am Ende zu verschweigen?

So erzählte sie ihr, was sie zu erzählen hatte, daß sie ihren Vater nie gekannt, daß sie nicht einmal wisse, wie er geheißen, wo er gelebt habe. Sie bat Mrs. Jones, ein kleines Täschchen zu öffnen, in welchem sie die Pretiosen, die ihrer Mutter gehörten, und die sie beständig bei sich getragen, verwahrt hatte, und zeigte ihr dieselben. Sie erzählte von ihrer Mutter, von dem Tode derselben, und auch Alles, was nachher geschehen war bis zu dem Augenblicke, wo sie Mrs. Jones mit dem Licht in der Hand in der Hausthür stehend erblickt und bald darauf das Bewußtsein verloren hatte.

Mrs. Jones hatte mit der größten Aufmerksamkeit zugehört und Fanny wiederholt die Thränen von den Wangen gewischt, auch sich selbst mehr als einmal die Augen getrocknet.

Als das junge Mädchen geendigt hatte, küßte sie es auf die Stirn und sagte:

»Du hast, so jung Du bist, schon viel erlitten, liebes Kind; aber damit ist es jetzt, so Gott will, vorbei. Er hat Dich einen Beschützer finden lassen, der künftighin für Dich, wie für sein eigenes Kind, oder eine Schwester sorgen wird.«

»Sind Sie die Mutter des Herrn, der sich meiner an jenem Abend erbarmte?« fragte Fanny.

»Nein,« erwiederte Mrs Jones. »Obgleich ich ihn lieb habe, wie einen Sohn, und er mich wie eine Mutter ehrt, bin ich doch seine Mutter nicht. Ich war seine Amme und bin jetzt seine Haushälterin.«

»Wer ist er? wie heißt er?«

»Du sollst mit der Zeit Alles erfahren. Für heute haben wir nur schon zuviel gesprochen.«

Vierzehn Tage später saß Fanny in dem Gemache, welches an ihr Schlafzimmer stieß und wo sie sich jetzt stundenlang aufhalten durfte, in einem großen, bequemen Lehnstuhl. Mrs. Jones saß in einem der Fenster und nähte. Fanny war ein wenig erregt, denn der Herr, in dessen Hause sie sich befand, hatte fragen lassen, ob er heute einen Besuch machen dürfe.

»Aengstigen Sie sich nicht, liebes Kind!« sagte Mrs. Jones.

»Ich ängstige mich nicht,« sagte Fanny; »aber ich sehe, trotz des hübschen Kleides, das Sie mir angezogen haben, mit meinem mageren Gesicht und dem Netz statt der Haare so häßlich aus. Was Mr. Brown nur von mir denken wird?«

»Also eitel ist das Kind auch? wer hätte das gedacht!« sagte Mrs. Jones lächelnd.

Da klopfte es leise an die Thür, und auf Mrs. Jones' Herein trat ein Mann in das Zimmer, in welchem Fanny auf den ersten Blick ihren Retter erkannte. Sie, wollte sich erheben und ihm entgegengehen, aber Mr. Brown kam ihr zuvor, indem er ihr die Hand reichte und schnell auf einem Stuhl in ihrer Nähe Platz nahm.

»Ich wünsche Sie nicht zu derangiren,« sagte er; »ich wollte mich nur persönlich überzeugen, daß Sie sich auf dem Wege der Besserung befinden, und daß Sie nicht ungern in diesem Hause sind, welches Ihnen der Zufall zu einer Zufluchtsstätte gemacht hat.«

Fanny versuchte mit stammelnden Worten ihm ihre Dankbarkeit auszudrücken, aber Mr. Brown schnitt ihr die Rede mit einem kurzen: Bitte, sprechen wir nicht davon! ab.

Dann that er noch einige Fragen über gleichgültige Dinge, stand auf, reichte ihr die Hand und entfernte sich wieder.

Mr. Brown hatte während seines kurzen Besuchs nicht ein einziges Mal gelächelt, und so ruhig, fast kalt, ausgesehen und gesprochen, daß Fanny, als er fort war, in Thränen ausbrach.

»Was haben Sie, Kind?« sagte Mrs. Jones.

»Ich glaube, Mr. Brown ist es leid, daß er mich in sein Haus gebracht hat,« schluchzte Fanny.

»Du bist ein Närrchen!« erwiederte die alte Frau; »er ist einmal so; Du wirst Dich bald daran gewöhnen.«

Aber Fanny gewöhnte sich nicht an Mr. Brown's ruhiges kaltes Wesen, obgleich er jetzt alle Tage kam und längere Zeit blieb, um sich mit den beiden Frauen zu unterhalten.

So vergingen ein paar Wochen. Der Frühling war wieder da. Er hatte Fanny ihre Gesundheit, und, wie das eitle Mädchen glaubte, auch ihre Schönheit zurückgebracht. Fanny hätte in diesem Hause, wo ihr jeder Wunsch, noch bevor sie ihn ausgesprochen, erfüllt wurde, in der Gesellschaft von Mrs. Jones, zu der sie bald eine zärtliche Liebe gefaßt hatte, ganz glücklich sein können, wäre nicht ihr Stolz gewesen.

Sie hatte, sobald sie erkannte, daß die Tochter ihrer Mutter in jenem entsetzlichen Hause nicht länger bleiben könne, keinen Augenblick in der Wahl zwischen Schande und Tod geschwankt, und auch jetzt dünkte ihr dieser Aufenthalt unter dem Dache eines Mannes, der sie aus Mitleid von der Straße aufgelesen hatte, unerträglich, um so unerträglicher, als sie sich mit dem leicht erreglichen Argwohn, der solchen Charakteren eigen ist, einredete, daß Mr. Brown seine Handlungsweise im Stillen bereue. Dieser Gedanke verfolgte sie so sehr, daß sie mehr als einmal halb und halb zu einer heimlichen Flucht entschlossen war, und nur die Gewißheit, daß Mrs. Jones darüber untröstlich sein würde, sie vielleicht gar für ein schlechtes undankbares Mädchen halten könnte, hielt sie von der Ausführung ihres Planes zurück.

Eines Abends, als die gute alte Frau, wie sie es pflegte, noch vor ihrem Bette saß, beichtete sie ihr Alles, was sie auf dem Herzen hatte. Die suchte ihr so thörichte Gedanken auszureden, und wußte ihr durch Bitten und Thränen das Versprechen abzulocken, daß sie sich unter keinen Umständen heimlich vom Hause entfernen wolle.

Es war am Vormittage nach dieser Unterredung. Fanny promenirte in dem Garten hinter dem Hause, wo es jetzt unter den knospenden Bäumen, auf denen die Vögel sangen und Nester bauten, schon recht anmuthig war. Sie dachte ihrer lieben todten Mutter, die nun in dem kalten Grabe ruhte, sich nicht mehr dieses warmen Sonnenscheins, dieser zarten Frühlingsblumen, die sie so sehr geliebt hatte, erfreuen konnte. Fanny's Herz wurde schwer; sie fühlte sich recht einsam und verlassen; sie dachte zum ersten Male daran, daß sie nie einen Vater gekannt, daß sie nie, wie andere Kinder, mit Brüdern und Schwestern gespielt, und daß sie das holde, schöne bleiche Wesen, an dem sie mit so abgöttischer Liebe hing, verloren hatte, ohne einen letzten Kuß von ihren Lippen trinken zu können. Fanny setzte sich in der Laube am Ende des Gartens auf eine Bank, verbarg ihr Gesicht in den Händen und weinte bitterlich.

Eine Hand legte sich leicht auf ihre Schulter. Sie blickte auf. Mr. Brown stand vor ihr. Seine Augen schauten mit demselben ernsten, mitleidsvollen Ausdruck, der ihr bei seiner ersten Begegnung ein so großes Vertrauen eingeflößt, und den sie seitdem nie wieder bemerkt hatte, auf sie herab.

»Warum weinen Sie so, Fanny?« sagte er und seine Stimme klang viel milder, wie sonst. »Gefällt es Ihnen nicht mehr bei uns? ist Mrs. Jones weniger freundlich gegen Sie gewesen? habe ich etwas gesagt oder gethan, was Sie beleidigte?«

»Nein, nein, Sir!« sagte Fanny. »Sie sind so gut, viel zu gut gegen mich. Ich habe ja diese Güte durch nichts verdient und gerade das ist es, was mir so schwer auf dem Herzen liegt.«

»Und würde Sie das Wenige, was wir für Sie gethan haben und thun können, nicht drücken, wenn Sie einem Bruder, einer Mutter dafür zu danken hätten?«

»Ich glaube, nein.«

»Und wenn Sie nun Jemand fänden, der es für das höchste Glück seines Lebens erachten würde, für Sie zu sorgen, wie eine Mutter für ihr Kind; Sie zu schützen und zu schirmen, wie ein Bruder eine vielgeliebte Schwester – würden Sie auch einem solchen Manne dies höchste Glück mißgönnen? aus seinen Händen nicht das Wenige, was er zu bieten vermag, ohne zu erröthen, nehmen können?«

Mr. Brown sprach das mit tiefer Bewegung; seine Stimme bebte, und die Hand, mit der er jetzt Fanny's Hand ergriff, zitterte.

Ihre Bewegung war nicht minder groß. Sie wagte nicht die Augen zu dem Manne, der vor ihr stand, aufzuschlagen. Sie hatte kein volles Verständniß dessen, um was es sich hier handelte; sie fühlte nur, daß dieser Augenblick über das Wohl und Wehe ihres Lebens entscheiden müsse. Sie wollte etwas erwiedern; aber ihre Kehle war wie zugeschnürt.

»Und wenn,« fuhr Mr. Brown fort, »wenn ich nun dieser Mann wäre? wenn ich zu Ihnen spräche: sei mein Weib, Fanny! was würden Sie mir antworten?«

Aber Fanny vermochte nicht zu antworten. Thränen, heiße Thränen erstickten ihre Stimme. Mr. Brown hatte ihre beiden Hände ergriffen und sie an sich gezogen; sie lehnte ihr Haupt vertrauensvoll an die Brust, an welcher es schon einmal geruht, in jener Nacht, als die Welt um sie her finster war wie das Grab.

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Seit jenem Frühlingsmorgen in dem Garten hinter der epheuumrankten Villa sind manche Jahre verflossen. Mr. Brown hat mit seiner Gattin große Reisen gemacht. Sie hat die Welt gesehen und die Menschen kennen gelernt. Aus dem armen Mädchen ist eine vornehme Dame geworden. Sie hat Alles, was sonst das Herz einer Frau begehrt: Rang und Reichthum, Schönheit (so sagen ihr die Schmeichler wenigstens) und den größten Schatz des Weibes: blühende Kinder. Und dennoch, dennoch! ihr Herz, ihr ungestümes, habgieriges Herz ist nicht zufrieden; ihr stolzes Herz, das grenzenloser Liebe fähig ist und dafür grenzenlos wieder geliebt sein möchte. Und wird Fanny so geliebt? Manchmal glaubt sie es; aber öfter, viel öfter glaubt sie es nicht. Ist eine Liebe, die aus dem Mitleid hervorging, die echte Liebe? Kann solche Liebe ewig sein? Hört sie nicht in dem Augenblick auf, wo ihr Gegenstand des Mitleids nicht länger bedürftig ist? Und auf der andern Seite: ist nicht das Gefühl, zu Dank verpflichtet zu sein, der Tod der Liebe? Muß nicht Dankbarkeit eine Folge der Liebe, aber nicht umgekehrt Liebe eine Folge der Dankbarkeit sein? Ist nicht die Dankbarkeit eine Kette? Darf die freie Liebe Ketten tragen? Und wiederum: findet eine Liebe, welche durch die Kette der Dankbarkeit gefesselt ist, den rechten Glauben? Findet Fanny's Liebe Glauben? Denn Fanny liebt den Mann, dem sie ihr Leben und ihre Ehre verdankt, und würde ihn grenzenlos lieben, wenn sie reich und mächtig gewesen wäre, wie er, oder er arm und hülflos, wie sie. Dann würde sie nichts von der Unruhe empfinden, die jetzt in ihr wühlt; dann würde sie eine Wolke auf der Stirn des geliebten Mannes nicht, wie jetzt, für eine Wolke des Zweifels an der Aufrichtigkeit ihrer Liebe halten. Und unglückliche Fanny! weit entfernt, diese Wolke, die sie ängstigt, zu verscheuchen – und sie könnte es durch ein Wort! – legt sie es geflissentlich darauf an, sie zu vergrößern. Sie nimmt die überschwänglichen Huldigungen, die ihr von allen Seiten gezollt werden, mit einer Miene der Genugthuung entgegen, die sie weit entfernt ist, wirklich zu empfinden. Weshalb? weiß sie es oft doch selber kaum! um sich frei zu fühlen, selbst auf die Gefahr hin, die Eifersucht ihres edlen Gatten zu erregen. Denn er ist, kalt und ruhig, wie er scheint, eifersüchtig und argwöhnisch; wie sollte er's denn auch nicht sein gegen eine Dirne, die er von der Straße aufgelesen hat? Hätte ich in der großen Welt leben können, ehe ich sein Weib wurde, es wäre besser geworden; ich brauchte nicht stets das Gefühl mit mir herumzutragen, daß aller Reichthum, mit dem er mich überschüttet hat, die Freiheit, die ich verlor, ehe ich mich ihrer erfreuen durfte, nicht aufwiegt. Möglich, ja, ich glaube, gewiß, daß ich ihn gewählt, unter Tausenden gewählt hätte; aber ich hätte ihn gewählt … so aber war er mein Retter, mein Wohlthäter – ich hatte keine Wahl … O, mein Gott, mein Gott, wohin soll dies führen? Ich sehe schon im Geiste den Augenblick kommen, wo diese stummen grundlosen Vorwürfe herüber und hinüber nicht mehr stumm und nicht mehr ohne Grund sind; wo keine Brücke der Verständigung über den Abgrund, den wir selbst uns graben, möglich ist! – Jetzt erst fühle ich, was es heißt, allein stehen in der Welt, ohne Vater und Mutter, ohne Geschwister und Freunde; ja, ohne Namen. Ich habe keinen. Was braucht eine Paria einen Namen? – es wird mich noch wahnsinnig machen; manchmal ist es mir, als wäre ich es schon. …



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