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V.

P ünktlich zur verabredeten Stunde stellte sich Benno ein. Er fand Sven, wie er eben die letzte Hand an seine Toilette legte.

»Wie geschmackvoll Du Dich anzuziehen verstehst, Sven!« sagte Benno, voll aufrichtiger Bewunderung zu seinem Freunde emporschauend; »man sieht es Dir doch auf den ersten Blick an, daß Du von einer Frau erzogen bist und Dein halbes Leben unter den Frauen zugebracht hast. Sie weihen euch ein in alle Mysterien der geheimnißvollen Wissenschaften, die unter der Bezeichnung Geschmack zusammengefaßt, und uns gelehrten Troglodyten Höhlenbewohner. – Anm.d.Hrsg. ein Buch mit sieben Siegeln sind. Schau mich doch einmal an, ob Du mich so mitnehmen kannst.«

Benno stellte sich vor Sven hin, wie ein kleiner Junge vor seine Mutter und drehte sich langsam auf dem Absatze herum, während Sven ihm seine Cravatte anders band, den Kragen zurechtzupfte und einen Westenknopf, der in ein falsches Knopfloch gerathen war, an die rechte Stelle brachte.

Endlich war Alles in Ordnung und die beiden Freunde machten sich auf den Weg.

»Ich habe den kleinen Müller gesprochen,« sagte Benno, während sie die Uferstraße hinabschritten, »und ihn ein wenig über diese Durhams ausgeholt. Unsere Einladung hat gar nichts Auffallendes; Mr. Durham ladet Alles ein, was bei ihm Visite macht und auf Respectabilität Anspruch machen kann. Alle Donnerstag und Sonntag sind die Salons allen Freunden und Bekannten geöffnet. Heute ist Donnerstag, wir werden eine große Gesellschaft finden. Der kleine Müller sagt, es wären die reizendsten Abende, die man sich denken kann. Jeder kommt und geht, wann er will und amüsirt sich, so gut er kann. Mr. Durham soll ein sehr gescheidter Mann sein. Er interessirt sich besonders für Naturwissenschaften; Müller sagt, daß er vortreffliche Sammlungen hat. Der einzige Schatten in diesem sonnenhellen Bilde ist Mrs. Durham, die nach Freund Müller's Aussage, unausstehlich sein soll.«

»Dein Freund Müller ist ein Narr!« sagte Sven mit großer Heftigkeit.

»Ich habe öfters selbst die Vermuthung gehabt,« sagte Benno, »indessen, von wannen kommt Dir diese Wissenschaft?«

»Wie kann der Mensch wagen, auch nur den Namen dieser Frau in den Mund zu nehmen? wie kann er sich unterstehen, ein Urtheil über sie zu fällen! über sie – sie, die so weit über ihm ist, wie der goldne Mond über dem Mops, der zu ihm hinaufbellt! Wie kann er –«

»Nun, alle guten Geister stehen uns bei!« rief Benno! »schwärmt dieser Mensch für eine Frau, die er noch gar nicht gesehen hat! Nimm's mir nicht übel, lieber Sven; aber ich glaube alles Ernstes, Du bist ein ganz klein wenig übergeschnappt. Komm, laß uns, anstatt in diese Gesellschaft zu gehen, einen Spaziergang am Ufer entlang machen – das wird Dich abkühlen. Du bist ja ganz außer Dir!«

»Nein, nein!« sagte Sven hastig; »ich bin vollkommen ruhig, aber ich ärgere mich jedesmal, wenn Leute über etwas urtheilen, was sie schlechterdings nicht verstehen. Doch, da sind wir am Hause. Der Haupteingang ist nach dem Flusse zu, wie ich sehe. Wir brauchen nicht wieder über das Geländer zu klettern.«

Sie wurden auf dem Flur von einem Diener empfangen, der ihnen die Sachen abnahm und sie in gebrochenem Deutsch um ihren Namen fragte, sodann die Thür zu einem hellerleuchteten Zimmer öffnete und ein paar Namen hineinrief, die mit denen der beiden jungen Männer eine möglichst entfernte Aehnlichkeit hatten.

In dem Zimmer befanden sich mehre Herren, die mit der Besichtigung einer Käfersammlung, welche auf einem großen runden Tisch aufgestellt war, beschäftigt schienen. Einer dieser Herren kam auf die Eintretenden zu und hieß sie mit einigen höflichen Worten willkommen.

»Sie haben uns die Ehre angethan, meine Herren, uns ihren Besuch zu schenken; wollen Sie die Güte haben, mich zu Mrs. Durham zu begleiten; sie ist in dem nächsten Zimmer.«

Der diese Worte in deutscher Sprache, fließend, wenn auch mit einem etwas ausländischen Accente sprach, während er die Freunde an den Herren, die um den Tisch mit den Käfern herumstanden, und von denen fast Alle Benno persönlich bekannt waren, vorüber in das nächste Zimmer führte, war ein Mann von vielleicht vierzig Jahren, mittelgroß, breitschultrig, mit einem schönen, ausdrucksvollen, englisch ruhigem Gesicht. Der Ton seiner Stimme war höflich, aber ohne alle Wärme; er sprach seine Begrüßung wie eine eingelernte Formel.

Das nächste Zimmer war derselbe Salon, dessen sich Sven von jenem Morgen her so wohl erinnerte. Damals war es leer gewesen, angefüllt von der Dämmerung, aus der die dämonischen Augen des schönen Bildes sinnverwirrend auf den Eindringling herniederschauten. Heute war es belebt von einer zahlreichen Gesellschaft, und der rosige Schimmer der eben untergegangenen Sonne, der durch die weitgeöffnete Balkon-Thür hereinfiel, vermischte sich mit dem blendenden Schein der Lichter.

Sven bemerkte diese Unterschiede, während sein Auge nach dem geliebten Bilde hinüberschweifte, gleichsam sich zu vergewissern, daß es noch da sei, und sich dann erst auf die Dame richtete, die auf dem Sopha hinter dem brodelnden Wasserkessel den um den Theetisch Versammelten präsitirte.

Diese Dame war das Original des Bildes.

Aber seltsam! Sven fühlte sich bei ihrem Anblick auf eine eigenthümliche Weise enttäuscht. Er mußte zugeben, daß der Künstler in der architektonischen Schönheit der Züge, der Zartheit der Farbe, dem Reichthum des herrlichsten dunkelbraunen Haares noch weit hinter der Wirklichkeit zurückgeblieben war; aber jener weltverachtende Trotz in den leise zusammengezogenen Brauen, jene unsägliche Schwermuth in den halb von den Lidern beschatteten, schmerzlich starren Augen, jenes thränenreiche Zucken der Winkel des schönen Mundes – wo war von dem allen nur eine Spur in diesem, wie eine Maske ruhigen und die Hereintretenden kaum mit dem Schimmer eines Lächelns begrüßenden Gesicht! »Wahrlich,« dachte Sven, als er sich, nachdem er noch einigen der um den Tisch versammelten Damen und Herren vorgestellt war, etwas in den Hintergrund zurückgezogen hatte, um ungestörter seine Vergleichung des Originals mit dem Bilde fortsetzen zu können; »wahrlich, ich hatte doch recht, wenn ich gleich von vorn herein vermuthete, daß der Künstler nicht die Wirklichkeit, sondern das Ideal seiner Einbildungskraft malte. Jetzt habe ich den augenscheinlichsten Beweis. Sei ruhig, betrogenes Herz und begreife, daß: ›Nichts lebt, deß Anblick so mit Wonne füllt die Brust.‹«

Sven hatte in seinem Leben schon manche Enttäuschung dieser Art erfahren; ja eigentlich war sein reelles Leben eine fortgesetzte Reihe von Enttäuschungen, die ihm die überschwängliche Lebhaftigkeit seiner Phantasie und die zu hoch gespannten Erwartungen, die er sich in Folge dessen von den Dingen und Menschen machte, bereiteten. Aber kein Rest, der stets zu Gunsten des Ideals übrig bleibt, wenn wir den Maßstab der Einbildungskraft an die Wirklichkeit legen, war ihm je so peinlich gewesen, als dieser hier. Er hatte sich mit bangem Zagen dem verschleierten Bilde genaht und gehofft, daß er nun endlich von Angesicht zu Angesicht die Göttin schauen würde – der Schleier war gefallen und was erblickte sein entgeistertes Auge? ein sterbliches Weib, ein schönes, sehr schönes Weib – aber doch nur ein Weib. –

Sven hatte genug gesehen. Ein Gefühl der Bitterkeit bemächtigte sich seiner Seele. Er wäre am liebsten sogleich wieder aufgebrochen. Die schwatzende, kichernde Gesellschaft um den Theetisch kam ihm fade und abgeschmackt vor; er zog sich nach einigen Minuten in das andere Zimmer zurück, und gesellte sich zu der Gruppe von Herren, die er noch immer mit der Betrachtung der Käfersammlung beschäftigt fand. Benno war ihm schon dahin vorausgegangen und hielt eben einen Vortrag über ein wunderliches Insekt, das Mr. Durham vor einigen Tagen ein Bekannter aus Brasilien geschickt hatte. Benno war ein tüchtiger Zoolog und gerade Käfer waren seine starke Seite. Er wußte allerhand Interessantes aus der Familiengeschichte dieser Thiere zu erzählen und seine Hörer ebenso zu belehren, wie zu ergötzen. Niemand aber folgte seinem Vortrage mit größerer Aufmerksamkeit, als Mr. Durham, und Sven hatte unterdessen Gelegenheit, die Physiognomie des Mannes genauer zu studiren.

Aber, so eifrig er auch studirte, er konnte zu keinem rechten Resultate kommen. Die breite, feste Stirn deutete auf ungewöhnliche Intelligenz, der scharf geschlossene Mund und das starke, eckige Kinn auf eine mächtige Willenskraft und nicht leicht zu erschütternde Entschlossenheit – aber das war auch Alles. Kein Blick des Auges ließ errathen, was in der Seele dieses Mannes, kein Lächeln, was in seinem Herzen vorging. Wenn er sprach, – und er ließ manche Bemerkung fallen, aus der leicht zu ersehen war, daß er gründliche Studien in den Naturwissenschaften gemacht hatte – so sprach er mit einem gleichmäßigen, ruhigen Ton, der alle Worte mit strengster Billigkeit abmaß und abwog. Es schien unmöglich, daß dieser Mann sich je von seinen Gefühlen hinreißen lassen könnte, ja, man war versucht, ihm jede lebendigere Empfindung abzusprechen. Der Mann machte, Alles in Allem, auf Sven den Eindruck einer dreifach verriegelten Thür.

Und in dem Maße, daß dieser Eindruck sich Sven's bemächtigte, erhöhte sich wieder seine Theilnahme für die schöne, kalte Gattin dieses kalten, starren Mannes. »Wer weiß,« sprach er bei sich, »wie viel Grade von ihrer Kälte auf Rechnung der seinigen kommt! wer weiß, ob nicht ein fröhlich blühendes Leben, auf diesen Marmorfels verpflanzt, nach und nach erstorben, ein duftiger, farbenglänzender Frühling in diesem eisigen Winter allgemach erstarrt ist?« Die Charakteristik, welche ihm seine geschwätzige Wirthin von Mr. Durham gemacht hatte, kam ihm wieder in's Gedächtniß. War es vielleicht nur die Furcht vor seiner Tyrannenlaune, die sie einschüchterte, die ihr diese Maske der Gleichgültigkeit, die so wenig mit ihrer ganzen Erscheinung harmonirte, gewaltsam aufzwang? Sven fühlte ein unaussprechliches Verlangen, die Antwort auf diese Fragen, die Lösung der stillen, stummen Räthsel in den Gesichtern der beiden Gatten zu finden, und es zog ihn wieder in den Salon, von wo in diesem Augenblick die klare, scharfe Stimme eines jungen Amerikaners, der soeben von einer Reise aus dem Orient zurückkam, und Sven schon vorher durch seine zugleich sichere und elegante Haltung vortheilhaft aufgefallen war, ertönte.

»Lassen sie mich für meine Behauptung nur ein Beispiel anführen,« sagte Herr Curtis. »Ich nahm mir einst in einem stark frequentirten Badeorte in der Nähe von Newyork die Erlaubniß, ein kleines, wildes Mädchen, das sich mit andern haschte, und in der Erregung des Spiels gerade auf mich losstürzte, in meinen Armen aufzufangen. Das kleine Ding prallte ganz entsetzt zurück und sagte: ›Ich erlaube nicht, Sir, daß Sie mich berühren!‹ Ich werde den Ton, in welchem die zwanzig Zoll hohe, fünfjährige Miß mir diese Worte zurief, eben so wenig vergessen, wie die indignirten Blicke, mit denen mich einige in der Nähe befindliche Damen beehrten.«

»Und was wollen sie mit dieser Anecdote beweisen?« fragte Einer aus der Gesellschaft.

»Dies, daß die amerikanische Frau die Selbständigkeit, durch welche sie sich vor allen ihren Schwestern, so weit ich die Ehre gehabt habe, dieselben kennenzulernen, auszeichnet, schon mit der Milch einsaugt; daß diese Charakterstärke schon in den Nerven und dem Blut der Amerikanerin ihre Basis haben muß, und diese Naturanlage ebenso sehr wie die spätere Erziehung, in welcher sich Alles vereinigt, dieses stolze Gefühl der Selbständigkeit zu nähren und zu pflegen, ihr die Souveränetät sichern, der sie sich erfreut. Die amerikanische Frau ist ein unendlich freieres Wesen, als irgend eine andere. Sie ruft als fünfjähriges Kind einem fremden Manne, in dem jedes deutsche Kind einen ›Onkel‹ respectiren würde, zu: mein Herr, berühren Sie mich nicht! sie nimmt als junges Mädchen einen Courmacher, geht, reitet, fährt mit ihm spazieren und schickt ihn nach acht Tagen fort und beehrt einen andern mit ihrer Gunst, ohne daß Jemand etwas Anstößiges darin findet, ja, ohne daß Mr. Smith oder Mr. Jones auch nur zu murren wagten; und selbst als Frau wird sie freilich ihre Pflichten mit der peinlichsten Gewissenhaftigkeit erfüllen, so lange es ihr möglich ist; sobald aber der Augenblick gekommen ist, wo sie einsieht, daß sie sich entscheiden muß zwischen ihrem guten Ruf und ihrer Leidenschaft, wird sie diese Entscheidung mit einer Sicherheit treffen, und jedes Band, das sie fesselt, und wäre es das stärkste, mit einer Kraft zerreißen, die geradezu dämonisch, jedenfalls specifisch amerikanisch ist.«

»Und halten Sie eine solche Stellung für ein Glück?« fragte Mrs. Durham, so gleichgültig, als ob sie gefragt hätte: »Belieben Sie noch eine Tasse Thee?«

»Wie man will,« erwiederte Herr Curtis, »jedenfalls ist sie dazu angethan, einen Geist, der über das Gewöhnliche hinausstrebt, in seinem Wollen und Vollbringen zu fördern. Der Ehrgeiz befindet sich ohne Zweifel sehr wohl dabei –«

»Desto schlechter aber das Herz.«

Aller Augen wandten sich auf Sven, der, von dem Gegenstande des Gespräches angezogen, an den Tisch getreten war, und dem diese letzten Worte wider seinen Willen entschlüpft waren. Sven erröthete leicht, als er sich so der Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit geworden sah, hielt es aber für unpassend, jetzt, nachdem er einmal an der Conversation Theil genommen hatte, zu thun, als hätte er nichts gesagt.

»Verzeihen Sie,« fuhr er, sich auf einen der leeren Stühle setzend, zu Herrn Curtis gewendet, fort, »daß ich Sie in Ihren interessanten Mittheilungen unterbrochen habe; aber Sie haben da ein Kapitel berührt, das mir gerade sehr interessant ist. Ich halte diese Ueberlegenheit der amerikanischen Frau für ein Unglück, welches gleich schwer auf beiden Theilen lastet. Wie könnte das Bewußtsein, an einen Mann gefesselt zu sein, den sie in fast jeder Hinsicht übersieht, einer edlen Frau eine Genugthuung gewähren? wie muß sich der Mann, wenn er nicht ganz das Gefühl seiner Würde verloren hat, von dieser Ueberlegenheit bedrückt fühlen! Die Amerikaner sind stolz auf ihre Frauen, ohne zu bedenken, daß die hohe Stellung derselben für sie selbst eine Erniedrigung ist. Und dieser Widerspruch wird immer größer werden. Damit die Frau sich in immer reinere, ätherischere Regionen erheben könne, muß sich der Mann in demselben Grade vulgarisiren und materialisiren, und der Lohn, den er sich für diese Aufopferung erwirbt, ist die Verachtung des Götzen, dem er sich opfert. Und o, des armen Götzen! wie theuer muß er den Weihrauch, der ihm gespendet wird, bezahlen! wie gern stieg er von seinem Piedestal herab, wie gern sähe er den Mann so erhaben über sich, wie er jetzt über dem Manne erhaben ist! Hinauf zu schauen zu dem Höheren, sich anzulehnen an den Stärkeren ist ein köstliches Gut für jede Frau, und wäre sie die vorzüglichste ihres Geschlechts. Wie gerne würde sie sich unterordnen, fände sie nur den Rechten, dem sie sich unterordnen könnte, ohne sich etwas zu vergeben, ohne an ihrem Werthe, an ihrer Kraft einzubüßen. Ja, sehen wir nicht oft, daß sehr begabte Frauen, wenn sie, was oft geschieht, das Unglück haben, den Mann, welchem sie vermält sind, zu übersehen, sich kleiner machen, nur um das Glück, sich unterordnen zu dürfen, in der Illusion wenigstens zu genießen? Aber, mißverstehen sie mich nicht! Ich mache den amerikanischen Frauen keinen Vorwurf daraus, daß sie frei sein wollen, wol aber den amerikanischen Männern, daß sie sich geflissentlich zu Sclaven machen.«

»Mag sein,« sagte der Amerikaner, »indessen, diese Vertheilung der Rollen hat auch ihr Gutes. Der Mann, welcher Wälder ausroden, Sümpfe drainiren, Eisenbahnen durch die Prärien und Hängebrücken über den Niagara bauen soll, kann nicht auch zu gleicher Zeit Sylben wägen und Verse spintisiren. Weshalb soll nicht der Mann seine Kraft auf Werke des materiellen Nutzens concentriren und der Frau getrost die luftigen Regionen überlassen, in welchem der Dichter und der Denker weilen?

»Weshalb?« erwiederte Sven; »weil in diesen Sphären so gut, wie in jeder anderen, das Höchste nur dem Manne erreichbar ist; weil, wenn die Männer jene Sphären den Frauen überlassen, diese nicht nur nichts Geniales produciren, sondern auch das Genie, sollte ausnahmsweise eines emporblühen, verkennen, verketzern und verhöhnen werden. Denken Sie an den unglücklichen Edgar Allan Poe! Er ist der größte lyrische Dichter, den Amerika hervorgebracht hat und sein Name darf in keiner sogenannten respectabeln Gesellschaft ausgesprochen werden.«

»Dies Verdammungsurtheil,« antwortete der Amerikaner, »gilt nicht dem Dichter, sondern dem Menschen; nicht dem Verfasser des ›Raben,‹ sondern dem Mr. Poe, welcher betrunken durch die Straßen von Newyork und Boston taumelte.«

»Damit mochten sich die Mitlebenden entschuldigen, aber was bedeutet das jetzt, wo sich das Grab über dem Unglücklichen geschlossen hat? Der Dichter lebt in seinen Werken, seine Werke sind er selbst. Der Dichter gleicht dem Chemiker, welcher aus zum Theil sehr widerwärtigen Stoffen die herrlichsten Wohlgerüche zaubert. Mochte dem Menschen Poe ein trauriges Erdenrest anhaften, der Dichter Edgar ist frei davon. Mochte man dem armen Literaten die Thüre verschließen, die Werke des Genius sollten in Aller Hände sein.«

»Sie mögen Recht haben,« sagte der Amerikaner lachend; »ich gestehe, daß ich in dem Urtheil über Poe nur der allgemeinen Stimme gefolgt bin, und um auf Ehre versichern zu dürfen, diesen verrufenen Dichter nicht zu kennen, bis jetzt noch keine Zeile von ihm gelesen habe.«

»Sie machen uns äußerst begierig, etwas von diesem unheiligen Heiligen zu hören,« sagte eine Dame aus der Gesellschaft, die sich nicht wenig auf ihre Kenntniß der englischen Literatur zu gute that, »könnten Sie uns nicht etwas von ihm zum Besten geben? Sie wissen gewiß einige seiner Sachen auswendig.«

»Leider, nein;« erwiederte Sven.

»Dort auf dem Tische«, sagte Mrs. Durham, »liegt ein Bändchen Uebersetzungen amerikanischer Gedichte. Vielleicht ist etwas von Mr. Poe dabei.«

Sven ergriff das zierlich gebundene Büchelchen, auf welches Mrs. Durham hingedeutet hatte und blätterte einige Augenblicke schweigend darin.

»Ich finde hier Verschiedenes von Edgar Poe,« sagte er; »indessen nicht sein berühmtes und für ihn vielleicht charakteristischstes Gedicht: ›Der Rabe‹. Freilich das Gedicht ist unübersetzbar, wie im Grunde genommen jedes Gedicht. Ich scheue mich fast, nachdem ich Poe so sehr gepriesen habe, ihn jetzt den Damen in dem entstellenden Gewande einer Uebersetzung vorzuführen.«

»Bitte, bitte, lesen Sie nur,« riefen ein halbes Dutzend Stimmen.

Sven blickte zu Mrs. Durham hinüber; er sah dasselbe kalte, gleichgültige Gesicht. Auch nicht die leiseste Spur von Neugier oder Interesse war darauf zu entdecken.

»Hier ist eines seiner schönsten;« sagte Sven, ein wenig verstimmt über diese unerschütterliche Gleichgültigkeit, »es trägt die Ueberschrift »Annabel Lee.«

 

Es ist nun manches und manches Jahr
In einem Reich an der See;
Da lebte ein Mädchen, ihr kennet sie nicht,
Ich nenne sie Annabel Lee,
Sie liebte nur mich und ich liebte nur sie,
Mein schlankes braunäugiges Reh.

Ich war ein Kind und sie war ein Kind
In diesem Reich an der See;
Doch, wie sie mich liebte, und wie ich geliebt
Die reizende Annabel Lee,
Das sagen nicht Worte; es weinten vor Neid
Die Engel in himmlischer Höh,

Und das war der Grund, daß einst in der Nacht
In diesem Reich an der See
Ein Sturm aus den Wolken so eisig umarmt
Die liebliche Annabel Lee.
Und im Sturme ihr hoher Verwandter kam,
Und raubte mein hochherzig Reh,
Und schloß sie in ein Grabmal ein
In diesem Reich an der See.

Die Engel, nicht halb so glücklich, als wir,
Sie fühlten der Eifersucht Weh,
Ja, das war der Grund, wie Jedermann weiß,
In diesem Reich an der See,
Daß zur Nacht aus den Wolken der Sturmwind kam.
Umarmte und tödtete Annabel Lee,

Doch sie liebte ja mich, und ich liebte ja sie,
Mein Liebchen, so schlank, wie ein Reh,
Mein Liebchen, so weiß, wie der Schnee.
Und alle die Engel im.himmlischen Licht
Und alle Dämonen der See,
Sie trennen mich dennoch in Ewigkeit nicht
Von der reizenden Annabel Lee,

Denn der Mond nimmer scheint, und ich habe geträumt
Von der lieblichen Annabel Lee,
Und blinken die Sterne, so seh' ich von ferne
Die Augen von Annabel Lee.
Bis das Morgenlicht graut, umarm' ich sie traut,
Mein Liebchen, mein Alles, mein Reh, meine Braut,
An dem Grabmal hier bei der See,
An dem Grab bei der hallenden See,

 

»O, wie reizend! – wie allerliebst! – wie duftig! wie zart!« so flüsterten, seufzten und lispelten die Stimmchen am Theetisch durcheinander.

»Ich finde das Ganze etwas zu mysteriös,« bemerkte ein junger Docent der Philosophie.

»Was ist nur unter dem ›hohen Verwandten‹ zu verstehen?« fragte eine junge Dame mit blonden Locken.

»Der Engel des Todes vermuthlich,« sagte Sven trocken.

»O, mein Gott!« rief eine junge Dame, »wie schauerlich!«

Mrs. Durham sagte nichts. Sie hatte sich, während die Gesellschaft ihre geistreiche Kritik an dem armen Gedichte übte, von ihrem Platz auf dem Sopha erhoben und war einige Male im Zimmer auf- und abgegangen. Jetzt trat sie wieder heran, blieb aber etwas von den andern entfernt, gerade Sven gegenüber, stehen.

»Hier ist noch ein zweites, längeres,« sagte Sven; »ich möchte es wol, da es eine Art Commentar zu unserer Unterhaltung über die amerikanischen Frauen ist, lesen, wenn ich nicht fürchtete, die Gesellschaft zu ermüden.«

»Bitte, bitte, lesen Sie, – Sie lesen so schön!« rief ein halbes Dutzend Stimmen.

»Das Gedicht trägt keine Ueberschrift,« sagte Sven; »nur das Wörtchen ›An‹ und ein paar Striche.«

»Wie geheimnißvoll!« rief die junge Dame mit den blonden Locken.

»Darf ich beginnen?«

»Bitte, bitte!«

 

Ich sah Dich einmal, einmal nur – vor Jahren,
Mittnacht im Juli war's und von dem Mond,
Dem vollen, der, wie Deine Seele strebend,
Sich seinen steilen Pfad zum Himmel bahnte,
Ein seidenweicher Silberschleier fiel,
Mit heil'ger Ruh' und Dunkelheit und Schlummer;
Auf das erhobene Antlitz vieler hundert
Von weißen Rosen, die im Garten wuchsen,
Wo nur verstohlen sich ein Lüftchen regte, –
Auf das erhobene Antlitz weißer Rosen,
Die in Erwied'rung für das Liebeslicht
Die duft'gen Seelen wonnevoll verhauchten –
Auf das erhobne Antlitz weißer Rosen,
Die auf den Beeten lächelten und starben,
Entzückt von Dir und Deiner heil'gen Nähe,

Gehüllt in weiß, auf eine Veilchenbank
Sah ich Dich hingelehnt. Es schien der Mond
Auf das erhobene Antlitz weißer Rosen –
Und auch auf Deins – erhoben, ach! in Schmerzen!

War's nicht das Schicksal, das in dieser Nacht –
Das Schicksal, dessen andrer Nam' ist Schmerz –
Mich weilen hieß an jener Gartenpforte,
Den Duft zu athmen jener süßen Rosen?
Nichts regte sich – es schlief die schnöde Welt –
Nur Du und ich nicht. Und ich weilte – schaute –
Und alsobald verschwanden alle Dinge –
Ach, ganz gewiß – der Garten war verzaubert! –
Des Mondes matter Perlenglanz erlosch.
Die moos'gen Bänke, die verschlungenen Pfade,
Die seel'gen Blumen und die stillen Bäume –
Ich sah sie nicht, –Die Rosendüfte selbst
Sie starben in der Lüfte weichen Armen,
Und Alles schwand, nur Du nicht – und selbst Du –
Nur nicht das Himmelslicht in Deinen Augen,
Nur nicht die Seele Deiner schönen Augen,
Ich sah nur sie – sie waren meine Welt,
Ich sah nur sie – und nur für wen'ge Stunden,
Ich sah nur sie – bis sank der volle Mond.
Welch' dunkle Herzensräthsel schaut' ich nicht
In diesen demantklaren Himmelssphären!
Welch' tiefes Weh! welch' hohe Hoffnung doch!
Welch' schweigend königliches Meer von Stolz!
Welch' kühnen Ehrgeiz! ach! und welche tiefe,
Welch' abgrundtiefe Fähigkeit für Liebe!

Und nun zuletzt versank der volle Mond
Im Westen hinter schwarzen Wetterwolken –
Und, wie ein Geist, durch geisterhafte Bäume
Verschwandest Du! Nur Deine Augen blieben,
Sie schwanden nicht – sie können nimmer schwinden.
Sie hellten meinen Pfad in jener Nacht,
Sie ließen nimmer mich, wie doch mein Hoffen.
Sie folgen mir – sie leiten mich durchs Leben –
Sie – meine Diener; und ihr Sklave – ich;
Ihr Amt, mich zu erleuchten, zu entflammen –
Und meine Pflicht, entflammt, erleuchtet sein,
Geläuterter von ihrem hehrem Feuer,
Geheiligter von ihrer Himmelsglut.
Mit Schönheit füllen sie die Seele mir.
Ich kniee hin vor diesen hohen Sternen
Im düstern Schweigen schlummerloser Nacht,
Und selbst noch in des Tages Mittagsglanze,
Seh ich sie stets – zwei süße Morgensterne,
Die selbst die Sonne nicht verlöschen kann.

 

Sven hatte eine größere Innigkeit in seinen Vortrag gelegt, als ihm lieb war. Er schämte sich, daß er sich von seinen Empfindungen hatte hinreißen, daß er diese Gesellschaft, die er so ganz dessen unwürdig hielt, einen Blick in die Seele seines Lieblingsdichters und – in seine eigne Seele hatte thun lassen. Er wagte nicht aufzublicken, bis die unvermeidlichen: Allerliebst! Reizend! nein, wie reizend! vorüber waren, und blätterte so lange schweigend in dem Buche. Dann machte er es leise zu und erhob sich. Indem er aufstand, fiel sein Blick über den Theetisch fort auf Mrs. Durham, die noch immer, die Hand auf die Lehne eines Stuhles gestützt, etwas von der Gruppe entfernt, die Augen fest auf Sven gerichtet, unbeweglich dagestanden hatte. Sven hätte beinahe laut aufgeschrien. Das war dasselbe Gesicht, das ihm neulich in der Dämmerung des Morgens erschienen war – dasselbe trotzigdüstre, edelstolze Gesicht mit der Welt von Leidenschaft in den schmerzlich starren Augen. Und diese Augen waren auf ihn gerichtet, forschend, fragend – fragend – wonach? Aber nur für einen Augenblick; im nächsten schon war die kalte, theilnahmlose Maske, an welcher Sven heute den ganzen Abend geräthselt hatte, über das Gesicht gefallen.

Mrs. Durham nahm wieder an dem Theetisch Platz, an welchem jetzt eine lebhafte Debatte über Poesie im Allgemeinen, amerikanische Poesie im Besondern, und Edgar Poe ganz im Speciellen entbrannt war. Der junge Privatdocent behauptete: er vermisse an diesem Dichter die logische Präcision, während die junge Dame mit den blonden Locken der Meinung war, das letzte Gedicht sei allegorisch zu nehmen: der so reizend geschilderte Garten sei der Garten der Glückseligkeit, der dem Dichter verschlossen war, und unter der Dame, die ihm so große ungestillte Sehnsucht im Herzen erwecke, sei die Tugend zu verstehen.

Sven erfuhr nicht, ob die Gesellschaft dieser geistreichen Conjectur beistimme oder nicht, denn er war durch die offene Thür auf die Terrasse getreten.

Ein magisches Halbdunkel lag über der Landschaft. Die Nacht war nur ein milderer Tag. Am westlichen Horizont glühten noch immer einzelne Streifen der Abendröthe. Aus dem tiefblauen Himmel leuchteten nur wenige Sterne, aber hinter dem Gebirge dämmerte es hell herauf, so daß die Conturen der dunkeln Felsmassen sich, scharf von dem lichten Hintergrunde abhoben. Die Helligkeit kam von dem Monde, der, höher und höher steigend, plötzlich in voller Pracht über dem scharfen Rande emporschwebte und sein silbernes Licht die Seiten des Gebirges herab über die Wiesen und Felder warf und auf den stillen Wassern des breiten Stromes schimmern und flimmern ließ.

Sven hatte sich mit verschränkten Armen dicht an den Rand der Balustrade gestellt. Er war in tiefes Sinnen verloren. Er sah nichts von den zauberhaften Reizen der Landschaft, die mit jedem Augenblicke wechselten, er sah nur eine hohe schlanke Gestalt in einem weißen Gewande, und ein edelblasses Antlitz und zwei große schmerzlich fragende Augen.

»Einen Augenblick nur allwissend! o, nur einen Augenblick!« murmelte er.

»Ein verhängnißvoller Wunsch!« sagte eine tiefe, melodische Frauenstimme an seiner Seite.

Sven fuhr erschrocken aus seiner Träumerei empor. Neben ihm stand Mrs. Durham. In ihrem weißen Gewande, mit dem bleichen und in dem ungewissen Mondenschein noch bleicherem Gesicht, aus dem die großen dunkeln Augen strahlten, erschien sie Sven wie ein schönes Gespenst.

»Sie hier, gnädige Frau?« rief er bestürzt.

»Sie wünschen allein zu sein?«

»Bewahre! ich glaubte nur, Sie noch diesen Augenblick am Theetisch gesehen zu haben.«

»Den ich wahrscheinlich aus demselben Grunde, wie Sie verließ: Dem unerquicklichen Geschwätz dieser Menschen zu entgehen. Ich habe Sie während Ihrer Lectüre bewundert, Herr von Tissow.«

»Mich? weshalb?«

»Daß Sie überhaupt lasen – vor solchem Publikum solche Gedichte lasen. Ich wäre es nicht im Stande.«

»Warum nicht?«

»Weil ich Niemanden in mein Herz blicken lassen möchte.«

»Niemanden? Auch nicht den, welcher –«

»Wen?«

»Ich meine, der sich ein Recht zu diesem hohen Glück erworben hätte?«

»Wodurch?«

»Nun, durch seine Liebe etwa?«

»Was ist Liebe?«

»Das ist eine Frage, die so seltsam ist, wie mein Wunsch nach Allwissenheit.«

»Ja, weshalb wünschen Sie allwissend zu sein?«

»Ich glaube, um Ihre Frage beantworten zu können.«

»Sie scherzen.«

»Nein.«

»So wissen Sie auch nicht, was Liebe ist?«

»Ich ahne es nur.«

»Da geht es Ihnen gerade so wie – anderen Leuten.«

»Doch nicht, wie Ihnen?«

»Vielleicht doch.«

»Unmöglich.«

»Weshalb unmöglich?«

»Weil –«

»Sprechen Sie gerade heraus. Ich liebe für mein Leben eine offene Antwort auf eine offene Frage.«

»Weil Sie viel zu schön und viel zu geistreich sind, als daß Sie nicht in Ihrem Leben leidenschaftliche Liebe hätten einflößen sollen, und Liebe, sagt man ja, erweckt Gegenliebe und überdies –«

»Ueberdies?«

»Sie sind ja verheiratet.«

»Und damit ist freilich Alles gesagt!«

»Sollte wenigstens Alles gesagt sein.«

»Besonders nach Ihrer Theorie.«

»Meiner Theorie?«

»Sagten Sie nicht, die Frauen seien so hülfsbedürftige, demuthsvolle, unterwürfige Geschöpfe, daß die Leidenschaft, zu gehorchen, bei ihnen stärker sei, als jede andere Neigung? Bestimmen Sie nicht den Werth einer Frau nach dem Talent, welches sie für die edle Tugend des Gehorsams entwickelt? O! Sie denken sehr klein von den Frauen!«

»Im Gegentheil! ich denke groß, sehr groß von den Frauen. Ich finde in ihnen Fähigkeiten, die oft unentwickelt bleiben, Tugenden, die oft in ihr Gegentheil verkehrt werden, weil die Männer die einen nicht zu pflegen, die andern nicht zu würdigen verstehen.«

»So liegt die Schuld doch an den Männern?«

»Gewiß, denn der Mann, als der Stärkere, hätte die Pflicht, die Frau zu sich emporzuziehen; statt dessen zieht er sie nur zu sich herab, oder läßt sie die Bahn zur Vollendung, die sie auf seine Hand gestützt, leicht und sicher wandeln müßte, einsam, mühselig hinanklimmen. Was Wunder, daß ihr da auf halbem Wege der Athem ausgeht? daß sie, in der Blüthe ihrer Jahre, am gebrochenen Herzen stirbt!«

Sven hatte diese letzten Worte mit tiefer Bewegung gesprochen. Die Erinnerung an seine edle, unglückliche Mutter überkam ihn mit ganzer Macht. Und hier an seiner Seite, umflossen von dem Dämmerlicht des Mondes, stand eine Frau – jung, schön – schöner noch als seine Mutter, und – allem Anscheine nach – nicht minder unglücklich als seine Mutter. Sein Herz war voll zum Ueberfließen. Er hätte die Hand dieses schönen Wesens ergreifen und sprechen mögen: sage mir, was Dich quält! erzähle mir all' Dein Leid! für Dein Glück, für Dein Wohl will ich freudig meinen letzten Blutstropfen hingeben!

Aber von dem Allen kam nichts über seine Lippen. Er blickte starr in die Landschaft hinaus. Waren es Nebel, die aus dem Flusse aufwallten, waren es Thränen, die sein Auge trübten, – ein Schleier schien ihm über Alles rings umher zu sinken. Als er sich aus seiner Erstarrung aufraffte – war er allein. Einen Augenblick glaubte er, die Erscheinung von Mrs. Durham und die ganze sonderbare Unterredung geträumt zu haben. War es ihm doch immer noch, als ob er die tiefe melodische Stimme höre, schien ihm doch immer noch die ganze Atmosphäre von ihrer Gegenwart erfüllt. Und da, vor ihm auf dem Rand der Balustrade, auf den sie ihre Hand gestützt hatte, lag der kleine Rosenstrauß, den er vorhin zwischen den Weißen Falten ihres Kleides an ihrem Busen bemerkt hatte! Er nahm die Blumen, drückte sie mit Innigkeit an seine Lippen und verbarg sie an seiner Brust.

Er hätte sich gern mit seiner köstlichen Beute unbemerkt davongeschlichen. Es schien ihm unmöglich, jetzt zur Gesellschaft zurückzukehren, aber es mußte doch geschehen. So trat er denn wieder in den Salon. Die Gesellschaft war im Begriff, aufzubrechen. Mrs. Durham stand unter den Damen, ruhig plaudernd, höflich, kalt, wie sie den ganzen Abend hindurch gewesen war. Mr. Durham und Benno traten an ihn heran.

»Ich habe,« sagte Mr. Durham, »eben Herrn Weber (dies war Benno's Familienname) gebeten, sich morgen Nachmittag bei einer Partie, die wir nach dem Gebirge machen wollen, zu betheiligen. Darf ich an Herrn von Tissow dieselbe Bitte richten?«

Sven verbeugte sich.

»Um drei Uhr vielleicht, von unserer Wohnung aus?«

»Ich werde mich pünktlich einfinden.«

Sven ging auf Mrs. Durham zu, sich von ihr zu verabschieden. Sie schien nach einer ganz andern Seite zu blicken, doch trat sie, sobald er sich näherte, einen Schritt aus der sie umgebenden Gruppe heraus.

»Sie kommen doch?«

»Ja.«

Sodann eine förmliche Verbeugung.

Eine Minute später stand Sven mit Benno auf der Straße. Benno war äußerst gesprächig. Er hatte sich vortrefflich amüsirt. Mr. Durham hatte ausgezeichnete Sammlungen, Mr. Durham war ein »charmanter Kerl«; er hatte mit Mr. Durham eine geologisch-zoologisch-botanische Entdeckungsreise in die Berge verabredet; er hatte nie geglaubt, daß es unter diesen »Roastbeefs« so »charmante Kerle« gebe.

»Und Du sagtest kein Wort?« rief Benno, als sie vor Sven's Wohnung standen.

»Hast Du mich denn zu Worte kommen lassen?«

»Ja, das ist freilich wahr. Addio bis auf morgen! Du bist doch von der Partie? Das ist vernünftig. Du nimmst auffallend zu an Weisheit und Verstand. Addio! vergiß den Laubfrosch nicht! er frißt auch Spinnen. Du kannst ihm Deine reizende Wirthin geben.«



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