August Sperl
Burschen heraus!
August Sperl

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10. Aber er lebt –!

Aber er lebt und kann es nicht erdulden,
in seinen eigenen Augen des Lebens
unwürdig zu sein.
                                                  Kant.

Vergilbte Blätter, von Gerhards Hand im November 1813 beschrieben, geben Nachricht über sein Schicksal:

Als Graf Johann schwer verwundet in meine Arme sank, wußte ich, daß nun alles von meiner Ruhe und Besonnenheit abhing. Und ich war fortan merkwürdig ruhig und fest entschlossen, meine Pflicht bis zum letzten zu erfüllen. Aber dann –? Ja dann: Patet ianua - exi! Dort ist die Türe, sie steht dir offen. Das war mein Trost.

Wir legten den Grafen auf mein Bett, und der Arzt untersuchte die Wunde. Der Stich war in die rechte Brust gegangen. Dreikantig klaffte das Loch.

In meiner Wohnstube verpflichtete ich uns Burschen und Füchse auf Ehrenwort, im allgemeinen das strengste Stillschweigen zu beobachten. Aber wir waren einig, daß ich sofort den Geheimrat ins Vertrauen ziehen, und daß einer von uns auf dem besten Pferde des Posthalters zum Vater des Grafen reiten müsse. Das Paukzeug wurde versteckt.

Wir verließen das Haus bis auf den Arzt und Stöpsel; wir gingen einzeln und zu zweien unauffällig dahin und dorthin.

Patet ianua - exi!‹ so sprach es mit der Regelmäßigkeit des Atemholens in mir und gab mir Ruhe und Kraft.

Der Geheimrat war daheim.

Er kam, untersuchte die Wunde und traf seine Anordnungen. Auf meine stumme Frage zuckte er wortlos die Achseln. Der Paukarzt und Stöpsel sollten zur Pflege bleiben.

Draußen in der Wohnstube bat ich den Geheimrat, von einer Anzeige abzusehen, ehe der Vater des Grafen eingetroffen wäre.

546 Er überlegte lange. Auch er war der Meinung, daß man mit Rücksicht auf das gräfliche Haus zunächst jedes Aufsehen vermeiden müsse. Aber allein konnte er die Verantwortung nicht tragen. Er behielt sich vor, die Sache im Vertrauen mit Professor Töbing zu besprechen.

Schon in den letzten Stunden des Nachmittags trat der alte Graf in meine Stube. Ich wußte nicht, war er oder war mein Bruder, anstatt zu reiten, geflogen. Aber ich sann dem nicht weiter nach. Genug, er war da, und ich fühlte mit Wonne – meine Pflicht war getan. Patet ianua - exi!

Der Graf war tief erschüttert. Doch er bewahrte die Haltung des Grandseigneurs. Ich verschwieg ihm nichts; ich schonte mich nicht im geringsten, als ich den nichtigen Anlaß erzählte.

Kein Wort des Vorwurfes entfuhr ihm. Aber eingehend mußte ich ihm versichern, daß sich sein Sohn untadelig geschlagen hatte.

Die Güte dieses wahrhaft vornehmen Mannes zermalmte mich vollends. –

Den Rest des Nachmittages lief ich planlos im Walde umher. Gegen abend kam ich nach Hause zurück.

Auf den Zehen betrat ich meine Schlafstube. Am Bette des Verwundeten saß der Graf mit gesenktem Haupte und gefalteten Händen. Am Fenster lehnte Stöpsel.

Noch einen Blick wollte ich auf den werfen, den mir einst die Seinen ins Gewissen gebunden hatten.

Es war mir fürchterlich zu Mute, als ich in der Dämmerung das edle, totenblasse Antlitz, umflossen vom Gewirre der Locken, auf dem Kissen entdeckte.

Patet ianua - exi!

Und ich ging hinaus in meine Stube.

Auf dem Sofa lehnte noch das alte Bild mit dem Christuskopf. Ich mußte hinsehen, und ich fühlte, wie sich meine Haare sträubten unter dem Blick der weitgeöffneten Augen.

547 Zwei, drei Schubladen zog ich auf, so leis als möglich. Da fand ich, was mir nottat.

Ich wußte einen stillen Ort: Die Bude, die einst Körbelius mit seinem Bruder bewohnt hatte, stand leer. Dorthinauf trugen mich meine todmüden Füße.

Ich stellte das schwarze Kästchen mit dem eingelegten Frankenzirkel vor mich auf den Tisch und setzte mich auf einen Stuhl. –

Ich war nun durch. Und ich gedachte der ersten Tage auf hoher Schule. Ich schloß die Augen, und vor mir dehnte sich wie damals die Halde mit junggrün belaubtem Buschwerk, ein unergründlich tiefes Gewirre von schwankenden Zweigen. Und ich hörte die Stimmen von damals, ich sah die goldenen Lichter von damals zittern auf dem grünen Moose und sah mich eindringen mit klopfendem Herzen und vorgehaltenen Armen – als einen Unschuldigen eindringen in all die jauchzende Unergründlichkeit.

Jetzt war ich durch. Und mit geschlossenen Augen sah ich zurück über die Halde, zurück bis auf den ersten Tag.

Was war's doch gewesen? Ein schmaler Saum von Buschwerk. Aber jetzt wölbte sich nicht mehr der hohe, blaue Himmel darüber, jetzt malte keine Sonne mehr die lockenden, zitternden Lichter auf weiches Moos; und all die Tausend und Tausend, die gesungen und getrillert, geschlagen und geschluchzt hatten in seliger Wonne, die waren verstummt.

Ich fühlte in meinem Gebein die Qual des Verdammten. Ein Gewirr entblätterter Zweige, ein trauriges Gestrüppe, das sich hinter mir dehnte unter einem niedern, grauen Himmel in unbarmherziger Klarheit – das war meine Jugend. Jawohl, das war meine Jugend, und ich sah den Weg, den ich mir eigenwillig gebahnt hatte, sah meine Fußtapfen und die Fußtapfen der andern auf dem grauen Moose und in den stumpfblinkenden Lachen. Der Wind strich durch das 548 Gestrüppe, die blattlosen Zweige rieben sich aneinander – und eiskalt wehte mich's an. Das trübselige Buschwerk war übersät mit großen, spitzigen Dornen, und an den Dornen hingen blutige Fetzen von meinem Fleisch.

Ich war nun durch. Patet ianua - exi!

Ein Verslein schwirrte gegen mich an wie eine Fledermaus, flatternd im Zwielicht; ein Sprüchlein, das sich die Burschen gern zum ewigen Gedächtnis ins Stammbuch schrieben:

Lustig gelebt und lustig gestorben,
das heißt dem Teufel sein Konzepte verdorben.

Ich lachte auf, ich griff nach dem Kasten und nahm eine Pistole heraus.


Vater im Himmel, ich danke dir von Grund meiner Seele, daß du mich nicht also erbärmlich hast dahinfahren lassen. Vater im Himmel, meine Sünden brandeten über mich hin und raubten mir Atem und Besinnung; aber deine Barmherzigkeit war stärker als sie.

Die Türe öffnete sich, und das Licht einer Kerze fiel herein.

›So – da stecken Sie also, junger Herr?‹

Die schwarze Moral kam mit ein paar langen Schritten herzu, stellte den Leuchter auf den Tisch und wand mir die Pistole aus der Hand, als verstünde sich das alles von selbst.

Willenlos, als wäre ich ein Kind, ließ ich sie gewähren.

›Im ganzen Hause habe ich Sie gesucht, junger Herr, und jetzt sind Sie da heroben.‹

›Ich weiß nicht, was Ihnen das Recht gibt –?‹ brachte ich endlich heraus.

›Das Recht?‹ Sie legte die Pistole behutsam in den Kasten und nahm diesen unter ihren Arm. ›Das Recht zu 549 helfen hat jedermann. Solches Recht hab' ich mir noch immer ohne viel Fragen genommen. Ich hab' einmal zwei kleine Buben mit ihrer Mutter auf einen Turm gerettet. Ich hab' wieder einmal einen schwerwunden Vater von der Landstraße heimgeholt und hab' ihn zur Genesung gepflegt. Und heute nehm' ich mir zum drittenmal mein Recht. Wer will mir's wehren?‹

›Aber ich kann ja doch nimmer leben!‹

›Ich kann nimmer leben?‹ Sie stellte den Kasten wieder auf den Tisch, stemmte die Fäuste darauf und sagte nachdenklich: ›Ich kann nimmer leben! Gewiß, das verstehe ich auch; jawohl, ganz gut verstehe ich das. Aber glauben Sie mir, es geht doch, wenn man will.‹

›Meine Sünden treiben mich in den Tod.‹

›Welche Sünden?‹

›O, eine ganze Kette von Sünden. Und zuletzt hab' ich den Grafen ins Verderben gehetzt.‹

›Das warten Sie ab, junger Herr.‹

›Glauben Sie nicht auch, er muß sterben?‹

›Zum zweiten Male: warten Sie's ab. Er ist jung, und bei Gott ist kein Ding unmöglich. Aber hören Sie mich, junger Herr? An Ihrer Stelle wüßte ich wohl, was ich täte.‹

Sie deutete mit einer Handbewegung in die Ecke. ›Dorthin kniete ich und betete für ihn und für mich, bis mir die Kniee wund würden.‹

›Beten? O Jungfer, ich habe seit Jahren nimmer gebetet.‹

›Dorthin kniete ich und betete: ’Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern, und dein Wille geschehe.‘ Jetzt aber ist meine Weisheit zu Ende, und ich muß einen Stärkeren holen, als ich bin.‹

Sie nahm das Kästchen unter den Arm und reichte mir die Hand über den Tisch: ›Versprechen Sie mir in diese 550 meine Hand, die Ihren Vater einst von der Straße aufgehoben und Ihnen heute auch nicht zum ersten Male das Gröbste abgeputzt hat – geloben Sie mir, daß Sie sich in den nächsten vierundzwanzig Stunden kein Leid antun wollen.‹

›Ich weiß doch nicht,‹ gab ich zur Antwort.

›Aber ich weiß es für Sie,‹ sagte sie gebieterisch.

Und – ich gab ihr die Hand.

Sie ließ den Leuchter auf dem Tisch. ›Ich gehe jetzt und hole den Herrn Professor Töbing. Es wird Ihnen recht sein. Er ist drunten beim Grafen.‹

Sie wartete nicht, ob es mir recht war.


An selbigem Abend schon schlief ich in Töbings Hause neben seiner eigenen Stube.

Töbing, Töbing! Hatte mich die Jungfer mit starker Hand dem Tod entrissen, dann hast du, Töbing, mich schrittweise wieder ins Leben geführt.

Ich sagte ihm alles. Und ich fühlte die befreiende Wirkung des rückhaltlosen Bekenntnisses vom Munde zum Ohr eines Vertrauten.

Er schenkte mir nichts. Er strafte mich wie ein strenger Vater – er zerbrach mich ganz anders, als ich mich hatte zerbrechen wollen. Dann aber richtete er mich empor mit der Liebe des Vaters.

In einem neuen Lichte sah ich Vergangenheit und Zukunft, mein kleines Leben und das große Ganze, in das ich atmend gestellt bin – meinen verderblichen Eigenwillen und meine gottgewollte Bestimmung.

Der Graf lebte und ging der Genesung entgegen – der Genesung zum Krüppel. Seines Vaters Einfluß schlug jede Untersuchung der Angelegenheit nieder. Der Königsberger war entflohen.

Mit Tränen des Schmerzes, aber auch der Dankbarkeit 551 kam ich von Johanns Lager, an dem mich die Hand des alten Herrn für mein Vorhaben eingesegnet hatte.

Mit vierzig andern Burschen unserer Hochschule zog ich in den Krieg. Ich kämpfte bei Leipzig und wurde nicht unerheblich verwundet. Ich liege hier in dem sächsischen Schlosse und warte mit Ungeduld auf meine baldige Genesung.

Ich werde dem Vaterlande immer wieder darbieten, was ja doch von Anfang an nicht mir gehörte, sondern ihm. Ich werde kämpfen, bis ich falle oder bis es gar frei ist.

Ich weiß ja wohl: Sühnen kann ich dadurch nicht das Geringste. Aber mein Leben kann ich mir wieder verdienen von Tag zu Tag.

Was Gott als Sühnopfer noch fordert von mir, des bin ich gewärtig. Und kein Opfer wird genügen. Entsühnen kann mich nur sein Erbarmen.

Dies aber sind Töbings Worte, an denen ich mich zurückgetastet habe ins Dasein:

Es gleicht das Menschenleben dem Bächlein, und als ein Strom rollt das Leben eines Volkes dahin vom geheimnisvollen Aufgang zum gewissen, endlichen Niedergang. Und ist noch niemals ein Wasserlauf gewesen, den nicht dann und wann Unreines getrübt hätte – und kein Strom dieser Erde, der nicht Kloaken in sich aufnehmen müßte. Aber Bächen und Flüssen und Strömen ist eigen, daß sie sich reinigen können im Lichte der Sonne und im unablässigen Willen nach vorwärts. Von selber freilich mitnichten. Zum Wollen bedarf es des Lichtes – hörst du? – des Lichtes von oben. Fehlt eines, das Licht oder der Wille, dann enden beide, Menschenleben und Volksstrom, in Sumpf und Sand, wie ihnen gebührt.

 


 


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