August Sperl
Burschen heraus!
August Sperl

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6. Zertreten

Vor dem Rathause hielten in langer Reihe leere Bauernwagen, und am Brunnen qualmte noch einmal ein Feuer zum Himmel.

Neben der Treppe stand der kleine Kommissär mit seinen Soldaten, schimpfte und fluchte, und die Bürger schleppten Brotlaibe herbei und Stiefel und Weinfässer. Der Kommissär zählte die erpreßte Ware, fuchtelte mit seinem Degen, tat, als ob er dem und jenem die Brust durchbohren wollte, und kreischte, daß es zuweilen das Geschrei und Getöse der aufbrechenden Mannschaft übertönte. Ein elsässischer Soldat machte den Dolmetsch.

Der Doktor stand in seiner Stube am Fenster und blickte hinüber. Die Wache war von seinem Hause gezogen, die Türe verschlossen.

Der Kommissär stand vor derselben Bank, über der seit zwei Tagen der Aufruf des Generals Jourdan hing, vor derselben Bank, auf der vorgestern Schneider Koram seine Rede an die Bürger gehalten hatte. Aber das Schriftstück des Franzosen war auf einer Seite losgerissen und flatterte im Morgenwinde.

»Hundertundzwanzig Paar Stiefel – ihr deutschen Hunde? Wieviele Stiefel sollt ihr liefern?« Der Kommissär kritzelte etwas in sein Taschenbuch. Dann ließ er seine Augen rollen und fuhr auf den Schultheiß los.

Der antwortete Unverständliches und stand mit gesenktem Kopfe vor dem schreienden, fauchenden Männlein.

»Zwölfhundert Paar!« kreischte der Franzose, und der Dolmetsch brüllte es auf deutsch. »Eine Unmöglichkeit? Es gibt keine Unmöglichkeit. Aber wartet nur, man wird euch –« 115 Seine Augen spähten suchend umher. »Habt ihr nicht selber noch gute Schuhe an den Füßen? Allez!!« Er wandte sich an die Soldaten. Im Nu saß ein halbes Dutzend deutscher Bürger auf dem Pflaster, und die Franzosen rissen ihnen mit Hohngeschrei die Schuhe samt den Strümpfen von den Füßen.

Die Bürger rafften sich vom Pflaster auf und standen barfüßig vor ihrem Herrn und Gebieter. Die Schuhe kollerten in den Wagen.

»Fünfhundert Laib Brot?« kreischte der Kommissär. »Und wieviele sind euch auferlegt? Zweitausend – sehr wohl. Und wo sind die fünfzehnhundert? Was? Drei Bäcker haben die ganze Nacht gebacken? Ei, wißt ihr denn nicht, daß es um eure Köpfe geht? Aufladen, das Brot!« Die Brotlaibe kollerten auf die Schuhe, und der Franzose vollendete seine Rede: »Man wird euch die Häuser über den Köpfen anzünden, man wird eure Weiber und Kinder hinausjagen und euch Hängebäuche in die Flammen werfen, daß euer Fett gen Himmel stinkt.«

Brüllend übersetzte der Dolmetsch.

Der Schultheiß aber, der riesige Mann, sank auch vor diesem Peiniger aufs Pflaster und streckte ihm die gefalteten Hände entgegen. Und der Franzose erlustierte sich an ihm und fuhr ihm mit der Degenspitze vor der Nase hin und her. Und so lag der rote, struppige Schultheiß auf den Knieen vor dem kleinen, fremden Männchen, das er mit einem Faustschlage hätte zu Boden schmettern können. Der Franzose aber genoß die Wollust des Augenblicks und konnte sich's nicht versagen, dem Riesen die flache Klinge über die Schulter zu schlagen.

Da kam der Handelsmann mit großen Schritten heran, trat hart hinter den knieenden Schultheiß und zerrte ihn empor. »So kann's freilich nichts werden! – Geben Sie mir Vollmacht?«

116 Der Schultheiß wandte schwerfällig den Kopf, sah den Helfer mit verdrehten, blutgeröteten Augen an und nickte. »Nix conspirez!« kreischte der Franzose und packte den Handelsmann am Ärmel. Der aber riß sich los und donnerte auf französisch: »Wagen Sie es, mich anzurühren!«

Der Franzose wich zurück: »Ich muß Sie warnen, mein Herr.«

Der Handelsmann stand mit geballten Fäusten und spuckte aufs Pflaster. »Sie aber bleiben nun stehen, Herr Schultheiß,« befahl er auf deutsch. Und französisch fügte er drohend bei: »Auch der Feind weiß, daß unter den Besiegten das Ansehen der Obrigkeit gewahrt werden muß; denn sonst geht alles in Scherben.«

Wortlos stand der Schultheiß, der Kommissär aber sagte fast höflich: »Mein Herr, Sie wundern mich.«

»Wäre es nicht besser, wir träten zur Unterredung ins Stadthaus?« fragte nun der Handelsmann. Und als sich der Franzose einen Augenblick unschlüssig besann, setzte Ehrhardt verbindlich hinzu: »Man spricht freier unter vier Augen.«

Der Kommissär warf ihm einen geschwinden Blick zu. Dann nickte er, und die drei gingen die Freitreppe hinan.

Sie standen in dem düstern Stiegenhause. Der Handelsmann aber zog seine Brieftasche hervor und fragte: »Worüber sind Sie uneins?«

Der Franzose sagte: »Zweitausend Brote sind requiriert, fünfhundert geliefert.«

»Ist das richtig?« Ehrhardt wandte sich an den Schultheißen und übersetzte die Worte. »Gut, also richtig. Und es ist unmöglich, diese Anzahl zu liefern? Sie hören, Herr Kommissär, es ist eine Unmöglichkeit.«

Da begann das Männchen wieder die Augen zu rollen und wieder zu schreien: »Ich will's euch zeigen – – ihr – ihr –!«

117 Aber der Handelsmann donnerte ihn an: »Unmöglich – haben Sie gehört? Also betragen Sie sich wie ein Mann und nicht wie ein Schuljunge.«

Entsetzt starrte der Schultheiß auf seinen Helfer, der in der fremden Sprache also auf den Feind hinein zu wettern wagte.

Der Franzose aber sah verdutzt auf seinen Gegner. Dann schrie er: »Was meinen Sie, mein Herr? Ich werde mir wohl von Ihnen Lebensart lehren lassen?«

»Wenn Sie so schreien, dann ist es unmöglich zu verhandeln,« bemerkte Ehrhardt und sagte dem Schultheißen einige deutsche Worte. Der nickte. »Also, wir bieten Ihnen für die fehlenden Brote acht Gulden unter der Hand, wovon niemand außer uns etwas zu wissen braucht.«

Das grimmige Gesicht des Franzosen hellte sich auf, und während der Schultheiß erwartete, daß er nun den Deutschen mit seinem Degen durchstoße, sagte er leichthin etliche Worte, die Ehrhardt mit unbewegter Miene verdeutschte: »Zehn Gulden verlangt er.«

»Um Gottes willen, sagen Sie ja!« drängte der Schultheiß.

»Neun Gulden und keinen Heller mehr,« rief Ehrhardt auf deutsch und französisch und vermerkte die Zahl. »Haben Sie verstanden, mein Herr?«

Mürrisch nickte der Kommissär; verwundert schwieg der Schultheiß.

Und so fragte der Handelsmann nach allen weiteren Requisitionen und setzte den Preis fest, der auch gewöhnlich nach einigem Feilschen angenommen wurde. Dann sagte er: »Bleibt noch die Geldrequisition. Wieviel?«

»Vierzigtausend Taler,« brachte der Schultheiß stotternd hervor.

Der Handelsmann lachte laut auf, übersetzte und fragte den Franzosen: »Wann soll die Summe gezahlt werden?«

118 Wieder begannen die Augen des Fremden zu rollen, und wieder begann er mit dem Degen zu fuchteln: »Jetzt auf der Stelle!«

Mit verbindlichem Lächeln erkundigte sich der Handelsmann, ob der Herr Kommissär Theater zu spielen wünsche oder ob er weiter verhandeln wolle, und bot – dem Schultheiß blieb der Mund offen stehen und krampfhaft schlossen sich seine Hände – fünfzig Gulden Abfindung für die vierzigtausend Taler, sofort zu zahlen, unter sechs Augen. Der Kommissär begann zu fluchen; aber ganz gegen seine Gewohnheit mit gedämpfter Stimme. Und dabei rannte er hin und her im dämmerigen Hausflur. Der Handelsmann beachtete ihn weiter nicht, zählte die einzelnen Posten der Abfindung halblaut zusammen, riß das Blatt aus seinem Buche und hielt es dem Kommissär hin.

Der hatte sich nun vollkommen beruhigt. Aufmerksam las er das Rechenexempel. Dann gab er das Blatt fast höflich zurück: »Es stimmt.«

»Nun können wir's gleich ins reine bringen,« wandte sich Ehrhardt an den Schultheißen. »Sie werden das Geld nicht in der Kasse haben?«

Der Schultheiß antwortete mit tonloser Stimme: »Ich kann es wohl sogleich von einem Mitbürger beschaffen.«

»So gehen Sie. Zuvor aber sperren Sie uns Ihre Schreibstube auf. Ich will die Quittung aufsetzen.« Er wandte sich zum Kommissär: »Die Quittung über die Abfindungssumme können Sie gleich unterschreiben.«

Da fauchte der Franzose: »Was schreib? Ick nix schreib. Donnez-moi l'argent et baisez -!«

»Auch recht,« lachte der Handelsmann.


»Wenn ich das gewußt hätt', daß man so umgehen darf mit einem Franzosen, dann hätt' ich den Ehrhardt auch 119 nicht gebraucht. Aber wer denkt denn an so was?« Also pflegte der lange Schultheiß späterhin mürrisch zu erklären, wenn man beim Weine auf dieses Geschäft zu sprechen kam. Und ganz später, als viel Gras über dieser Geschichte und auch über anderen Geschichten gewachsen war, fügte er dann und wann noch bei: »Das hat ja ein Blinder sehen können – er hat geschmiert sein wollen, der Franzosenhund. Na, und das hab' ich ihm halt auch besorgt.« – Damals aber, an jenem Schreckenstage und noch längere Zeit hernach, war der Schultheiß dem Handelsmann von Herzen dankbar.


Die Hausglocke ging, und Klara kam unter die Stubentüre, meldete, sie habe den Nachbar Martin durchs Guckloch gesehen.

»Mach auf!« sagte der Arzt und trat ans Fenster.

Drüben vor dem Kommissär stand nun der lange Koram mit der roten Mütze auf dem wackeligen Kopfe und mit einem Packen Kleider über dem Arm. Aber Koram fürchtete sich nicht wie der Schultheiß vor dem kleinen Fremden. Er, der Bürger Koram, der gestern mit all den französischen Brüdern auf dem Marktplatze getanzt und getrunken hatte! Und wenn der Kommissär kreischte, dann brüllte Schneider Koram. Es ging um die Hosen, die man bestellt hatte und nicht zu zahlen wünschte – sechs Hosen, die der lange Koram krampfhaft umschlungen hielt.

Gleichgültig blickte der Arzt hinüber auf den zappelnden, hüpfenden Jakobiner.

Da pochte es an der Stubentüre, und ein älterer Mann trat herein. Er hatte nur Hemd und Hose am Leibe, blieb wortlos stehen und stierte her.

»Nachbar Martin – aber was ist Euch, wie seht Ihr denn aus?«

Da lallte der Mann, seine Zähne schlugen aufeinander, 120 nochmals versuchte er zu sprechen, und stoßweise kam's endlich heraus: »Herr Doktor – mein Weib – geschwind –!« Wieder schlugen seine Zähne aufeinander, und klappernd, als käme er aus kaltem Wasser, vollendete er: »Sechs Franzosen – sind's gewesen – heut' früh.«

Der Doktor riß eine Flasche vom Schrank und goß ein Gläschen voll: »Da trinkt den Kirschgeist, der wird Euch Kraft geben.«

Der Nachbar streckte die zitternde Hand abwehrend gegen das Schnapsglas: »Kommen S', Herr Doktor!« Und er zerrte ihn am Ärmel hinaus in den Hausflur, die Freitreppe hinab.

Die Pferde standen gesattelt, die Chasseurs waren zum Abmarsch bereit. Der Arzt und Nachbar Martin mußten nahe am Rathaus vorüber und drängten sich zwischen Rossen und Reitern und Wagen hindurch.

Koram stand noch immer vor dem Kommissär, und der Wortkampf war allgemach zum Handgemenge geworden. Koram hielt seine Hosen fest, und ein Soldat zerrte an den Hosenbeinen. Da kreischte der Kommissär. Zwei Soldaten stürzten sich auf den langen Schneider und warfen ihn zu Boden, ein dritter riß ihm die Hosen aus den Armen, und während ihn die andern noch immer festhielten, zog ihm ein Vierter unter Lachen und Schreien die eigene Hose vom Leibe. Dann gab man ihn frei.

Händeringend stand der Schneider auf seinen nackten, dürren Beinen, er trippelte von einem Fuß auf den andern, und sein Kreischen und Heulen übertönte den Lärm der aufbrechenden Soldateska. Lachend und schreiend begannen die Franzosen um das hohe Wesen zu tanzen und seinen schmalen Rücken mit flachen Klingen zu dreschen.

Der Arzt und der Nachbar gingen um die Ecke. Der Arzt wußte, daß der Nachbar zu den Stillen im Lande 121 gehörte. Das reizte ihn. »Es ist ein satanisches Unglück, das uns getroffen hat,« begann er, während sie mit eiligen Schritten vorwärts strebten.

»Gottes Heimsuchung,« antwortete der Nachbar mit dumpfer Stimme.

Der Arzt zuckte die Achseln. »Gottes Heimsuchung? Das ist schwerlich zu glauben.« Und er ging hinter dem andern ins kleine Haus.

*

Die Pferde stehen gesattelt, die Herren Chasseurs warten des Befehls. Gellende Rufe hallen über den Marktplatz, Pferde drehen sich am Zügel im Kreise, Hufe klappern auf dem Pflaster. Die zerschlissenen Reiter sitzen in den Sätteln. Trompeter blasen eine lustige Weise, die Pferde tänzeln, die Chasseurs reiten in langem Zuge hinunter zum Bachtor, hinaus über die hölzerne Brücke.

Festverschlossen sind die Türen und Fenster in der kleinen Stadt. Nur da und dort lugt ein Kopf hinter dem Vorhang heraus. Öde liegen die Gassen.

Drunten im Grunde auf Müllers schöner dreimähdiger Wiese sammeln sich die Fußsoldaten. Kommandorufe tönen empor ins Städtchen. Trommeln rasseln. Da und dort rennt noch ein kleiner, zerlumpter Kerl zwischen den Häusern hervor.

Auf der Ringmauer, im Wehrgange hinter den Gucklöchern, drängen sich Leute und spähen hinaus: armes Volk, das in winzigen, an die uralte Mauer hingepappten Hüttchen sein Wesen treibt.

Wolkenloser Himmel ist ausgespannt über dem Getümmel der Erde. Dunkelgrün ragen die friedlichen Linden hinter der Stadtmühle im Grunde, ragen die Kastanien draußen an der Heerstraße über des Ochsenwirts Bierkeller. Bepackte Wagen rasseln in langem Zuge von der Brücke zu Tal.

Schon trotten unter Trommelschlag die Fußsoldaten im 122 Staube dahin. Weit unten im Grunde reiten die Chasseurs. Noch eine kurze Weile, dann zerflattert ihre Musik.

Das Fußvolk wandert unter Trommelschlag, und die vielen Wagen und Karren rollen im Staub der Straße. Soldaten und Wagen werden kleiner und kleiner. Die Trommeln schweigen. Langsam senkt sich der Staub.

»Wo ziehen sie hin?« fragt einer von denen auf der Mauer.

»Gegen den Kaiser,« antwortet ein anderer.

Gegen den Kaiser. Das ist ihnen ein gleichgültiges Wort; denn der Kaiser wohnt weit von ihnen. Sie haben eine dumpfe Ahnung, daß zahllose Kolonnen dieser Art zur gleichen Zeit in der Morgensonne nach Osten marschieren, sie vermuten, daß es zur Schlacht kommen wird, aber sie wissen, es wird ferne von ihnen sein. Der eine oder der andere gedenkt wohl auch des Kaisers und sieht ihn noch sitzen in der großen Reisekutsche, wie er vor etlichen Jahren durch das Städtchen gerollt ist. Aber was ist ihnen der Kaiser? Mögen die da drunten, die da drüben weithin ziehen gegen den Kaiser. Was ist diesen gräflichen Untertanen der Kaiser?

*

Auf dem Marktplatz liegt das zerwühlte Stroh, zwischen dem Stroh glimmen die zusammengesunkenen Kochfeuer, und die Morgenluft trägt den Gestank des verlassenen Lagers in die Fenster, die sich allgemach öffnen. Gefährlich glimmen die Kohlen zwischen dem Stroh. Da kommt ein vorsichtiger Bürger mit der Butte zum Brunnen, füllt sie und trägt auf dem Rücken von Feuerstätte zu Feuerstätte das einzige, was rein geblieben ist in diesen Tagen – das Wasser. Wo eine Kohle glimmt, macht er halt, beugt sich seitwärts und gießt das Wasser in die Glut, daß sie leise zischt und erlischt. Immer wieder kehrt er zum Brunnen zurück und füllt die Butte und geht seinen Weg. –

123 Vor dem Rathause stehen nun etliche Bürger. Sie stehen im Kreise, haben die Hände in die Hosentaschen gesteckt und blicken zu Boden.

Der Schultheiß kommt die Freitreppe vom Rathaus herunter. Sein Gesicht ist grau, und mit heiserer Stimme sagt er den andern sein Gutenmorgen. Wer eine Kappe auf dem Kopfe hat, der hebt die Hand und rückt ein wenig daran. Wer barhäuptig ist, der nickt. Dann stehen sie wieder und schweigen. Und auch der Schultheiß findet kein Wort. Er sieht sich wohl noch knieen vor dem kleinen, schwarzen Kerl da vorn auf dem Pflaster.

Die rote Mütze aber hat keiner von den Bürgern mehr auf dem Schädel.

Der Doktor kommt von seinem Hause herüber. Er geht mit hocherhobenem Haupte und machte große Schritte. Sein langer, blonder Bart leuchtet im Morgensonnenscheine. Dort, wo vorgestern der Schneider Koram gestanden ist, steht nun der Doktor, und alle sehen auf ihn. Das Schriftstück Jourdans hängt lose herab, es hängt nur noch an einem von den vier Nägeln und flattert im Lufthauch.

Von allen Seiten kommen die Bürger, und im Umsehen ist aus dem Trüpplein ein großer, dunkler Haufe geworden.

Der Doktor weiß, was er will. Es ist über ihn gekommen wie ein Befehl aus der Höhe, und in seinen Ohren summt es: »Burschen heraus!« Sind freilich keine Burschen, diese da. Nun kommt aber auch der dicke Notar. Der ist ja ein Bursche gewesen. Und neben ihm der Kanzleiassessor. Burschen, Ordensmänner! Und da drüben am Eingange zur Bachgasse liegt auch der zerbrochene Wagen mit einem Teil der geraubten Waffen – es muß gelingen.

Wäre nur nicht jetzt gerade der kleine Direktor vor seine Behausung getreten. Er stelzt heran und hat das hochmütige Gesicht wie vordem in guten Zeiten. Denn die Gefahr ist 124 vorüber, und jetzt will er abrechnen mit denen da. Lottchen ist der gleichen Meinung wie er, und Lottchen steht droben hinter den Gardinen. Das weiß er ganz gut. Darum tritt er auch hocherhobenen Hauptes vor den Haufen und hindert den Doktor am Sprechen. Dürfte nur der Doktor sprechen. So aber muß er doch höflich sein und dem andern den Vortritt lassen.

Und mit seiner hohen, dünnen Stimme beginnt der Kanzleidirektor: »Da seht ihr nun, Leute, wohin die Unbotmäßigkeit gegen die Obrigkeit, die Rebellion gegen alles, was recht ist, das Jakobinertum, das gottverdammte, führen.«

Die Bürger haben die Köpfe gehoben und beginnen zu murren. Und einer im Haufen ruft: »Hat man denn auch gestern und heute nacht was gesehen oder gehört von unserer hohen Obrigkeit?«

Der Direktor ist rot geworden und will etwas sagen. Ein anderer aber fällt ihm in die Rede: »Oder ist's wahr, daß die hohe Obrigkeit gestern am hellichten Tag im Bett gelegen ist?«

»Mitbürger, Freunde!« ruft nun der Doktor. »Ist es jetzt an der Zeit, daß wir stehen und uns zanken?«

Etliche murmeln ihm Beifall.

»Jetzt, wo unsere Häuser noch stinken von den fremden Soldaten?«

»Stinken, da hat er recht,« ruft einer im Haufen.

Aber der Direktor gedenkt dem Arzte das Feld nicht zu räumen. Lottchen steht doch am Fenster, und die da sind vom Feinde geduckt. Also jetzt oder nie. Und mit kreischender Stimme beginnt er eine Rede über die Pflichten des gemeinen Mannes und über die Sünden der letzten Tage.

Die Bürger murren; etliche lachen. Aber die Angst liegt ihnen noch in den Gliedern, sie sind geneigt, sich unter jede Obrigkeit, auch unter die kläglichste, zu fügen. Nur wollen 125 sie ihn nicht reden hören, den feigen Mann. Und so geht einer nach dem andern fort, heim, nach dem Seinen zu sehen.

Zuletzt sind nur noch wenige beisammen; aber der Direktor läßt sich nicht stören: er fährt weiter in seiner Strafrede.

Dem Doktor ist zu Mute, als stehe er auf der heißen Asche eines zusammengesunkenen Wachtfeuers. Er sieht die Bürger auseinanderlaufen und ahnt doch, daß sie beisammen bleiben sollten. Er möchte sie allesamt an den zerbrochenen Wagen hinführen und möchte sie bitten, daß sie sich waffnen; denn es ist unsichere Zeit. Aber der Direktor spricht und spricht. Dann wendet er sich und geht befriedigt in seine Behausung.

Nur ein Häuflein steht noch vor dem Rathause.

Da – – Hufschlag galoppierender Rosse!

Vom Bachtor herauf klingt's. Was ist denn? Da klappert's auch schon auf den Markt herein und hallt wider von den Häusern. Chasseurs sind's.

Woher denn kommen diese Chasseurs? Sie sind doch fortgeritten, die Herren Chasseurs? Sind's Nachzügler?

Wie die Hühner vor dem Falken sind die Bürger auseinandergestoben, dahin und dorthin. Etliche erreichen ihre Haustüren, die andern werden zu Boden gerissen. Was vermag man gegen die Übermacht? Man kann sich nicht wehren, man kann nicht schreien – Burschen heraus! Man muß sich binden lassen und ist den Teufeln übergeben auf Gnade und Ungnade.


Des Doktors Knecht hat vom Fenster des ersten Stockes alles mit angesehen. Er rennt auf den Vorplatz hinunter zur Küche. Er reißt die Türe auf und schreit hinein: »Die Franzosen kommen!« Dann rennt er zur hinteren Haustüre hinaus.

Klara ruft ihm nach. Helfen soll er. Die Frau ist mit den Kindern im Garten. Aber der Knecht hört nicht; er rennt über den Hof in den Stall. Er will auf den Boden klettern, 126 sich verkriechen im Heu und sein kostbares Leben retten vor dem wütenden Feind.

Da dröhnen auch schon Kolbenstöße an die Haustür, und eine Stimme brüllt auf französisch: »Macht auf, ihr Hunde, die Sauvegarde kommt!«

Einen Augenblick steht die Magd, als wäre sie vor den Kopf geschlagen, und horcht dorthin, wo sie die Stimme gehört hat. Denn sie kennt diese Stimme.

Dann aber rast sie aus dem Hause, über den Hof, durch das Pförtchen hinein in den Garten. Sie schlägt die Holztüre zu, sie stößt den Riegel vor die morsche Türe.

Dort unter dem Bäumchen sitzt die Mutter mit den beiden Kindern. Sie blickt untätig vor sich hin, und die Kinder spielen im Sande.

Hinter ihnen ragt der hohe, graue Turm. Seine Zinnen sind da und dort abgebrochen wie schlechte Zähne, und Grasbüschel stehen zwischen den Fugen der steinernen Brüstung.

Schüsse knallen in den Gassen, und wildes Geschrei tönt in den Garten herein.

Die Doktorin ist aufgesprungen. »Die Franzosen!« keucht die Magd und rafft den Kleinen von der Erde. Die Doktorin steht wie erstarrt, sie bewegt tonlos die weißen Lippen. Dann greift sie an ihr Herz und sinkt zurück auf die Bank.

»In den Turm!« Die Magd umfaßt die Herrin, zerrt sie auf und mit sich fort, hinein zwischen die Johannisbeerstauden, dem Turme zu.

Der Knabe auf ihrem Arme beginnt zu schreien. Der größere heult; er hat sich eingekrallt in den Rock der Mutter und läßt sich hinter ihr herschleifen.

Sie sind am Turme. Die zerbrochene Holztüre hängt halb in den Angeln. »Hinauf!« befiehlt die Magd und zieht und hebt die wankende Frau die steilen Treppen empor.


127 Draußen, vor dem Rathause, stehen sie, der Doktor und ihrer fünf oder sechs. Die Hände sind ihnen auf den Rücken gebunden, und mit stieren Augen sehen sie zu, wie die Räuber in ihre Häuser dringen. Sie hören das Krachen der Türen, das Schreien der Weiber, das Kreischen der Kinder, das Bellen der Hunde. Die Stricke schneiden in ihr Fleisch, sie beißen die Zähne in ihre Lippen, ihre Zungen speien Blut. Regungslos müssen sie stehen; denn vor ihnen halten etliche Kerle, stinkend von Schweiß und Schmutz, halten vor ihnen mit gespannten Pistolen und rollenden Augen. Und wie im Spiele setzen sie bald diesem, bald jenem die Mündung auf die Brust: »Taisez-vous, chien allemand!«

Fünfzig zerlumpte Chasseurs sind's, nicht mehr als fünfzig. Aber ihnen ist das Städtchen übergeben auf Leben und Tod.


Spute dich, Erbgraf! Laß die Pferde laufen, was sie können! Noch eine Viertelstunde, dann kannst du das Städtchen erreichen mit deiner französischen Schutzwache.

Spute dich!

Ach, du weißt ja gar nicht, wie bitter not dein Schutz den Deinen wäre.

Im schlanken Trab geht's dahin auf der staubigen Straße. Man hat lange genug parliert mit dem Leutnant; jetzt ist das Gespräch verstummt.

Aber so spute dich doch!

Da lichtet sich der Wald und jetzt – jetzt –!

»Hören Sie das Schießen, Herr Leutnant?«

»Jawohl, mein Herr Graf.«

»Vorwärts – ich bitte Sie sehr!«


Wohl sind nun die beiden Frauen hoch droben in dem Gartenturm, in der runden Stube mit den Guckfenstern, aus 128 denen man so weit hinaus zu sehen vermag über die Dächer des Städtleins, hinauf zur Grafenburg, hinunter ins Land. Die Türe zur Stube ist verriegelt. Aber ein kräftiger Knabe vermöchte mit einem Stoße die morschen Bretter zu sprengen. Dort steht ein schwerer Mörser aus der Zeit, wo der Doktor hier oben zuweilen laborierte. An einem Fensterchen aber steht der Tubus, mit dem der Doktor jetzt noch in hellen Nächten droben auf der Plattform des Turmes –

»Auf die Plattform!« Der Magd ist's durch den Kopf gefahren. Sie blickt empor. Da steckt auch der Schlüssel in der Falltüre. Das Schloß ist gut, und die Türe ist aus schwerem Eichenholz, ganz neu gezimmert.

»Da hinauf, geschwind!« Die Doktorin ist auf einen Stuhl gesunken und sitzt bleich, mit weitgeöffneten Augen da, als ginge sie das alles nichts mehr an. Sie hat das schreiende Knäblein auf dem Schoß; der ältere Knabe schmiegt sich verängstet an ihre Seite.

»Da hinauf!« Die Magd ist schon die paar Stufen oben, sie dreht den Schlüssel im Schlosse und stemmt ihre Schultern an die schwere Türe, sie hebt die Türe und lehnt sie an die Brüstung. Dann springt sie neben die Frau, nimmt das Knäblein auf den einen Arm und umfaßt mit dem andern die Herrin: »Geschwind, geschwind!«

Willenlos läßt sich die Doktorin hinaufzerren. Der ältere Knabe hält sich fest am Rocke der Mutter. Nun sind sie droben. Nun setzt die Magd das weinende Kind auf die Steinplatten. Sie selber geht zurück auf die Stiege.

Da besinnt sich die erstarrte Frau. »Du auch – du auch!« ruft sie angstvoll, bückt sich und will ihre Retterin heraufziehen. Die Magd aber befreit sich mit einem Griffe, packt die Falltüre und duckt sich. Mit hartem Schlage ist die schwere Türe herabgepoltert. Wieder ein Griff, und kreischend schiebt sich der Riegel in die Falle.

129 Sie steht hochaufatmend inmitten der Stube und hat den Schlüssel in der Hand.

Angstvoll ruft oben die Frau: »Aber so bleib doch bei uns!«

Noch einmal springt die Getreue die Stufen empor: »Und wer soll dann absperren da herunten? Es ist ja nur von unten zu sperren!«

»Aber um Gotteswillen, Klara, denk doch an dich!«

»Ruhig sein! Legen Sie sich auf den Boden! Bringen Sie den Gerhard zur Ruhe!« Sie sagt es in befehlendem Tone. Und angstvoll kommt die Antwort zurück: »Ich – will's – ja tun.«

Mit dem Schlüssel in der geballten Hand steht sie am Fenster und späht hinüber zum Hause. Aus der Nähe und aus der Ferne tönt Schreien und Brüllen der Plündernden, Kreischen und Heulen der Überfallenen.

Sie faltet die Hände um ihren Schlüssel und bewegt ihre bleichen Lippen. Sie weiß, daß etwas Furchtbares kommen wird; denn sie hat seine Stimme erkannt. Wohl denkt sie einen Augenblick daran, mit ihrem Schlüssel durch den Garten zu entfliehen. Aber sie weiß ja, daß sie niemals über die hohe Mauer entkommen kann. Es gibt nur einen Ausweg aus dem Garten, und der geht durch den Hof, den Feinden entgegen. Sie mißt noch mit verzweifeltem Blick die Fenster. Aber, o Gott, die Fenster sind Gucklöcher; es ist gar nicht daran zu denken, daß sie sich hindurchzuzwängen und hinabzustürzen vermöchte. Gierig sucht ihre Hand in der Rocktasche; aber sie hat nicht das kleinste Federmesser bei sich. Soll sie vielleicht den Tisch und die vier Stühle die enge Treppe hinunterwerfen? Es wird nicht das Geringste nützen. Soll sie sich den Kopf einrennen an der Wand der Stube? Damit sie halbtot in seine Hände fiele!

Regungslos steht sie am Fenster mit ihrem Schlüssel in der krampfhaft geschlossenen Hand. Da fliegt es wie ein 130 Schatten heran, da läßt es sich nieder in der Fensterhöhle. Es ist eine von den Amseln, von den zahmen, die sie immer füttert im Garten. Regungslos steht die Magd, und die schwarze Amsel sieht sie an mit glänzenden Äuglein. Dann hebt sie die Flügel und schwebt über die Wipfel der Bäume davon.


Spute dich, lieber Erbgraf, gib dem Pferde die Sporen, spute dich, Erbgraf, es gilt!


Die Magd hört vom Haus herüber ein Krachen und Splittern. Die Gartentüre wird eingeschlagen. Da wirft sie den Schlüssel im weiten Bogen aus dem Fenster in den Krautacker des Nachbars.

Ihre Zähne schlagen aufeinander. Da – da – der Mörser – dort in der Ecke! Sie stürzt hinzu, sie will ihn heben. Das erstemal gelingt's nicht. Aber jetzt. Keuchend hebt sie den zentnerschweren Steinmörser und schleppt ihn zur Türe. Sie reißt die Türe auf und schleppt den Mörser hinaus an die Treppe.

Sie ist nun ganz ruhig. Vor ihr steht der Mörser.

Die Beerenstauden rauschen, und mit zwei Füßen zu gleicher Zeit springt einer in den Turm.

Die Magd hat sich gebückt, und ihre Hände umklammern die Griffe des Mörsers.

Die Stufen knarren unter polternden Tritten.

Sie steht regungslos, aber ihre Muskeln sind gespannt, und mit weitaufgerissenen Augen starrt sie hinab in die Tiefe.

Da stürmt er die krachenden Stufen empor, um die Ecke zur letzten Treppe. Er hat den Kopf im Nacken und späht nach oben. Er sieht das kauernde Weib. Er brüllt auf wie ein Stier und springt drei Stufen hinan.

Wie ein Weidenkörblein hebt sie den Mörser hoch und 131 läßt ihn senkrecht fallen. Krachend stürzt der Mörser mit dem Mann auf die Bretter.

Aber da poltern zwei andre um die Ecke und klettern wie die Pantherkatzen die Treppe hinan.


Sie rasseln die Bachgasse herauf, der Erbgraf und seine französischen Reiter, sie hauen die Wachen zusammen und durchschneiden die Stricke der Gefangenen.

Der Doktor rafft einen Säbel vom Pflaster und rast zu seiner Behausung. Der Erbgraf ihm nach.

Die Tür steht offen sperrangelweit. Im Hausflur ducken sich zwei plündernde Kerle, kriegen Hiebe über die Schädel und fliehen auf den Marktplatz hinaus. Der Doktor rennt die Stiege empor. Er schreit nach seinem Weibe, er brüllt den Namen der Magd, er stürmt von Stufe zu Stufe bis hinauf unters Dach. Der Erbgraf hinter ihm her.

Vom Bodenfenster fällt sein Blick auf den Gartenturm. Da sieht er seine Knaben.

Er weiß nicht, wie er in den Hof hinuntergekommen ist, er stürmt in den Garten. Er hört eine schwache Stimme aus der Höhe: »Papa, Papa!«

Sie dringen durch die Beerenstauden. Die Treppen krachen unter ihren Tritten.

Der Doktor stutzt. Ein Toter liegt im Wege. Daneben, halb versunken in eingedrückte Dielen, noch gehalten von zersplitterten Brettern, der Mörser.

Droben ist's totenstill.

Sie stehen in der Turmstube. Das Mädchen lehnt an der Mauer. Ihre Haare hängen wirr herab. Mit entsetzten Augen sieht sie den beiden entgegen.

»Klara – ist dir 'was geschehen?«

»Ja – Herr,« bringt sie heiser heraus.

»Die Frau –?«

132 Sie wendet den Kopf nach oben und lallt: »Gerettet.« Dann gleitet sie ohnmächtig an der Mauer zu Boden.


Es währte lange, bis sie das Schloß gesprengt hatten; dann kostete es harte Mühe, die Falltüre zu heben. Denn die Frau lag darauf.

Endlich gelang es, und die Knaben drängten sich lautlos dem Vater entgegen.

Liebkosend zog sie der Erbgraf hinab in die Stube. –

Lange lauschte der Arzt am Herzen seiner Frau. Endlich stand er auf.

Der Graf sah fragend empor.

»Das Herz steht still. Aber nun hilf mir die Magd hinunterbringen.«

Die Magd erwachte und richtete sich auf, versuchte ihre Haare zurecht zu streichen und sagte mühsam: »Zuerst die Frau. Ich geh' allein.« 133

 


 


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